Wem gehört Jerusalem?
Wie die israelische Politik den Untergang des jüdischen Staates herbeiführt.
Es hätte nicht der Provokation von US-Präsident Donald Trump, die eigene Botschaft nun endlich von Tel Aviv nach Jerusalem zu verlegen, bedurft, um den vielbeschworenen Friedensprozess nun endgültig für tot zu erklären. Seit Jahren hat die Jerusalemer Führung keinen Zweifel daran aufkommen lassen, dass sie von einem souveränen Staat Palästina nichts hält, und hat den Landraub für ihre Siedlungen zügig vorangetrieben. Erst vor einem halben Jahr hat Ministerpräsident Benjamin Netanyahu versichert: „Im Rahmen eines Abkommens oder selbst ohne ein Abkommen, werden wir auf jeden Fall die Sicherheitskontrolle über das gesamte Gebiet westlich des Jordan behalten“ (1). Gleichzeitig verkündete er im Independent: „Wir schützen Samaria (die Westbank) vor jenen, die uns entwurzeln wollen. Wir werden unsere Wurzeln vertiefen, bauen, stärken und siedeln. (…) Wir sind hier, um für immer zu bleiben.“
Dies hat er erst jüngst wiederholt, als er Außenminister Gabriel bei seinem Besuch unterbrach, als dieser von der Zwei-Staaten-Lösung sprach. Mit Sicherheitskontrolle meint er entweder volle Souveränität über das fruchtbare westliche Jordantal oder eine Kontrolle à la Guantánamo, bei der die Souveränität zwar bei den Palästinensern bleibt, jedoch ohne jegliche Kontrolle oder Nutzung ihres Landes. Beide Varianten sind für die Palästinenser inakzeptabel.
Gewöhnt man sich also an den Gedanken, dass auch die Zwei-Staaten-Lösung, an der seit der UNO-Teilungsresolution von 1947 bis heute auf dem diplomatischen Parkett festgehalten wird, faktisch untergegangen ist, muss man Trump zustimmen, dass er mit der Anerkennung Jerusalems als Hauptstadt Israels am 6. Dezember 2017 nicht nur ein Wahlversprechen erfüllt hat, sondern auch den „Jerusalem Embassy Act of 1995“, mit dem der US-Kongress schon vor 20 Jahren diesen Schritt gefordert und vorbereitet hatte. In diesem Gesetz heißt es u.a.:
„Seit 1950 ist Jerusalem die Hauptstadt des Staates Israel... Von 1948 bis 1967 war Jerusalem eine geteilte Stadt und israelischen Bürgern aller Glaubensrichtungen wie auch jüdischen Bürgern aller Staaten wurde der Zutritt zu den heiligen Stätten in dem von Jordanien kontrollierten Gebiet verweigert. ... 1967 wurde Jerusalem wiedervereinigt während des Konflikts, der der Sechs-Tage-Krieg genannt wird. ... Seit 1967 ist Jerusalem eine vereinigte Stadt, die durch Israel verwaltet wird, und den Menschen aller religiöser Richtungen wird der Zutritt zu allen heiligen Stätten in der Stadt garantiert.“
Das Gesetz forderte die Regierung auf, Jerusalem als ungeteilte Hauptstadt anzuerkennen und bis 31. Mai 1999 die Botschaft in Jerusalem zu errichten.
Die vorangehenden Administrationen haben diesen Schritt, die Anerkennung Jerusalems als ungeteilte Hauptstadt Israels und die Verlegung der Botschaft nach Jerusalem, immer wieder hinausgeschoben. Trump ist ihn nun, allerdings nur halb, gegangen. Wie die US-Botschafterin bei den Vereinten Nationen, Niki Haley, zur Rechtfertigung der Entscheidung erklärt hat, ist die Entscheidung nur die symbolische Bestätigung einer Politik aller US-amerikanischen Administrationen. Diese haben - mit unterschiedlicher Rhetorik und mit unterschiedlichen Mitteln - die israelische Position gegenüber den Palästinensern bis jetzt bedingungslos unterstützt. Das Gesetz von 1995 lässt auch keinen Zweifel daran, dass Trump das ganze „ungeteilte“ Jerusalem und nicht nur West-Jerusalem als Hauptstadt Israels gemeint hat. Die Tatsache, dass er dennoch den „Waiver“ unterzeichnet hat, mit dem der Umzug der Botschaft nach Jerusalem wiederum verschoben wird, hebt die Anerkennung aber nicht auf. Vicepräsident Mike Pence hat diesen Termin jetzt auf 2019 festgelegt, womit die israelische Regierung schon jetzt bei weiteren Staaten werben kann, es der US-amerikanischen Regierung gleich zu tun.
