Wider die freiwillige Knechtschaft
Eine Abhandlung aus dem 16. Jahrhundert über Macht und Freiheit ist noch heute hochaktuell.
Die politisch verursachte Corona-Krise hat zu massiven Einschränkungen der Grundrechte und bürgerlicher Freiheiten geführt, wie sie nicht nur für die bundesdeutsche Geschichte einmalig sind. Begründet wird das mit der angeblich tödlichen Gefahr durch das Virus Sars-Cov-2, das vermeintlich überall und in jedem lauert. Deshalb wird das gesellschaftliche Leben massiv beschränkt, werden Menschen gezwungen, ihr soziales Verhalten zu ändern und sogenannte Masken zu tragen, auch wenn sie nur symbolische Wirkung haben — aber vielleicht gerade deshalb, als Zeichen der Unterordnung unter die Vorgaben der Regierenden. Dank der Angst- und Panikmache durch Politik und Medien stimmt laut Umfrage eine Bevölkerungsmehrheit den Maßnahmen gegen sich selbst zu. Mehr als ein Drittel der Befragten wünscht sich sogar noch schärfere Einschränkungen. Bei dem Versuch, zu verstehen, was da im 21. Jahrhundert hierzulande und global geschieht, hilft ein Blick in Bücher, die bereits erschienen sind, zum Teil lange vor der Corona-Krise.
Es ist nur ein kleines Buch und stammt aus dem 16. Jahrhundert — aber sein Inhalt ist gewichtig und hochaktuell auch in unserer heutigen Zeit: Die „Abhandlung über die freiwillige Knechtschaft“ von Étienne de La Boétie. Seit der Text 1571 das erste Mal veröffentlicht wurde — den Berichten nach etwa 25 Jahre zuvor aufgeschrieben — hat er „nichts von seiner politischen Sprengkraft verloren“, wie Bernd Schuchter zu Recht im Nachwort zur aktuellen Ausgabe von 2019 feststellt.
Das Plädoyer für die Freiheit liest sich angesichts der Geschehnisse in der dieses Jahr ausgelösten Corona-Krise hochaktuell. Das gilt ebenso für die Fragen des Autors nach den Ursachen für die freiwillige Knechtschaft. De La Boétie trägt für die Antwort auf die grundlegende Frage „Wie soll ich mich angesichts der eigenen Ohnmacht und der Macht der anderen verhalten?“ Einiges bei. Dabei geht der Autor auch weit über die Tyrannei hinaus, die er anhand zahlreicher historischer Beispiele ins Zentrum seiner Abhandlung stellt.
Zu den Tyrannen zählt er nicht nur jene, die durch „die Gewalt der Waffen“ oder „durch die bei ihrem Geschlechte hergebrachte Erbfolge“ an die Macht gelangten. Dazu gehörten für de La Boétie ebenso die, die „im Besitze der Herrschaft durch die Wahl des Volkes“ sind. Über diese Gruppe schrieb er, es sei „sonderbar, wie sehr sie dann alle anderen Tyrannen in allen Arten von Lastern und selbst in der Grausamkeit übertreffen“. Sie würden ihre neue Tyrannei „durch die größtmögliche Ausbreitung der Knechtschaft“ befestigen sowie „durch eine so große Entfremdung ihrer Untertanen von der Freiheit, so frisch auch immer das Andenken derselben sei, dass sie endlich die Freiheit ganz vergessen“.
Zeitlose Machtmittel
Es gebe zwar Unterschiede unter den Despoten, meint der Autor aus dem 16. Jahrhundert, aber ihre Art zu regieren sei ähnlich:
„Die Erwählten betrachten ihre Untertanen als Stiere, die man ihnen zu zähmen gegeben hat, und sie behandeln sie auch demgemäß …“
Zeitlos und aktuell klingt nicht minder, was de La Boétie über die Machtmittel geschrieben hat, zu denen mehr als Zwang und Gewalt gehören. Er erinnerte an das Beispiel der vom Perserprinzen Cyrus eroberten Hauptstadt von Lydien, Sardes, im 6. Jahrhundert vor Christus. Als der Eroberer erfahren habe, es gebe unter der Bevölkerung von Sardes Proteststimmung, sei er nicht mit Gewalt dagegen vorgegangen:
„Er errichtete daselbst Huren- und Spielhäuser, ordnete öffentliche Spiele und Ergötzlichkeiten an und machte durch Verordnung bekannt, dass die Einwohner davon Gebrauch machen sollten …“.
