Weniger ist mehr
Mit dem taoistischen Prinzip des „Nicht tun“ ebnete der japanische Bauer Masanobu Fukuoka einer ökologischen Landwirtschaft den Weg.
Die größten Zivilisationen der Erde haben meist eines gemeinsam: eine verödete Natur. Seit Jahrzehnten nehmen die Probleme an allen Ecken und Enden zu: Artensterben, Ernteausfälle, Waldbrände, aber auch der schiere Wegfall der Natur als kraftspendender Rückzugsort sind Symptome eines rücksichtslosen Wirtschaftens, das den Planeten, den wir bewohnen, in Mitleidenschaft zieht. Zwar denkt der Mensch sich eine Vielzahl von Lösungen aus, um dieser Probleme Herr zu werden, doch setzt er dabei viel zu oft auf die Technik und schafft mit unnatürlichen Lösungsstrategien nur wieder neue Probleme. Dass es auch anders geht, hat schon Mitte des letzten Jahrhunderts der Japaner Masanobu Fukuoka bewiesen.
Immer besser, immer mehr, das ist seit Jahrhunderten die Devise der meisten menschlichen Zivilisationen. Weit verbreitet ist der Glaube, dass ein Fortschritt durch Technik irgendwann dazu führen wird, die Menschheit in ein Techno- und Digital-Paradies zu führen, in dem alle glücklich und zufrieden, befreit von Leid und Tod leben werden. Indes, die Realität zeigt etwas Anderes. Der Fortschritt wirft vielerorten einen enormen Schatten, dessen Symptome nur allzu bekannt sind: Artensterben, Desertifikation, Vergiftung von Natur und Mensch, Klimawandel. Hinzu kommt, dass Digitalisierung und Robotisierung die Menschen immer mehr voneinander und von sich selbst entfremden, sie in künstliche Welten ewiger Unterhaltung verbannen, wo sie sinnbefreit ihr Dasein fristen, nachdem ein Großteil aus der Gesellschaft als nutzlos weitestgehend aussortiert wurde.
Wie es aktuell aussieht, werden die Menschen und ihre gesunden Beziehungen der maximalen Profitsteigerung, der Reichtums- und Machtkonzentration bedenkenlos geopfert. Eine unstillbare Gier treibt die Maschinerie immer weiter an. Dabei entfernt sich der Mensch so weit von der Natur, dass viele richtiggehend Angst vor ihr entwickelt haben. Darunter leidet nicht nur die psychische, sondern auch die körperliche Gesundheit. Immer mehr Pestizide, künstliche Dünger, auf Plastik und Styropor angebaute und mit Nährlösungen großgezogene Lebensmittel enthalten kaum noch Nährwerte, machen krank und schwach, sind jedoch unglaublich gewinnträchtig.
So absurd es klingen mag: Die entstehenden Probleme bieten weitere Möglichkeiten für Profit. Kranke Menschen sind wahre Goldgruben für die Pharma- und Geräteindustrie. Die grassierenden psychischen Krankheiten sind ein perfekter Absatzmarkt für Psychopharmaka und Therapien. Die Lösung für den Klimawandel lautet: Mehr! Mehr Windräder, mehr Solarenergie, mehr Digitalisierung und Elektrifizierung auch des Straßenverkehrs. Die Industrie freut es. Ein grundsätzliches Umdenken findet überhaupt nicht statt. Es muss immer weiter gehen.
Nicht-Tun
Dass es auch anders geht, hat der japanische Philosoph, Wissenschaftler und Bauer Masanobu Fukuoka schon Mitte des letzten Jahrhunderts bewiesen und später in dem Buch „Der große Weg hat kein Tor“ beschrieben. Nach dem Zweiten Weltkrieg, als in Japan die industrielle Landwirtschaft mit großen Maschinen, Pestiziden und künstlichen Düngern eingeführt wurde, hat er sich entschieden, das genaue Gegenteil zu machen. Nicht das Prinzip des „immer mehr“ machte er sich zur Grundlage seines Ackerbaus, sondern er etablierte eine Landwirtschaft, die er „nicht-tun-Landwirtschaft“ nannte. Seine Überlegung: Was passiert, wenn ich bestimmte Dinge einfach nicht tue? Wenn ich dies weglasse, das unterlasse?
So hat Fukuoka aufgehört, seine Felder zu pflügen, hat seinen Reis nicht in überschwemmten Feldern angebaut, so wie es sonst üblich ist. Er benutzt keine Düngemittel, keine Pestizide, baut sein Gemüse in halbwilder Form an und beschneidet auch seine Obstbäume nicht. Die Ernte fährt er nicht mit riesigen Maschinen ein, sondern benutzt nur traditionelle Gerätschaften wie die Sense.
