Wie plündernde Soldaten
Die Geschichte um die erste Gastgeberin der Gruppe 47 und einen Roman aus dem Jahre 1983 wird durch eine aktuelle systemgerechte „Zurechtstutzung“ exemplarisch.
Aufsehen erregt hat jüngst das Buch „Einige Herren sagten etwas dazu. Die Autorinnen der Gruppe 47“ von Nicole Seifert. Befeuert von feministischem Eifer, getragen von Sendungsbewusstsein und gefeiert von Gleichgesinnten in den Medien von Deutschlandfunk bis Neue Zürcher Zeitung, die gerne Wertungen ungeprüft übernehmen, liegt mit diesem Titel das Musterbeispiel einer gut gemeinten Untersuchung über die Autorinnen in der Gruppe 47 vor. Aber gut gemeint ist bekanntlich das Gegenteil von Kunst. So entstand eine Publikation, die sich zwar perfekt an das Denunziations- und Entrüstungsklima eines moralistischen Zeitgeistes anschmiegt, dabei aber, wie an einem exemplarischen Beispiel zu zeigen ist, schlampig arbeitet und verfälscht und somit der Sache mehr schadet als nützt. Im Rahmen einer moralisierenden Etikettierungskultur entpuppt sich ein solcher Schaden indes nur allzu schnell als angepeilter Zweck.
Die Gruppe 47 war eine im Jahr 1947 am allgäuer Bannwaldsee im Haus von Ilse Schneider-Lengyel entstandene lose Vereinigung von Schriftstellerinnen und Schriftstellern, die sich unter dem redaktionellen Vorsitz von Hans Werner Richter gegenseitig ihre Manuskripte vorlasen und intern handwerklich diskutierten.
Im Laufe der Jahre begann diese Gruppe, für die Literatur der BRD und deren literarisches Leben immer bedeutender zu werden. Aus ihren Reihen gingen mit Heinrich Böll, Günter Grass und Peter Handke immerhin drei Nobelpreisträger hervor. Zu weiteren prominenten Mitgliedern zählten unter anderem Ilse Aichinger, Ingeborg Bachmann, Günter Eich, Gisela Elsner, Uwe Johnson, Elisabeth Plessen, Martin Walser, Gabriele Wohmann, aber auch einflussreiche Kritiker wie Walter Jens, Joachim Kaiser, Hans Mayer, Fritz J. Raddatz und Marcel Reich-Ranicki.
Zu jenen Teilnehmern, die zwar am Anfang dabei waren, nach und nach aber aus unterschiedlichen Gründen aus dem Fokus der Öffentlichkeit verschwanden, sei es, weil sie sich zurückzogen, sei es, weil sie nicht mehr eingeladen wurden, gehörte auch die erste Gastgeberin Ilse Schneider-Lengyel, die mit ihren Gedichten sowohl an den französischen Surrealismus als auch an kunsthistorische und ethnopoetische Themen anknüpfte. Auch deshalb kam ihr früh eine Außenseiterrolle zu, denn die Poetik der Gruppe 47 richtete sich stärker am Realismus amerikanischer Vorbilder aus.
Ich wohnte in der Nähe von Schneider-Lengyel, habe sie, die älter war als meine Mutter, als literaturinteressierter Oberschüler kennengelernt und oft besucht. Daraus entstand eine mehr als respektvolle Freundschaft, die für meine weitere Biographie, Wehrdienstverweigerung, Studium, von großer Bedeutung war. Als Ilse Schneider-Lengyel, die oft auf Reisen war, eines Tages gänzlich verschwand, begab ich mich auf eine lange Suche nach ihr. Ergebnis: Die Schriftstellerin war geistig verwirrt und körperlich verwahrlost in Konstanz aufgegriffen und in das Psychiatrische Landeskrankenhaus Reichenau verbracht worden, wo sie 1972 verstarb.