Wem gehört Jerusalem?
Gehen wir einmal der Frage nach, wem Jerusalem denn nun gehört. Abgesehen von den unmittelbaren politischen Folgen und den langfristigen Auswirkungen von Trumps Entscheidung, die von den meisten Staaten als unnötige Provokation und Verletzung zahlreicher Resolutionen der UNO und des Völkerrechts verurteilt worden ist, muss die völkerrechtliche Antwort gefunden werden. Der Frage soll hier in zwei Schritten nachgegangen werden, die den völkerrechtlichen Status Jerusalems untersuchen. Zunächst geht es um die Frage, wer die Souveränität über West- und Ost-Jerusalem nach der UN-Teilungsresolution 1947 und der Staatsgründung Israels 1948 erlangt hat. Sodann geht es um den rechtlichen Status von Jerusalem, nachdem Israel 1967 die ganze Stadt okkupiert hat.
Erstens: Es besteht kein Streit darüber, dass Jerusalem während der 400jährigen Herrschaft – von 1517 – 1917 – des Osmanischen Reichs unter dessen ausschließlicher Souveränität gestanden hat. Ebenfalls ist unbestritten, dass die Kontrolle über Palästina nach dem Zerfall des Reichs auf Großbritannien überging. Zunächst bis 1922 als Kolonialmacht mit militärischen Mitteln und seit 1922 mit dem Mandat des Völkerbundes. Ob diese Kontrolle zugleich auch die Souveränität über die Stadt mit all den daraus erwachsenden Herrschaftsbefugnissen bedeutete, oder ob die Souveränität bei dem Völkerbund lag, wird unterschiedlich beurteilt.
Am 18. April 1946 wurde der Völkerbund aufgelöst. Doch zuvor hatte die Versammlung entschieden, die Verwaltung der Mandatsgebiete zum Wohl der Bevölkerungen fortzusetzen, bis die Vereinten Nationen eine andere Regelung mit den Mandatsmächten treffen würden. Diese Abmachung wurde auch von Israel und Jordanien unmittelbar nach ihrer Gründung 1948 anerkannt. Dies spricht dafür, dass die Souveränität über die Mandatsgebiete vom Völkerbund auf die Vereinten Nationen überging, Großbritannien aber Mandatsmacht blieb. Denn mit der berühmten Teilungsresolution Nr. 181 vom 29. November 1947 empfahl die Generalversammlung der UNO „dem Vereinigten Königreich als Mandatsmacht von Palästina und allen anderen Mitgliedern der Vereinten Nationen die Annahme und Durchsetzung des Teilungsplans mit einer Ökonomischen Union in Bezug auf die zukünftige Regierung von Palästina“.
Für Jerusalem sah der Teilungsplan in Teil III vor: „Die Stadt Jerusalem soll als eine getrennte Einheit (corpus separatum) unter einem besonderen Internationalen Regime errichtet und durch die Vereinten Nationen verwaltet werden. Der Treuhandrat soll dazu bestimmt werden, die Verantwortung der Verwaltungsbehörde im Namen der Vereinten Nationen zu übernehmen.“
Der Teilungsplan wurde von Großbritannien akzeptiert, von den arabischen Staaten aber abgelehnt. Jerusalem jedoch war faktisch geteilt und der Westen unter israelische, der Osten unter jordanische Verwaltung gestellt. Israel akzeptierte dabei, dass der rechtliche Status von Jerusalem (corpus separatum) nur mit einer internationalen Übereinkunft bestimmt werden könne. In den Worten des damaligen israelischen Repräsentanten bei der UNO, Abba Eban: „Die israelische Regierung wird auch in Zukunft ein Übereinkommen mit den arabischen Interessen über den Erhalt und die Bewahrung des Friedens und die Wiederöffnung des blockierten Zugangs nach und in Jerusalem suchen. Verhandlungen darüber berühren aber nicht den rechtlichen Status von Jerusalem, der nur durch internationale Übereinkunft bestimmt werden kann.“(3) Auch spätere Äußerungen, z.B. von Moshe Sharett, hielten sich an die klare Linie, Entscheidungen über den Status von Jerusalem nur im Rahmen der Vereinten Nationen zu suchen. Israel konnte also nur mit der Zustimmung der Vereinten Nationen Souveränität über West- oder Ost-Jerusalem erlangen.