Das Ergebnis: Die Erträge seiner Felder sind ebenso hoch wie die der fruchtbarsten Regionen Japans, wobei er nur einen Bruchteil an Arbeit und Gerätschaften dazu benötigt.
Mehr noch: die Fruchtbarkeit seiner Felder steigt von Jahr zu Jahr an, weil diese Art der Landwirtschaft einen gesunden Boden hervorbringt, der immer lebendiger, immer nährender für die Pflanzen wird. Fukuoka überlässt es der Natur, sich zu entfalten und ein Gleichgewicht zu finden. Auf diese Weise benötigt er keine Pestizide, denn diese töten auch die Fressfeinde der sogenannten Schädlinge. Auf Fukuokas Feldern und in seinen Gärten herrscht ein Gleichgewicht, das gesunde, starke und widerstandsfähige Pflanzen hervorbringt, die wiederum nahrhafte Früchte tragen.
Seine Vorgehensweise ist das genaue Gegenteil dessen, was die konventionellen Landwirte um ihn herum erleben. Mit der Geräte- und Chemieindustrie zerstören sie das natürliche Gleichgewicht, das zwischen den Lebewesen herrscht, schwächen die Pflanzen, machen sie anfällig für Krankheiten und Schädlinge, während die landwirtschaftlichen Erzeugnisse gleichzeitig immer weniger Nährstoffe enthalten. Statt natürliche Pflanzen baut die Mehrzahl der Bauern synthetische Produkte an, gefüttert mit Chemie, die lediglich wie Pflanzen aussehen, aber nach nichts mehr schmecken und der Gesundheit schaden. Gleichzeitig werden sie in einen gnadenlosen Konkurrenzkampf gedrängt, der dazu führt, dass immer mehr Arbeitsschritte in die Landwirtschaft eingeführt werden.
Neben umfangreicher Vorbereitung der Felder durch Pflügen, Düngen, Kompostieren müssen sie ihre Früchte immer wieder behandeln und können auch nach der Ernte nur den Teil verkaufen, der tadellos aussieht. So behandeln sie zum Beispiel ihre Mandarinen mit Wachs und Zuckerlösungen. Fukuoka hingegen säte seine Samen direkt und ohne Bodenbearbeitung aus, erntete und verkaufte seine Ware als Naturkost, die zudem noch um einiges teurer ist als konventionelle Produkte.
Das Erfordernis, immer mehr zu tun, hat die Bauern in Japan an den Rand des Ruins getrieben und ihnen einen Großteil ihrer Lebenszeit gestohlen. War es ihnen früher möglich, die Wintermonate mit Müßiggang oder der Jagd zu verbringen, und hatten sie früher Zeit für Dichtung und Kunst, so ist ihnen diese Muße längst verloren gegangen. Die sich ewig drehende Maschinerie des Wachstums und Fortschrittes beansprucht all ihre Zeit und Aufmerksamkeit. Seit den Tagen, in denen Fukuoka darüber schrieb, hat sich wohl wenig zum Besseren gewandelt.
Gesellschaft des Nicht-tuns
Das Prinzip des Nicht-tuns ist aber nicht nur in der Landwirtschaft anwendbar. Man könnte dieses Prinzip und die dazugehörige Philosophie auf die ganze Gesellschaft und all ihre Entscheidungen übertragen. Doch leider beruht unsere Zivilisation nach wie vor auf dem Dogma des ständigen Wachstums. Wenn man auf eine Landwirtschaft setzt, wie Fukuoka sie betreibt, dann werden ganze Industriezweige vollkommen überflüssig; ähnlich sähe es in anderen Bereichen aus. Dies hätte einen großen Vorteil für unser aller Gesundheit und die Gesundheit der Natur. Lieber setzen die meisten Menschen hier auf technische Lösungen, die wiederum stets schwerwiegende Folgen nach sich ziehen. So ist auch die Idee, im „Kampf gegen den Klimawandel“ auf Elektromobilität, Windräder und Solarenergie zu setzen, aus dem Geist des ewigen Wachstums geboren.
Doch diese Scheinlösungen gehen einher mit einem Raubbau an der Natur, denn die Rohstoffe für die ganzen technischen und digitalen Bauteile werden in giftigen, umweltschädlichen Verfahren gewonnen. Hinzu kommt ein riesiges Entsorgungsproblem der ausgedienten Teile und Akkus. Ähnliche Konsequenzen hat der Digitalisierungswahn, der eine ständige Steigerung der Energieproduktion notwendig macht. Woher soll diese Energie kommen? Wie soll diese ökologisch produziert werden? Auf keinen Fall durch Kohle, Atomkraft oder Gas, aber auch nicht durch Solarenergie und Windkraft. Diese Ansätze sind daher zum Scheitern verurteilt und führen die Menschheit in eine ökologische Katastrophe.