Zehn Jahre später erschien 1983 mein Roman „Innerfern“. Er ist weder eine Biographie von, noch ein Tatsachenbericht über Schneider-Lengyel, sondern ein Roman über eine Psychiatrie-Patientin namens Karlina Piloti, die zwar von der historischen Ilse Schneider-Lengyel und unserer Freundschaft inspiriert ist, diese jedoch nicht dokumentarisch im Maßstab eins zu eins abbildet, sondern mehrschichtig fiktionalisiert, durch zahlreiche literarisch-intertextuelle Verweise überhöht und in komplexe Zusammenhänge von Psychopathologie und Literatur stellt.
Die schon in den 1950er und 1960er Jahren nicht unumstrittene Gruppe 47 wurde nach ihrer Auflösung 1967 mehrfach politisch-ideologisch kritischen Revisionen unterzogen, die vom Vorwurf des Antisemitismus bis zu dem einer übermächtigen männlichen Dominanz reichen.
Jüngstes Beispiel ist das Buch von Nicole Seifert. Es biegt sowohl den komplexen, fiktionalisierten Bezug im Roman „Innerfern“ auf die Person Schneider-Lengyel, wie auch die Gruppe 47 selbst im Sinne der heutigen moralisierenden Etikettierungskultur zurecht. Was nicht passt oder verstanden wird, wird gecancelt.
Das Etikett von der Hexe
Bei genauerer Lektüre von Seiferts Buch drängt sich unwillkürlich die Frage auf, ob hier nicht § 187 StGB zu Verleumdung greift. Diese liegt nämlich dann vor, „wenn jemand wider besseres Wissen in Beziehung auf einen anderen eine unwahre Tatsache behauptet oder verbreitet, welche denselben verächtlich zu machen oder in der öffentlichen Meinung herabzuwürdigen ... geeignet ist.“
Seifert unternimmt mit falschen und aus dem Zusammenhang gelösten Zitaten den Versuch, dieser Definition gerecht zu werden. Sie behauptet unter anderem, der Verfasser von „Innerfern“ würde in seinem Roman Ilse Schneider-Lengyel als „Hex vom Bannwaldsee“ bezeichnen. Derlei macht sich gut als Schlagzeile. Aber allein schon das Zitat ist falsch. Korrekt wäre die Bezeichnung „Seehex“, die allerdings ausdrücklich nicht vom Verfasser des Romans stammt, sondern von der Landbevölkerung am Bannwaldsee, die in den 1950er und 1960er Jahren mit dem unkonventionellen Lebensstil der Motorrad fahrenden und exotische Kleider tragenden Schriftstellerin nicht zurechtkam. Bestätigt wird dies sogar im Wikipedia-Beitrag zu Schneider-Lengyel. Wörtlich heißt es im Roman:
„Die einheimischen Bauern, welche sie schon als Kind kannten, hätten von ihr immer nur als der Seehex‘ gesprochen. So bitter das sei.“
Außerdem: Wie passt die „Hex“ zu der Bezeichnung „Asphodele“, mit welcher der Autor von „Innerfern“ Ilse Schneider-Lengyel und ihre Position in der Literatur nach 1945 zuletzt in einem Aufsatz 1998 charakterisiert hat? Kennt Seifert diesen Aufsatz überhaupt, oder hat sie ihn vorsätzlich aus ideologisch-strategischen Gründen unter den Tisch fallen lassen?