Jordanien, obwohl wie alle anderen arabischen Staaten gegen die Teilungsresolution, akzeptierte die Autorität der UNO über die zentralen Entscheidungen über Jerusalem. Als es 1955 Mitglied der UNO wurde, stimmte es auch zugunsten der verschiedenen Resolutionen der Generalversammlung. Auch Jordanien konnte also wie Israel keinen einseitigen Titel über Jerusalem erwerben. Dies war schon gar nicht möglich durch seine Besetzung Jerusalems während des Krieges unmittelbar nach der Staatsgründung Israels. Sie war ein eindeutiger Verstoß gegen das Gewaltverbot gem. Art. 2 Zif. 4 UN-Charta und konnte keinen Souveränitätsanspruch begründen.
Die Besetzung West-Jerusalems durch Israel wird jedoch von einigen vorwiegend israelischen und US-amerikanischen Autoren anders eingeschätzt. (4) Diese Besetzung sei rechtmäßig, da in Reaktion auf die jordanische Besetzung und in Selbstverteidigung gem. Art. 51 UN-Charta erfolgt. Israel habe daher nicht nur die Kontrolle, sondern auch Souveränität über West-Jerusalem erringen können. Dies sei auch deswegen möglich gewesen, weil die UNO darauf nicht reagiert und dadurch die neue rechtliche Situation akzeptiert habe. Beide Argumente vermögen jedoch die Schlussfolgerung nicht zu tragen, wie Antonio Cassese noch einmal 2008 überzeugend nachgewiesen hat. (5)
Selbst wenn die Besetzung West-Jerusalems in Selbstverteidigung rechtmäßig gewesen war, so vermag sie doch keine dauerhaften Souveränitätsrechte über das besetzte Gebiet zu begründen. Selbstverteidigung gem. Art. 51 UN-Charta richtet sich gegen einen Angriff und erlaubt die Besetzung fremden Territoriums nur solange, bis die UNO eingreift. Die Besatzungsmacht kann lediglich eine faktische Kontrolle über das Gebiet ausüben, einen weiteren rechtlichen Titel verschafft sie nicht. Auch das Schweigen der UNO zu der Besetzung kann die de facto Kontrolle nicht in einen Rechtstitel zur Souveränität verwandeln. So bedeutete die Aufnahme Israels und Jordaniens in die UNO keine rechtliche Anerkennung ihrer Souveränität über Jerusalem.
Dies wurde seinerzeit auch von US-Außenminister John F. Dulles betont. (6) Im Dezember 1949, nach der Aufnahme Israels in die UNO, schlug die UNO noch einmal die Internationalisierung Jerusalems unter Aufsicht des Treuhandrats vor. (7) Die Stadt blieb ein corpus separatum, welches auch die USA in zahlreichen Erklärungen immer wieder bestätigt haben. So bekräftigte der US-amerikanische Generalkonsul am 30 Dezember 1958 in einem Bericht an das Außenministerium: „Die Mehrheit der UN-Mitgliedsländer, einschließlich der Vereinigten Staaten und der Sowjetunion, respektieren nach wie vor die Resolutionen der UNO trotz der de facto Besatzung Jerusalems, teils durch Israel, teils durch Jordanien...Viele andere Staaten drücken ihren Respekt für die Internationalisierungs-Resolutionen dadurch aus, dass sie ihre Botschaften in Tel Aviv einrichten und so die Anerkennung Jerusalems als Hauptstadt Israels, und damit als Israels de facto souveränes Territorium, vermeiden.“ (9) Daran hat sich bis 1967 auch nichts geändert.
Zweitens: Im Juni 1967 besetzte Israel im sog. Sechs-Tage-Krieg Ost-Jerusalem . Die Knesset verabschiedete am 27. Juni 1967 ein Gesetz, auf dessen Basis die israelische Regierung dann im Juli1967 ganz Jerusalem in ihre kommunalen und Verwaltungsstrukturen integrierte. Dies wurde in den Folgejahren von israelischen Gerichten immer wieder bestätigt. Schließlich verabschiedete die Knesset am 30. Juli 1980 ein „Basic Law“, mit dem sie ganz Jerusalem faktisch annektierte, d. h. zu einem integralen Teil und zur „ungeteilten“ Hauptstadt Israels machte.