Statt also immer neue, technische Lösungen zu entwickeln, sollten wir uns über den Sinn all der Dinge Gedanken machen, mit denen wir uns umgeben.
Ist es wirklich notwendig, alles zu elektrifizieren und zu digitalisieren? Brauchen wir immer größere Autos, Haushaltsgeräte, Handys und Computer? Müssen wir zwanghaft alles und jeden mit dem Internet verbinden? Wozu eigentlich? Möchten wir uns mit Lebensmitteln ernähren, die mit Gift vollgepumpt sind und kaum noch Nährstoffe enthalten?
Kritiker werden nun rufen: Aber das Wachstum! Was ist denn mit dem Wachstum? Ist Wachstum denn nicht Fortschritt? Vielleicht wäre es daher auch einmal notwendig, über das Dogma des Wachstums nachzudenken. Denn hat all dieser Wachstum die Menschheit von Hunger und Armut befreit? Im Großen und Ganzen: Nein. Er hat eine kleine Gruppe von Menschen sehr reich und damit sehr mächtig gemacht, während gleichzeitig noch immer Millionen Menschen in der Welt unterernährt sind. Und auch Fukuoka fragte sich, was an einer Welt ohne Wachstum so schlimm sein sollte.
Tödliche Abhängigkeit
All dieser Fortschritt führt auch zu immer mehr Abhängigkeiten. Ein höherer Strombedarf für all unsere Gerätschaften macht uns abhängig vom Stromerzeuger. Digitalisierung macht uns abhängig von den großen Unternehmen wie Google, Apple und so weiter. Der aktuelle Mangel an Halbleiterchips zeigt, dass eine solche Abhängigkeit sehr schnell in die Katastrophe führt. Doch die schlimmste Abhängigkeit ist wohl die von Nahrungsmitteln.
Der Anteil der Bevölkerung, der in der Landwirtschaft tätig ist, geht seit Jahrzehnten kontinuierlich zurück. Immer mehr Ackerland gelangt in die Hände weniger Konzerne oder Einzelpersonen, macht die Bauern von diesen abhängig, ebenso wie die Endverbraucher. Abhängigkeit entsteht auch zu den großen Chemiekonzernen, die das Saatgut sowie die Pestizide und Kunstdünger verkaufen.
Denn diese Unternehmen haben die vielen verschiedenen Sorten, die es einst auf der Welt gab, durch einige wenige ersetzt, die durch kontinuierliche Zucht krank und anfällig geworden sind. Das erfordert eine immer weiter ausufernde Behandlung mit Kunstdüngern und Pestiziden, um die Schwäche auszugleichen. Gleichzeitig halten sie darauf die Patente, und so müssen Bauern Saatgut immer wieder bei ihnen einkaufen. Wir befinden uns also auf dem schlechtesten Weg in einen Kapitalfeudalismus, in dem die Massen der Gnade einiger weniger Unternehmen und Einzelpersonen unterworfen sein werden. Diese können nach Belieben Regeln aufstellen und die Menschen unterdrücken, denn sie gebieten über Lebensmittel und Land.
Zudem haben wir uns viel zu sehr abhängig gemacht vom Geld. Bauern müssen heute auf einem Weltmarkt konkurrieren, um konkurrenzfähig zu bleiben. Das führt dazu, dass sie in großen Monokulturen Pflanzen anbauen, deren Früchte auf diesem Weltmarkt einen hohen Ertrag erzielen. Das sind zumeist Mais oder Weizen. So findet eine kulturelle Verarmung der Landwirtschaft statt. Darüber hinaus machen wir uns abhängig von globalen Lieferketten, die nur allzu anfällig sind für Krisen. Was passiert, wenn diese zusammenbrechen?
Heutzutage ist jeder von Geld voll und ganz abhängig. Ohne Geld kann man kein Essen kaufen, die Miete nicht bezahlen. Für jedes Gut des täglichen Bedarfs muss man über Geld verfügen. Kaum jemand ist noch in der Lage, alles, was er zum Leben braucht, selbst herzustellen. Auf diese Weise sind wir auch von den Geldgebern abhängig, also den Konzernen und Unternehmen, die uns zwar für unsere Arbeit entlohnen, jedoch wissen, dass das Geld sogleich wieder an sie zurückfließt, wenn ihre Produkte gekauft werden. Konzentrieren sich Eigentum und Macht jedoch in den Händen immer weniger Konzerne, können sie auch die Bedingungen bestimmen, zu denen sie ihre Angestellten bezahlen oder ihre Güter abgeben. Auch hier ist der Weg in den Kapitalfeudalismus bereits geebnet.
