Wie oben, so unten

Wir haben nicht nur verlernt zu fühlen und zu genießen, sondern auch die Dinge in ihrer Tiefe zu durchdringen und verstehen zu wollen.

Schmerz, Verlust, Krankheit, Tod, aber auch Heilung, Erfolg sowie Begegnungen und Ahnungen: Nichts auf dieser Welt passiert ohne Grund. Auch dann nicht, wenn sich dieser Grund unserer eigentlichen Wahrnehmung entzieht. Alles hat seine Ursache. Und seine Wirkung. Und folglich auch seinen Sinn. Nur weil wir etwas weder greifen noch verstehen können, heißt dies nicht, dass es dem „Zufall“ unterliegt oder gar wahllos passiert. Diese Welt beruht auf einer inneren Ordnung, folgt bestimmten Prinzipien. So also auch wir, mitsamt unserem Denken, Handeln, Fühlen.

Während Prinzipien sich gemeinhin unterteilen in axiomatische Prinzipien, also Postulate, die wie ein Naturgesetz bestimmten Verhaltensregeln übergeordnet werden, und systematische Prinzipien, deren Formulierung gleichbedeutend ist mit der logischen Struktur ihres Systems, war es die Hermetik, die sich innerhalb ihres eigenen Prinzips letzterer gewidmet hat. Ist es doch die Universalisierbarkeit spezifischer Faktoren in ihrer Wirkung auf das Ganze, die sie immer schon zu benennen und in ihrer Letztgültigkeit auf ihren letzten Grund, den Urgrund (Archē) und Ursprung alles Existierenden zurückzuführen versuchte.

Lässt sich die Hermetik selbst in ihrer Grundbewegung auf die Weisheitssuche einer gebildeten Elite und/oder das Interesse breiterer Schichten an handfesten magischen Machtmitteln zurückführen, wundert es nicht, dass wir ihren Begriff heutzutage abgeleitet in Zusammenhängen wie „hermetisch abgeriegelt“ oder „hermetisch verschlossen“ benutzen. Als hermetisch gilt dann etwas, wenn sein Inhalt nicht nach außen dringen soll — oder kann.

Denn obgleich es Geheimwissen hütende Geheimbünde auch heute noch geben mag: Die Zeiten, in denen sich bestimmte Informationen vor dem „gemeinen Volk“ verstecken ließen, sind allmählich vorbei. Die Zeit der Mündigkeit, Selbstermächtigung und Wissensemanzipation ist eingetreten. Möge man meinen. Allem Anschein nach lassen sich diese Prinzipien nämlich insofern nicht auf jeden Wissensbereich übertragen, als dass manch „Geheimes“ sich nicht durch reines Studium in das „für jedermann Erfahrbare“ wandeln lässt. Zumindest nicht auf die Art und Weise, wie wir heutzutage „Wissenserwerb“ mit Bildung verwechseln.

Wir sind es gewohnt, alles in uns hineinzufressen: Bücher, Wissen, Nahrung im Allgemeinen, aber auch Emotionen wie Schuld, Scham oder Trauer. Wir schlingen, kauen nicht, und kaum haben wir den letzten Bissen runtergeschluckt, stehen wir auf oder denken bereits an den Kaffee, die Zigarette oder das Dessert danach. Podcasts und Interviews hören wir auf doppelter Geschwindigkeit oder einverleiben uns, insofern wir selbst des Speed Readings noch nicht mächtig sein sollten, eine in unserem Blinkist-Abo enthaltene Zusammenfassung jenes Klassikers, mit dem wir auf der nächsten Party oder dem nächsten Date jene Gesprächsleere zu füllen versuchen, die wir allein aus oder durch uns selbst heraus nicht zu schließen vermögen.

Kurzum: Bevor wir verlernt haben zu fühlen, haben wir verlernt zu genießen — uns wahrhaft auf die Dinge einzulassen, sie in ihrer Tiefe zu durchdringen und verstehen zu wollen. Und das schlicht und einfach aus dem Grund, weil dieses Unterfangen Zeit braucht, und Ruhe. Und die haben wir nicht. Oder nehmen sie uns nicht.