Diese Annexion widersprach allen Regeln des Völkerrechts und wurde besonders nach 1980 vom UNO-Sicherheitsrat wie von der Generalversammlung verurteilt und für null und nichtig erklärt. (9) Als Israel im Oktober 1990 eine Resolution des UN-Sicherheitsrats, (10) mit der er die militärische Besatzung Ost-Jerusalems rügte, zurückwies und einer Untersuchungskommission des UN-Generalsekretärs die Einreise verweigerte, verabschiedete der Sicherheitsrat sofort eine neue Resolution (Res. 673), mit einer erneuten Rüge und Warnung an Israel. Die Ablehnung dieses Schritts der israelischen Regierung war einmütig in der Staatenwelt. Selbst US-Präsident George Bush warnte Israel, keine neuen Siedlungen für die neu angekommenen sowjetischen Juden in Ost-Jerusalem zu errichten. (11)
Israel beachtete zwar all die Warnungen nicht, konnte aber keine Souveränität über das von ihm besetzte Jerusalem erlangen. (12) Auch das alte Völkergewohnheitsrecht, nach dem Gebiete ohne staatliche Verfassung und Zugehörigkeit, sog. terra nullius, durch Okkupation erworben werden konnten, hatte nach 1945 unter dem neuen Recht der UNO-Charta keinen Platz mehr. Territorien, die mit Gewalt erobert werden, können nicht in die Souveränität des Eroberers eingegliedert, sondern müssen wieder verlassen werden
Dennoch hat es immer wieder Versuche gegeben, Israels Souveränität über Jerusalem völkerrechtlich zu begründen. Das zentrale Argument ist, dass die UNO den durch die Generalversammlung 1947 in der Teilungsresolution empfohlenen Status der Internationalisierung (corpus separatus) für Jerusalem im Verlauf der Jahre aufgegeben habe. Die Besatzung sei daher von der Kontrolle in die Ausübung souveräner Gewalt erstarkt. Die Autoren verweisen dabei darauf, dass die UNO sich in ihren zahlreichen Resolutionen nach 1967 darauf beschränkt haben, den Rückzug aus Ost-Jerusalem nach West-Jerusalem zu fordern. Das sei ein Anzeichen dafür, dass die UNO offenbar nicht mehr zu dem Konzept der Internationalisierung stehe. Zumindest habe Israel damit Souveränität über West-Jerusalem erlangt und übe als rechtmäßige Besatzungsmacht die Kontrolle über Ost-Jerusalem aus.
Doch etliche Gründe sprechen gegen diese Position. Zunächst hat die UNO niemals die Besetzung Ost-Jerusalems durch Israel akzeptiert. Sie hat darüber hinaus aber auch niemals die Souveränität Israels über West-Jerusalem akzeptiert. Die Forderung, Israels Truppen sollten sich aus Ost- nach West-Jerusalem zurückziehen, bedeutet nur die Anerkennung der faktischen Besatzung. Souveränität kann auch nicht durch langjährige Besatzung ersessen werden. Die UNO hat nie ein endgültiges Modell für Jerusalem empfohlen. Der Vorschlag der Internationalisierung wollte lediglich die Entscheidung über den endgültigen rechtlichen Status offen halten.