Viele Herrschende seien dem Beispiel gefolgt, oft ohne öffentliche Verordnung, aber nicht minder erfolgreich.
Zu den Grundlagen von Herrschaft gehört aus Sicht des Autors ebenfalls, dass „der Charakter des gemeinen Volkes, welches in den Städten immer die größte Zahl ausmacht, ist, argwöhnisch gegen den zu sein, der es liebt, und verdachtlos gegen den, der es betrügt“. Das den römischen Herrschern zugeschriebene Prinzip von Brot und Spielen bezeichnete de La Boétie als „die Lockpfeife der Knechtschaft, der Feind ihrer Freiheit, die Werkzeuge der Tyrannei“.
Altbewährte Demagogie
Der Autor aus dem Frankreich des 16. Jahrhunderts schrieb bereits, die Tyrannen begleiten „immer ihre ungerechten Verordnungen mit einem artigen Eingange, worin vieles von dem wesentlichen Besten und der Erleichterung des Volkes geschwatzt wird“. Wer aktuelle Beispiele dafür sucht, sollte sich die Ansprachen bundesdeutscher Politiker zu den Einschränkungen der Freiheit und der Grundrechte der Bürger in der Corona-Krise noch einmal durchlesen, so die TV-Ansprache von Bundeskanzlerin Angela Merkel vom 18. März dieses Jahres.
De La Boétie wendete sich aber nicht nur kritisch gegen die Herrschenden, sondern bemerkte ebenso, dass das Volk ihnen immer entgegenkam. Es habe sich dabei „von selbst in den ihm von den Tyrannen gelegten Fallstricken“ verfangen. Es sei den Tyrannen von den Beherrschten leicht gemacht worden, sie zu betrügen, stellt er bedauernd fest. Dabei habe sich das Volk „immer selbst die Lügen für seinen Glauben“, alles sei richtig so, erdacht. Selbst die Tyrannen seien verwundert gewesen, dass sich die Vielen von Wenigen beherrschen lassen. Deshalb stellten sie „die Religion als eine Schutzwehr vor sich hin“ und gaben ihrer Macht vermeintliche göttliche Weihen, so der Autor.
Ihn beschäftigte, warum sich die Menschen freiwillig in Knechtschaft begeben, obwohl das eigentlich wider ihre Natur sei. Menschen müssten „öfters der überlegenen Stärke gehorchen, öfters den Umständen nachgeben, weil man nicht immer der Stärkere sein kann“, stellte er fest. Aber mit Inbrunst wendet er sich gegen die freiwillige Knechtschaft, die er so beschrieb:
„Das Volk schlägt sich selbst in Fesseln, schneidet sich die Kehle ab, gibt die Freiheit für das Joch dahin, da es doch ganz in seiner Wahl steht, ein Knecht oder frei zu sein, es willigt in sein Unglück, noch mehr, es jagt ihm nach.“
Einfache Lösung
Für de La Boétie ist das ein unnatürlicher Zustand, da aus seiner Sicht „die Freiheit natürlich ist“. Für ihn folgt daraus, „dass wir nicht allein mit dem Besitze unserer Freiheit geboren werden, sondern zugleich auch mit dem Triebe, sie zu verteidigen“. Das sei eigentlich ganz einfach: „Und es ist ja nicht einmal nötig gegen diesen einzelnen Tyrannen zu streiten oder sich gegen ihn zu verteidigen; er ist gestürzt, sobald das Land nicht mehr einwilligt, sein Sklave zu sein.“
Die Herrschenden hätten immer so viel Macht, wie ihnen von den Beherrschten gegeben wird. Der freiheitsliebende Franzose beschrieb eine einfache Lösung, den Mächtigen die Macht zu nehmen:
„… sobald man ihnen nicht mehr gehorcht, stehen sie, ohne dass es weiterer Gewalttätigkeit bedarf, nackt und kraftlos da und sind nichts mehr und dörren ab, gleich der Pflanze, welcher man die Feuchtigkeit und Nahrung entzogen hat.“
Das ist das Einfache, das schwer zu machen ist. Doch Zwang und Gewalt können anfangs den Drang nach Freiheit unterdrücken, so de La Boétie.