Ich selbst habe „Bildung“ eine Zeit lang so gehandhabt: Hauptsache mir schnell, schnell alles anlesen, merken und bestmöglich verknüpfen, um es anschließend in den mir nützlichen Kontexten wieder verwerten zu können. Letztes Jahr habe ich allein über 150 Bücher gelesen. Ob ich heute eine Inhaltsangabe zu nur einem Viertel dieser schreiben könnte, ist fraglich. Als fragwürdig empfinde ich diesen Konsumismus mittlerweile generell. Nicht nur, was Bücher anbelangt. Denn was „bringt“ uns fremdes Wissen, wenn wir es nicht zu unserem werden lassen?

Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie meine liebe Freundin Gwendolin bereits im März 2021 zu mir meinte, dass ich doch gerne die Fische in meinem Bauch aus ihren Netzen befreien dürfte. Mit den Fischen meinte sie im übertragenen Sinne das Wissen oder die Gedanken, die ich mir über die Jahre so verbissen angelesen hatte und die doch längst zu meinen geworden seien, und aufgrund dessen ihre Netze — also die sie stützenden Bücher und Zitathilfen — doch längst nicht mehr bräuchte. Ich müsse nur vertrauen, so Gwendolin. Und zwar mir. Und meiner eigenen Stimme.

Was dieser „Zugang zum eigenen Wissen“ bedeuten kann, mag ich auch jetzt noch nur erahnen. Scheint der Raum, den er birgt, mir nicht grundlos mit inneren Hürden versehen. Zu wertvoll ist der Zugang zu jener inneren Schatzkammer, als dass er sich blind durchqueren ließe. Sie aufzuschließen, ist ein Bewusstseinsakt. Ein sich Bewusstwerden unserer ureigensten inneren Stimme. Sich ihrer zu bemächtigen, sich ihrer überhaupt erst einmal zu erinnern, bedeutet für mich, unseren eigenen Klang zu entdecken. Ein in meinen Augen heiliger Akt. Wenn nicht in dem Sinne sogar ein religiöser, als dass er für mich einer Art Rückbindung (religio) gleichkommt. Einem Einschwingen in jene kosmische Grundharmonie, aus deren Takt wir einst allein dadurch gefallen sind, dass wir aufgehört haben, uns an sie zu erinnern oder — etwas kitschiger formuliert — nach ihr zu tanzen.

Dabei ertönt dieser Urklang nach wie vor in allem, was wir Leben nennen; versetzt in ihm jenen Grundton in Schwingung, der ihn, sie oder es zu seiner wiederum höchsteigenen Melodie hinaufschwingen lässt — gemäß dem Falle, er oder sie ist nicht zu beschäftigt, anderen Klängen zu lauschen oder fremden Göttern zu dienen. Der Akt, der Melodie des Lebens zu folgen, ist eine bewusste Entscheidung. Sein Urklang endet für mich letztlich auch nicht mit der Übertragung von Schwingung; ist jede Schwingung schlussendlich doch auch Information. Und diese Information ist ebenso unerschöpflich wie ihr Klang selbst. Eben weil sie keine Form kennt. Sie ist unendlich, sich selbst inhärent. Sie braucht keine Beweise. Sie beweist sich selbst. Über Paradigmen und Zeitalter hinweg ist sie das, was diese Welt unter „Wirklichkeit“ versteht. Und steht damit im Kern vielleicht auch für das, was auch für mich, gleich wie für die Hermetiker, immer schon die größte Anziehungskraft besessen hat: eine Wahrheit, die die Zeit überdauert.