Ob eine Teilung der Souveränität zwischen zwei Staaten oder die endgültige Internationalisierung als ein corpus separatum, diese Entscheidung ist immer noch offen, d. h. der endgültige Status Jerusalems soll nach den Vorstellungen der UNO mit ihrer Autorisierung durch einen internationalen Vertrag beschlossen werden. Beide Alternativen werden von unterschiedlichen Staaten befürwortet. Die EU hat immer an dem Konzept des corpus separatum für Jerusalem festgehalten. (14) Der Europarat hat am 13. Juni 1980 festgestellt, dass die (damals) neun Staaten keine einseitige Maßnahme akzeptieren, die den Status Jerusalems verändert, und dass jede Vereinbarung über den Status den freien Zugang zu allen Heiligen Stätten garantieren muss. (15)
Der italienische Völkerrechtler und ehemalige Präsident des Internationalen Tribunals gegen Ex-Jugoslawien, Antonio Cassese, hat das Dilemma, in dem das Völkerrecht gegenüber der Machtpolitik wieder einmal steckt, treffend benannt.: “Im Fall von Jerusalem begegnen wir einer bemerkenswerten Situation: ein Zustand, der durch militärische Gewalt geschaffen worden ist und sich jetzt vollkommen im täglichen Leben der Stadt eingepflanzt hat, wird von keinem anderen Mitglied der Weltgemeinschaft akzeptiert, und wird deshalb weder durch nationales noch internationales Recht anerkannt. Das Prinzip der Effektivität wird durch das der Legalität verdrängt, obwohl die Vereinten Nationen – die Schöpfer und Verkünder der internationalen Legalität - nicht in der Lage sind, es durchzusetzen.“
Trumps Auftritt im Porzellanladen des Völkerrechts könnte allerdings die wahre Realität aus dem Zwielicht der Trump’schen Jerusalem-Erklärung wieder ins ungefilterte Licht rücken, in dem Israel zwar die Kontrolle über Jerusalem, nicht aber die Souveränität besitzt. Seine von zahlreichen Medien kritiklos aufgenommene Rechtfertigung, jeder Staat könne den Ort seiner Botschaft selbst bestimmen, ist eine typische Trump’sche fake news. Denn kein Staat darf seine Botschaft auf fremdem Land errichten. Und damit liegt dann doch wieder die Alternative auf dem Tisch: Wird Jerusalem die Hauptstadt eines für Juden und Palästinenser gemeinsamen Staates, oder wird sie geteilt und jeweils Hauptstadt für einen jüdischen und einen palästinensischen Staat.
Ein oder zwei Staaten?
Nach einer Umfrage im September 2015 befürworten bereits 51% der Palästinenserinnen und Palästinenser einen binationalen Staat, der auch in Israel und von jüdischen Autoren (16) Anhänger findet und den auch die PLO bis in die achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts noch vertreten hat. Für Uri Avnery ist diese Idee zwar eine verlockende Vorstellung aber derzeit ohne realistische Chance. Denn ein solcher, Juden und muslimische Araber umfassender Staat bedeute das Ende des jüdischen Staates. „Die Juden würden zu der traumatischen Erfahrung zurückkehren, ein Volk ohne eigenen Staat zu sein… Das ist nicht sehr wahrscheinlich“ (17). Ministerpräsident Ehud Olmert war mit ihm in diesem Punkt in einem Interview mit der Zeitung Haaretz vom 29. November 2007 einer Meinung: „Sollte der Tag kommen, dass die Zwei-Staaten-Lösung zusammenbricht und wir einen Kampf für gleiches Wahlrecht wie in Südafrika erleben, dann wird das, sobald das geschieht, das Ende Israels sein“ (18).
Gefangen in dem Dilemma zwischen der Rückgabe der besetzten Gebiete oder Aufgabe des jüdischen Staates plädiert Moshe Zuckermann für Trennung und Rückgabe, selbst bei Gefahr eines Bürgerkrieges, den er dann für unvermeidbar hält (19). Moshe Machover hingegen hält aus sozialistischer Perspektive, beide Optionen – ein oder zwei Staaten – für falsch. Er setzt langfristig auf die zwangsläufige Veränderung der sozial-ökonomischen und politischen Machtverhältnisse in der Region und die nationale Einigung der Araber, die zu verhindern ein Eckpfeiler der politischen und militärischen Strategie Israels gewesen sei. Dies allein würde die gegenwärtige Ungleichheit des Kräfteverhältnisses aufheben mit der Perspektive, „dass beide nationalen Gruppen als Mitglieder einer Föderation dem gleichen Staat angehören werden“. (20) Eine Option, die auch schon Nachum Goldmann 1967 propagiert hatte (21) und die auch für Isaac Deutscher dem jüdischen Volk mehr Sicherheit versprochen hätte als der Nationalstaat, in dem er „eine weitere jüdische Tragödie“ (22) erblickte.