Ein anderer Weg
Hinzu kommt, dass die Menschen immer unglücklicher, unzufriedener werden. Viele haben den Bezug zu sich selbst und zur Natur vollkommen verloren. Für Fukuoka war der Weg zur Zufriedenheit ganz klar: Es ist ein Weg der Bescheidenheit und des Lebens mit der Natur. Jeder Mensch, so seine Ansicht, sollte Bauer sein.
Im Leben und Arbeiten mit der Natur kann der Mensch erst den Bezug zu ihr wiederherstellen und voll und ganz in seinem Leben aufgehen. Auf diese Weise würden auch Abhängigkeiten reduziert. Denn wenn der Mensch von dem leben kann, was er auf seinem Grundstück anbaut, wieso sollte er noch auf das angewiesen sein, was ihm Konzerne verkaufen wollen? Vor allem wenn das, was er selbst anbaut, viel gesünder und schmackhafter ist als der Industriefraß? Die Bedingung dafür ist aber, dass die Menschen eine „nicht-tun-Landwirtschaft“ betreiben, damit sie nicht in die Abhängigkeit von Saatgutherstellern, Pestizid- und Düngemittelverkäufern geraten.
Diese Lebensweise ist zudem viel krisensicherer. Denn während in unserer heutigen Gesellschaft jede Finanzkrise, jeder Lieferengpass oder gar der Zusammenbruch der globalen Lieferketten direkte Folgen auf die Versorgungssicherheit mit Lebensmitteln hat, bekommt derjenige, der alles, was er zum Leben benötigt, von seinem Land erhält, von all dem höchstwahrscheinlich nichts mit. Er lebt in ökonomischer Unabhängigkeit. Diese hat eine politische Unabhängigkeit zur Folge. Denn wer nicht auf Geld- und Brotgeber angewiesen ist, kann sich klar positionieren. Unterdrückung ist dann nur noch mit schlichter Gewalt möglich.
Gerade in Zeiten, in denen sich ein großer Umbruch ankündigt, der das Bekannte aus den Angeln hebt und vollständig umkrempeln könnte, wäre es an der Zeit, unser Leben frei von systemischen und politischen Zwängen zu gestalten. Ein guter erster Schritt ist daher die Selbstversorgung im Sinne von Fukuoka. Einer natürlichen Landwirtschaft folgt ganz automatisch eine natürlichere Gestaltung der Gesellschaft. Wir könnten uns vom Geld verabschieden. Denn wozu benötigen wir es noch, wenn wir alles, was wir brauchen, selbst herstellen können? Wenn wir uns darüber hinaus auf lokaler Ebene zusammenschließen, die Erzeugnisse austauschen oder gar nach Bedarf bedingungslos verteilen, wozu brauchen wir Supermärkte und Konzerne? Wozu Geld?
So könnten wir das herrschende System von der Basis aus untergraben und letztendlich zu Fall bringen. Denn auch Macht baut im Großen und Ganzen nur auf Geld auf. Wenn wir dieses Geld nicht mehr benötigen und es daher nicht akzeptieren, woraus soll sich die Macht der Herrschenden dann noch speisen?
Wir könnten eine Welt errichten, die freier ist als alles, was die Menschheit seit der neolithischen Revolution gekannt hat. Voraussetzung ist dafür jedoch auch, dass wir jede Anmaßung von Macht und Herrschaft entschieden zurückweisen, uns stattdessen als Gleiche unter Gleichen friedvoll und wohlwollend zusammenschließen.
Während die Welt um uns herum vollkommen im Wahnsinn versinkt, sollten wir anfangen, die Welt von Morgen schon im Heute aufzubauen. Denn ihre Zeit wird kommen, und je schneller wir damit anfangen, desto eher können wir in Zufriedenheit leben. Die Alternative dazu ist wenig verlockend, wurde aber nun schon so oft thematisiert, dass ich sie hier nicht wiederholen möchte.
Eins ist sicher: Wir können die mutmaßlichen Pläne Einzelner in Richtung einer digitalen Dystopie nur durchkreuzen, wenn wir uns ihnen vollständig verweigern und stattdessen unsere eigene Utopie erschaffen, in der diese Menschen mit ihrem Machtanspruch und ihrem Reichtum keinerlei Platz haben. Fangen wir also gleich damit an.