Denn sei es der Nationalsozialismus, der nationslose Sozialismus oder der omnipräsente Empathieverlust durch einen Fledermausausbruch: Was bringt uns das Unheil von gestern oder heute, wenn wir aus ihm keine Lehren für morgen ziehen? Ich für meinen Teil wollte nie Texte schreiben, die nächste Woche bereits ihre Gültigkeit verlieren könnten. Lese ich doch selbst meist nur Bücher, die vor über fünfzig Jahren geschrieben wurden. Ich möchte die Essenz. In Büchern wie in meinen eigenen Texten. Schreiben gleicht für mich einem endlosen Sieben: Alles Wässrige, nicht Wesenhafte ist zur Streichung verdammt. Keine großen Ausschweifungen und Füllwörter bitte. Was ich suche, ist die reine Information in ihrem reinsten Klang.

Das nämlich ist meines Empfindens nach ein Weg, der uns auf der Suche nach jenem Wissen heutzutage verloren zu gehen droht: der melodische. Der Weg über Klang und Stimme, Persönlichkeit und Gefühl. Der Weg über das eigene In-Schwingung-versetzt-werden-Können als Erinnerung an unsere jeweils ur-eigene Klangqualität. Denn ohne dieses tiefe Verständnis für das eigene Innenleben, so auch die Hermetik, erfolge auch keine innere Wahrnehmung. Und ohne diese Innenschau wiederum könnten keine neuen Erkenntnisse und erst recht keine Auffassungsgabe einer ganzen Lehre entstehen. Die wirkliche Schulung, so die Hermetiker, die fände im Geiste statt.

Und dieser Geist? Dieser Geist ist weder Körper noch Seele, hat nichts mit unserem Ich oder Selbst zu tun. Dieser Geist ist vielmehr „Alles“ und „Nichts“: Er ist Bewusstsein, Wahrnehmung, Gefühl. Er meint eine Innerlichkeit, die über unser Inneres hinausgeht. Dieser Geist ist nicht unser Geist. Und doch tragen wir ihn in uns — und umgekehrt: Indem er weder an unsere leiblichen Körper noch an die Materie selbst gebunden ist, gewinnt sein Wesen eine Reinheit von transpersonaler und transzendentaler Absolutheit. Er umfasst alles, ihn selbst erfasst nichts.

Während Prinzipien, um dies an dieser Stelle noch einmal zu verdeutlichen, anders als Gesetze weder veränderbar noch vorübergehend, sondern vielmehr immanent und „an sich“ existieren, entstammt der wohl bekannteste Versuch, die in dieser Welt herrschenden Prinzipien schriftlich darzulegen, dem Kybalion. 1908 von einer anonym gebliebenen Autorenschaft in Chicago erstmals ins Englische übersetzt, beruht das Kybalion auf der hermetischen Philosophie des alten Ägyptens und Griechenlands und bezieht sich vorwiegend auf die hermetischen Schriften der mythischen Gestalt des Hermes Trismegistos. Seine sieben „hermetischen Prinzipien“, deren Inhalte wir im Laufe dieses Textes bereits gestreift haben, lauten entsprechend wie folgt:

  1. Das Prinzip der Geistigkeit: „Das All ist Geist; das Universum ist geistig.“
  2. Das Prinzip der Analogie (Entsprechung/Resonanz): „Wie oben, so unten; wie innen, so außen; wie der Geist, so der Körper“.
  3. Das Prinzip der Schwingung: „Nichts ruht; alles ist in Bewegung; alles schwingt.“
  4. Das Prinzip der Polarität: „Alles ist zweifach, alles ist polar; alles hat seine Gegensätze; Gleich und Ungleich ist dasselbe. Gegensätze sind ihrer Natur nach identisch, nur in ihrer Ausprägung verschieden; Extreme begegnen einander; alle Wahrheiten sind nur Halb-Wahrheiten; alle Paradoxa können in Übereinstimmung gebracht werden.“
  5. Das Prinzip des Rhythmus: „Alles fließt — aus und ein; alles hat seine Gezeiten; alles hebt sich und fällt, der Schwung des Pendels äußert sich in allem; der Ausschlag des Pendels nach rechts ist das Maß für den Ausschlag nach links; Rhythmus gleicht aus.“
  6. Das Prinzip der Kausalität (Ursache und Wirkung): „Jede Ursache hat ihre Wirkung; jedes Phänomen hat seine Ursache; alles geschieht gesetzmäßig; Zufall ist nur ein Begriff für ein unerkanntes Gesetz; es gibt viele Ebenen von Ursachen, aber nichts entgeht dem Gesetz.“
  7. Das Prinzip des Geschlechts: „Geschlecht ist in allem; alles trägt sein männliches und sein weibliches Prinzip in sich; Geschlecht offenbart sich auf allen Ebenen.“