Faktisch entspricht die gegenwärtige Realität in Palästina dem binationalen Ein-Staat-Modell, welches allerdings für die arabische Bevölkerung dem Apartheidstaat näher ist als der Demokratie. Den Palästinenserinnen und Palästinensern stellt sich somit die Frage, was leichter ist: Israel für einen eigenen Staat die besetzten Gebiete zu entreißen und die Siedler in ihr Land zurückzuschicken oder die israelische Herrschaft in einem gemeinsamen Staat zu demontieren, sie zur Aufgabe der jüdischen Ausschließlichkeit zu zwingen und den neuen Staat der Juden und Araber zu demokratisieren?
Erstens: Die jüngste Forcierung des Siedlungsbaus in den besetzten Gebieten und die Verschärfung des Tons der Regierung in der Palästinafrage eröffnen keine gute Perspektive für die Ein-Staat-Lösung. Über Zwei Drittel der jüdischen Bevölkerung unterstützen dabei den provokanten Kurs Netanjahus. Zeev Sternhell, israelischer Politologe an der Hebräischen Universität Jerusalem, sieht die gesellschaftlichen Vorbedingungen für ein solches Modell kaum vorhanden. Er schreibt in der Haaretz vom 19. Januar 2018:
„Die Linke ist nicht mehr in der Lage, den giftigen Ultra-Nationalismus zu besiegen, der sich bei uns entwickelt hat, und der jener europäischen Strömung ähnelt, die um ein Haar die Mehrheit des jüdischen Volkes vernichtet hätte. … Wir sehen nicht nur einen zunehmenden israelischen Faschismus, sondern einen Rassismus, der dem Nationalsozialismus in seinen Anfangsstadien ähnelt.“
Dies bestätigt der israelische Historiker Tom Segev und Autor einer Biographie über David Ben-Gurion, wenn er in der New York Times schreibt:
„Unsere Regierung ist zunehmend rechtsradikal, rassistisch, anti Araber. Wenn das Mitglieder einer Regierung in Österreich wären, würden wir aus Protest unseren Botschafter abziehen“ (23).
Wie ein Echo ihrer Klage kommen fast täglich aus den Medien immer radikalere anti-palästinensische Töne der politischen Klasse. Sie nehmen kein Blatt vor den Mund, wenn es um die Erinnerung an den Sechs-Tage-Krieg vor 50 Jahren geht. So der ehem. Armee-General und Führer der israelischen Arbeitspartei Amiram Levin:
„Wir waren 1967 zu gut. …Wenn sie die Vereinbarungen verletzen, werden wir sie das nächste Mal über den Jordan werfen. Die Palästinenser haben die Besatzung verdient. Sie verdienen nichts, weil sie die Grenzen der Teilung nicht akzeptieren“ (24)*
Oder der israelische Bildungsminister Naftali Bennet:
„50 Jahre sind jetzt vergangen, seit wir Judea und Samaria (die Westbank, N.P.) befreit haben. Es ist an der Zeit, diese als israelisch anzuerkennen. Es ist Zeit für Souveränität“ (25)*
Nach eine Studie des Pew Research Center aus dem Jahr 2006 ist die Hälfte der jüdischen Bevölkerung der Meinung, dass die arabische Bevölkerung in Israel aus dem Land vertrieben werden soll. Und so berichtet der ehemalige Präsident des U.S./Middle East Project Henry Siegmann, der dem „American Jewish Congress and the Synagogue Council of America“ vorstand, 2018 von einer Buchpremiere in Jerusalem in der der Historiker und emeritierte Professor an der Hebräischen Universität, Raphael Israeli, sein neues Buch „Die arabische Minderheit in Israel“ vorstellte. In diesem nur auf Hebräisch publizierten Buch vertritt er die These, dass „die israelischen Araber die fünfte Kolonne“ seien und nicht in die israelische Gesellschaft integriert werden könnten. Er zeigt Bewunderung für die Amerikaner, die während des Zweiten Weltkriegs ihre Japaner internierten und befürwortet, die israelischen Araber in Konzentrationslager einzusperren. Dass Israel derartige Maßnahmen versäumt habe, sei das Zeichen für ein „geschwächtes Israel, welches den Willen verloren habe, zu existieren (26). Die Veranstaltung war von zahlreichen Mitgliedern der Knesseth, der Regierung und des Likud besucht worden.