Der Begriff „Asphodele“ referiert auf einen Ort des Diesseits aus der griechischen Mythologie beziehungsweise auf dort wachsende magische Blumen. Er chiffriert die Komplexität der Persönlichkeit Schneider-Lengyels mit ihren ethnologisch vielfältigen Interessen, wie sie programmatisch in ihrem Werk „Die Welt der Maske“ schon 1934 zutage treten. Einfacher als Komplexes zu verarbeiten ist es allerdings, den Romanautor zu schmähen, indem Seifert ihm unterstellt, er habe sich in seinem Roman das traurige Lebensende von Schneider-Lengyel in einer psychiatrischen Klinik „auf indiskrete und herabsetzende Weise“ zum „Beweis der eigenen Besonderheit“ als „Stoff“ zu eigen gemacht und ergehe sich geradezu „in Beschreibungen ihres schlechten körperlichen und geistigen Zustandes“. Ein verifizierbares Motiv für diese unterstellte Bösartigkeit liefert Seifert nicht. Sie behauptet einfach. Das genügt ihr.
Verdrehung der Tatsachen
Richtig ist, dass der Romanautor der vermutlich letzte lebende Zeuge ist, der Ilse Schneider-Lengyel gekannt, und zugleich einer der wenigen, der sich zu Lebzeiten um sie bemüht, nach ihr gesucht und ihre literarische Bedeutung am Leben gehalten hat. Ich habe sie auch nicht als „junger Autor“ kennengelernt, wie Seifert behauptet, sondern als Halbwüchsiger auf der Suche nach Verbündeten in der Kulturwüste Allgäu. Mein späterer Arbeitsschwerpunkt „Literatur und Psychiatrie“ wurde wesentlich davon geprägt. Über Jahrzehnte hat sich niemand sonst um Schneider-Lengyel gekümmert. Erst nach der Jahrtausendwende wurde sie durch Ausstellungen von 2017 bis 2019 und eine Biographie in 2019 wieder von der Öffentlichkeit wahrgenommen.
Bis dahin war der Roman „Innerfern“, von kleineren verstreuten germanistischen Aufsätzen abgesehen, der einzige indirekte Hinweis auf Ilse Schneider-Lengyel. Damit begann das krasse Missverständnis vom Roman als historischer Quelle, das Seifert jetzt potenziert.
Die Recherchen für den Roman „Innerfern“ umfassen polizeiliche Angaben, Arztgespräche und Aussagen von Zeitzeugen, von Einheimischen bis hin zu Hans Werner Richter und verschiedenen Autoren der Gruppe 47. Einbezogen wurden unveröffentlichte persönliche Briefe von Schneider-Lengyel, die sich in meinem Besitz befinden. Die Dokumente wurden jedoch für den Roman fiktionalisiert und abweichend von der Realität literarisch gestaltet.
Zeitgeist aus Schablonen
Seiferts Unterstellungen und Verfälschungen, die einer seriösen Würdigung von Schneider-Lengyels literarischem, kunsthistorischem und photographischem Werk höchst abträglich sind, beruhen auf schwerwiegenden methodischen Fehlern, die dieses Buch, allem feministischen Lärm zum Trotz, wissenschaftlich unseriös und unbrauchbar machen.
Erstens ist der Roman „Innerfern“, den Seifert als Beleg für eine patriarchale Ausbeutung und Schmähung anführt, ein Roman und kein Tatsachenbericht, als den Seifert ihn darstellt. Im Zentrum des Romans steht aus literarisch-fiktionaler wie klinischer Sicht die letzte Lebensphase der von Ilse Schneider-Lengyel inspirierten Figur Karlina Piloti. Zweitens ist der Erzähler eines Romans nicht identisch mit dem Autor, wie man bereits in der gymnasialen Oberstufe lernt. Drittens ist Karlina Piloti, die Hauptfigur des Romans, zwar von der realen Ilse Schneider-Lengyel inspiriert und nach ihrer Vorlage gestaltet, keinesfalls aber mit ihr identisch. Eine Vorlage ist schließlich kein hundertprozentiges Abbild. Daher sind zahlreiche Zuschreibungen, Eigenschaften, Gespräche, Aussagen und Handlungen im Roman reine Fiktion und keine Fakten.