Machtvolle Gewohnheit
Aber schon die in Unfreiheit aufgewachsenen Nachkommen würden ohne diesen Drang leben:
„Die Menschen nämlich, die unter dem Joche geboren werden und dann in der Knechtschaft genährt und erzogen, sind zufrieden, ohne weiter vor sich zu sehen, leben, wie sie geboren sind …“
Der Autor stellte fest, „das beste Naturell, wenn es nicht genährt und gezogen wird, geht zugrunde. Die Erziehung formt uns immer nach ihrer Art, trotz der Natur.“ Die daraus erwachsene Gewohnheit sieht er als ersten Grund der freiwilligen Knechtschaft. Dass sei zugleich der Nährboden für die zweite Ursache, „dass mit der Freiheit auch zugleich die Tapferkeit verloren geht“. Sobald die Tyrannen wahrnehmen, dass das beherrschte Volk träge und der Freiheit entwöhnt ist, „so bieten sie alle Hilfsmittel auf, es immer stupider zu machen“ — einschließlich Brot und Spiele.
Natürlich nennt der Autor aus dem 16. Jahrhundert keine konkrete Handlungsanweisung für unsere aktuelle Situation. Viele der von ihm beschriebenen gesellschaftlichen Prozesse und Methoden sind bis heute gültig, dass sie es zuvor bereits waren, belegt er mit zahlreichen historischen Beispielen. Gleichzeitig geht er auf ein sehr wirksames Machtmittel nicht ein: Die Angst vor dem Tod durch eine vermeintlich überall lauernde Gefahr — zum Beispiel ein Virus.
Standhaftes Vorbild
Damit lässt sich sogar das Verbot von Brot und Spielen — bis auf deren digitale Varianten — rechtfertigen. Mag sein, dass es im 16. Jahrhundert noch nicht so gebräuchlich war, unter anderem, weil Seuchen aufgrund der hygienischen Bedingungen häufiger auftraten als heute. Wobei allerdings die Kirche ihre Macht damit sicherte, indem sie von der „Strafe Gottes“ für sündiges Leben sprach.
Der Autor verwies auf ein interessantes Beispiel für einen Menschen, der sich von den Mächten nicht verlocken ließ, ihnen zu dienen: Hippokrates, auf dessen Eid sich bis heute Mediziner berufen. Als der damalige griechische König den im fünften Jahrhundert vor Christus lebenden Vater der Arzneikunde mit Geschenken und Ehrungen an sich binden wollte, lehnt dieser ab. Er sei nicht bereit, „seine Kunst einem Fürsten zu leihen, der Griechenland in Fesseln schlagen wollte“, zitierte ihn de La Boétie.
Der Franzose, der mit 32 Jahren an einer der Seuchen seiner Zeit starb, fragte seine Leser zur Macht der Herrscher unter anderem: „Woher hat er so viele Augen, euch auszuspähen, woher so viele Hände, euch zu schlagen, als von euch?“ Und: „Von wem anders als von euch selbst, hat er die Gewalt über euch erhalten?“
Er erklärte ihnen: „Ihr schwächt euch, um seinen Arm zu stärken, dass er euch den Zügel recht kurz halte!“ Wie aktuell das ist, zeigten Medienberichte Mitte August, laut denen Kanzlerin Merkel angesichts der gemeldeten sogenannten Infektionszahlen, sagte, es müssten „die Zügel angezogen“ werden.
Zeitlose Erkenntnisse
Zugleich empfahl de La Boétie eine einfache Lösung:
„Seid entschlossen, nicht mehr zu dienen, und ihr seid frei. Ihr dürft an den Tyrannen nicht stoßen, um ihn wankend zu machen: haltet ihn nur nicht mehr, und ihr werdet sehen, wie er dann, gleich einem großen Koloss, unter dem man die Grundlage weggenommen hat, durch seine eigene Schwere zusammenstürzt und zu Stücken zerbricht.“
Das gehört zu den Aussagen, die das kleine Buch aus dem 16. Jahrhundert bis heute aktuell machen, „auch wenn man die Fragen nach dem Ungehorsam gegenüber Tyrannen heute anders stellen muss“, wie Bernd Schuchter in seinem informativen Nachwort zur schön gestalteten Ausgabe von 2019 aus dem österreichischen Limbus Verlag schreibt. Zeitlos gültig bleibt ebenso, was de La Boétie über das „Staatsgeheimnis der Tyrannei“ schreibt: Die Netzwerke der Macht, die sich statt mit Waffen mit Heerscharen von Günstlingen absichert.