Zweitens: Die einzige Schlussfolgerung, die wir aus diesen Äußerungen ziehen können, ist, dass die israelische Führung weder einen gemeinsamen Staat noch zwei getrennte souveräne Staaten will. Ihr Modell für die Zukunft ist offensichtlich der gegenwärtige Zustand eines jüdischen Staates mit der permanenten Unterdrückung der arabischen Bevölkerung, ein Staat der Apartheid. Trumps Administration scheint diese Situation zwar nicht sympathisch aber letztlich gleichgültig zu sein, so lange die Stabilität Israels und die Interessen der USA nicht gefährdet sind. Trump hat zwar mit seinem Jerusalem-Coup der Zwei-Staaten-Lösung eine deutliche Absage erteilt, doch dürften die Gefahren für die Stabilität Israels mit einem binationalen Apartheid-Staat unkalkulierbar größer werden.
Siegmann, ein überzeugter Vertreter der Ein-Staat-Lösung, macht folgende Rechnung auf. Wenn die Palästinenser nach einem bestimmt langen und bitteren Kampf gegen die Apartheid schließlich gewinnen sollten, würden sie die klare Mehrheit bilden und eindeutig die religiöse und kulturelle Identität Israels verändern. Die Folge wäre, dass es einen bedeutenden Exodus israelischer Juden gebe. Würden die Palästinenser in diesem Kampf unterliegen, würde sich der Anti-Apartheid-Kampf fortsetzen und zu dem gleichen Ergebnis führen, ein Exodus der jüdischen Bevölkerung. Da die palästinensische Bevölkerung mangels Alternative ihr Land nicht verlassen würde, käme es zu einem erheblichen Ungleichgewicht zwischen der jüdischen und arabischen Bevölkerung.
In beiden Fällen wäre das Ende des jüdischen Staates die wahrscheinliche Folge. Und dies sei nicht das Ergebnis der weltweiten Boykott- und Sanktionsbewegung, sondern der verbohrten Politik der Israelis, die „darauf bestehen, ihre nationale Identität und territorialen Forderungen religiös zu begründen“. Es ist nicht anzunehmen, dass Trump seine Entscheidung nach ähnlichen Überlegungen getroffen hat. Es wird ihm schlicht egal sein, wenn die US-Interessen nur nicht in Mitleidenschaft gezogen werden.
Die Implosion des jüdischen Systems ist schon verschiedentlich vorausgesagt worden. Sie würde den Staat Israel nicht verschwinden lassen, wie es Ehud Olmert und mit ihm wahrscheinlich der überwiegende Teil der politischen Klasse befürchten. Sie würde dem Staat aber seinen aggressiven zionistischen Expansionsdrang nehmen und das absolute Suprematie-Bewusstsein aus der Staatsideologie entfernen. Sie würde die Chance eröffnen, die israelische Politik wieder an die Regeln der UNO-Charta und des Völkerrechts zu binden und die aus der jahrzehntelangen Besatzungspolitik übernommene Apartheid zu beseitigen. Die „einzige Demokratie“ im Nahen Osten würde nicht mehr nur für die jüdische Bevölkerung, sondern dann auch für die arabische Bevölkerung gelten. Israel wäre nicht mehr das, was es heute ist – eine „traumatische Erfahrung für die Juden“ (U. Avneri), die jedoch nur mit der Zwei-Staaten-Lösung zu umgehen wäre. Und schließlich wären damit auch die Voraussetzungen geschaffen, dass Israel nicht länger als „Fremdkörper“ in einem arabischen Umfeld isoliert um seine Sicherheit fürchtet, sondern sich als gleichberechtigter Staat unter souveränen Gleichen integriert.
Noch allerdings bestehen die PLO und Mahmut Abbas auf der Gründung eines eigenen souveränen Staates auf der Basis der UNO-Resolutionen seit 1947, die auch die saudi-arabische Friedensinitiative von 2002 zur Grundlage hat. Die UNO ist mit ihren Institutionen derzeit die einzige Plattform, auf der die Palästinenser für ihre Rechte werben können – mit mäßigem Erfolg. Sollte allerdings die UNO auch weiterhin, gelähmt durch die USA und die EU-Staaten, an der verzweifelten Lage der Palästinenser nichts ändern können und ihre Ohnmacht mit Geldzahlungen zu kompensieren versuchen, wird sich der Kampf gegen die Apartheid als Intifada oder mit anderen Mitteln verschärfen. Die Hoffnung, die Palästinenser würden resignieren, ihren Widerstand und ihre Zukunft aufgeben, währt schon zu lange als dass Israel und seine Verbündeten darauf noch bauen könnten. Aber auch den Untergang des jüdischen Staates und den Zusammenbruch des zionistischen Systems alsbald vorauszusagen, wäre derzeit vermessen. Allerdings spricht nicht nur mit Henry Siegmanns Rechnung viel dafür, dass beides wahrscheinlich ist.