Karlina Piloti ist eine Fiktionalisierung, nicht das historisch-realistisch getreue Abbild von Schneider-Lengyel. Piloti ist so wenig oder so viel Schneider-Lengyel, wie Fontanes Vorlage Elisabeth von Plotho, verheiratete von Ardenne, Effi Briest ist. Auch dies hätte Seifert leicht bei Wikipedia nachlesen können. Viertens verschweigt Seifert die indirekt im Roman geäußerte Kritik an männlicher Dominanz.
Hier hätte sie tatsächlich passende Aussagen für ihre These finden können. Aber auch darauf hat sie verzichtet, denn was nicht sein kann, das darf auch nicht sein. Fünftens verschweigt Seifert den würde- und liebevollen Umgang des fiktiven ärztlichen und pflegerischen Personals mit der Hauptfigur des Romans in der Klinik: ganz im Gegensatz zu der unterstellten „indiskreten und herabsetzenden Weise“ der Darstellung.
Sechstens entgeht Seifert, welche Spuren Schneider-Lengyel in der Literatur über „Innerfern“ hinaus hinterlassen hat, wenn man etwa an die in ihre Pferdedecke gewickelte Wirtin Libuschka in „Das Treffen in Telgte“ aus 1979 von Günter Grass denkt, die den — analog zur Gruppe 47 — fiktiv anno 1647 in Telgte versammelten Dichtern in ihrem „Brückenhof“ Unterschlupf gewährt, wie weiland Ilse Schneider-Lengyel den ersten Teilnehmern der Gruppe 1947 in ihrem Fischerhäuschen am Bannwaldsee. Entsprechend Seiferts Methode des Lesens und Deutens müsste man folgerichtig absurderweise Grass vorwerfen, er habe die Gruppe-47-Gastgeberin als Wirtin Libuschka zu einer „Ertzbetrügerin“ gemacht.
Seifert zeichnet ein feministisch-inquisitorisch geprägtes Zerrbild, statt sachlich-historisch und wissenschaftlich seriös zu argumentieren.
Auffällig dabei ist, wie wenig sie an der Literatur der Frauen der Gruppe 47 selbst interessiert ist. Mara Delius hat dies in ihrer Rezension in Die Welt ausdrücklich bemängelt. Seifert ist das weibliche Geschlecht in der simplifizierten Opposition zu den Männern Begründung genug für ihre kruden Behauptungen.
So schwingen sich robustes ideologisches Selbstbewusstsein, mangelnde Grundkenntnisse von Fiktion und Fiktionalisierung sowie manipulative Zitatauswahl zu höchstrichterlicher moralischer Instanz auf. Wie ein eifrig „Stellen“ suchender Zensor streift Seifert jagend und sammelnd durch die Geschichte der Gruppe 47 und stößt hier und dort dankbar auf eine Scherbe, die sie dann stolz ohne Rücksicht auf Kontext und Situation als „Beweis“ präsentiert. Genauer auf die Literarizität und Zusammenhänge einzugehen, will oder kann sie nicht. Es geht ihr ja um Moral und Ideologie, nicht um Literatur und Literaturgeschichte.
Zeitzeugen gegen systemische Aneignung
Wie elementar falsch und verzerrt Seifert die Situation der Frauen in der Gruppe 47 über das Einzelbeispiel hinaus aufs Ganze gesehen darstellt, bestätigt zuletzt eindrucksvoll das Interview unter der Überschrift „Wir waren keine Opfer“ mit der Zeitzeugin Ingrid Bachér, Mitglied der Gruppe 47 und ehemalige Präsidentin des deutschen PEN, in der Rheinischen Post vom 19. März 2024.
Das Fazit zu Seiferts misslungenem Buch lässt sich mit Nietzsche ziehen, der in „Menschliches, Allzumenschliches“ schreibt:
„Die schlechtesten Leser sind die, welche wie plündernde Soldaten verfahren; sie nehmen sich einiges, was sie brauchen können, heraus, beschmutzen und verwirren das Übrige und lästern auf das Ganze.“