Für das Ausüben dieser sieben Prinzipien, so der ureigene Verweis, gilt es ein Leben im Jetzt zu schaffen. Es sei an jedem Einzelnen, sich nicht weiter der Außenwelt auszuliefern, sondern stattdessen anzufangen, sich um sich selbst zu kümmern. Die Dinge nicht aus einem Unterbewusstsein heraus tun, sondern selbstbestimmt aus seinem Oberbewusstsein heraus zu handeln. Bewusst zu fühlen, anstatt unterbewusst zu unterdrücken. Denn obgleich es, dem vierten Prinzip entsprechend, von höchster Wichtigkeit sei, sich der Polaritäten, denen diese Welt unterliegt, bewusst zu werden, entsprächen das zweite, dritte, fünfte und sechste Prinzip dem Kernauftrag vom Wahren des jeweils eigenen Energiehaushaltes. Oder, um es mit anderen Worten zu sagen: Alles ist Schwingung. So auch du und deine Mitmenschen. Um selbst im Takt deines eigenen Klangs zu bleiben, achte auf ihre Stimmungen und Erregungen. Ein unachtsamer Umgang mit deinen eigenen lässt sie zu den deinen werden.

Das Stichwort lautet hier: Fremdenergien. Denn ob bewusst oder unbewusst — viele unserer Mitmenschen möchten uns durch ihre Stimmungen beeinflussen. Doch sobald wir beeinflusst werden, werden wir manipuliert. Geschieht dies zwar seltenst unter böswilliger Absicht, ändert dies nichts an der Dynamik selbst: Wir geben in diesen Momenten einen Teil unserer Energie ab, verlieren ein Stück unserer Integrität, geraten aus unserer Mitte. Um dies zu verhindern, sollte das erste Ziel zunächst einmal sein, diese energetischen Bewegungen im Außen wie im Inneren immer mehr wahrzunehmen und sie in erster Linie als das zu verstehen, was sie sind: Bewegungen.

Das Sich-Gewahr-Werden dieser Bewegungen findet letztendlich in unserem Bewusstsein statt. Nicht im Denken, sondern in der Annahme von dem, was ist. Sich weder im Kopf, Körper oder Gefühl davor zu versperren, das als wahr anzunehmen, was wirklich ist. Nichts hinzuzudichten, nichts zu verdrehen, nichts zu rationalisieren. Insofern es beim Erschaffen von Realitäten zunächst keine Rolle spielt, ob sich das Bewusstsein seiner selbst bewusst ist oder nicht, meint Bewusstwerdung in dem Fall, sich selbst und die eigenen Anteile gut genug zu kennen, um sowohl manipulative Tendenzen im Außen wahrnehmen und fernhalten zu können, wie auch selbst keine solchen mehr zu versenden. Dass die Lösung für dieses Integritätsproblem sich mit einem hermetischen Prinzip zusammenfassen lässt, liegt auf der Hand: „Wie oben, so unten; wie innen, so außen; wie der Geist, so der Körper.“


Redaktionelle Anmerkung: Dieser Beitrag erschien zuerst unter dem Titel „Wie oben, so unten“ bei Treffpunkt im Unendlichen, dem Substack von Lilly Gebert.