Quellen und Anmerkungen:
1) Benjamin Netanjahu, in: +972 Magazin, 13.06.2017.
2) Benjamin Netanjahu, in: Independent, 29.08.2017
3) Ad Hoc Political Committee, Summary Records, 45th Meeting, 3 U.N.GOAR, 236.
4) Vgl. z.B. Elihu Lauterpacht, Jerusalem and the Holy-Places, The Anglo-Israel Association London 1968; Stephen M. Schwebel, What Weight to Conquest? 64 American Journal of International Law, 1970, 344; Yehuda Zvi Blum, The Juridical Status of Jerusalem, Jerusalem, 1974.
5) Antonio Cassese, Legal Considerations on the International Status of Jerusalem, in: A. Cassese, The Human Dimension of International Law: Selected Papers of Antonio Cassese, Oxford 2008, Oxford Scholarship Online, March 2012.
6) John Foster Dulles, Department of State, Vol. 30, 1954, S. 329.
7) UN-Generalversammlung Res. 303 (1949).
8) I. Whiteman, Digest of International Law, 594, zit. nach A. Cassese, Legal Considerations, Anm. 36.
9) Vgl. UN-Generalversammlung, Res. 2253 (ES-V) v. 4 Juli 1967; UN-Sicherheitsrat, Res. 242 v. 22. November 1967, UN-Sicherheitsrat, Res. 478 v. 20. August 1980. Gerhard Stuby, The Status of Jerusalem and the Right of Self-determination of the Palestinian People, in: Hans Köchler, (Hrsg.): The Legal Aspects of the Palestine Problem with Special Regard to the Question of Jerusalem. Wien 1981. S. 120-132.
10) UN-Sicherheitsrat-Res. 672 (1990).
11) New York Times, 4. März 1990, S. A22.
12) Vgl. John Quigley, The Legal Status of Jerusalem under International Law, The Turkish Yearbook, Vol. XXIV, S. 11 ff., 16.
13) So die Autoren unter Anm. 4.
14) Vgl. Ilona-Margarita Stettner, Positionen zum rechtlichen Status von Jerusalem, Legal Fact Sheet, Konrad Adenauer Stiftung, http://www.kas.de/palaestinensische-gebiete/de/pages/11509/.
15) EEC Bulletin, 1980, no. 6, para. 1.1 sub-para.8.
16) Uri Davis, „Die Kolonialherren im geographischen Palästina beim Namen genannt“, in: Ilan Pappe, J. Hilal, Zu beiden Seiten der Mauer, 2013, S. 289; Ilan Pappe, Ein Staat in Palästina, in: Pappe/Hilal (Hg.) Zu beiden Seiten der Mauer, 2013, S. 405 ff.; Tony Judt, Israel: The Alternative, in: New York Review of Books, v. 23. 10. 2003.
17) Uri Avneri, Ein Leben für den Frieden. Klartext über Israel und Palästina, Heidelberg, 2003, S. 205 ff.
18) Perry Anderson, 2015, S. 24.
19) Moshe Zuckermann, Sechzig Jahre Israel. Die Genesis einer politischen Krise des Zionismus, Köln 2009, S. 141.
20) Moshe Machover, Israelis und Palästinenser – Konflikt und Lösung, 2013, S. 429 ff., 445.
21) Nachum Goldmann, Pour une solution confédérale, in: Jean Paul Sartre, Claude Lanzmann, (Hg.), Le Conflit israélo-arabe, Paris 1967, S. 691 ff.
22) Isaac Deutscher, Die ungelöste Judenfrage, Berlin, 1977, S. 74.
23) Tom Segev, New York Times, 29.12.2017.
24) A. Levin, Haaretz, 13. 12. 2017.
25) Naphtali Bennet bei einer Veranstaltung der pro-Siedler Nachrichtenseite Arutz Sheva, 24.11.2017.
26) Henry Siegmann, The implications of President Trumps Jerusalem Ploy, in: The National Interest, v. 23. 1. 2018.