Weltliteratur und Birkenwälder
Die Tiefen russischer Literatur können ein Rettungsanker sein in einer Welt, die wieder einmal Krieg und Zerstörung hervorbringt.
Ein fremdes Land zu verstehen, ist eine Aufgabe, an der man auf rationaler Ebene nur scheitern kann. Zu groß sind die kulturellen Barrieren, zu verschieden Sprache und Tradition. Wer es dennoch versuchen will, muss sich auf emotionale Weise einlassen können auf das Fremde. Abseits menschlicher Kontakte bietet wohl nur die Literatur das geeignete Feld für dieses Experiment. Die Autorin fand in russischen Gedichten und der darin zum Ausdruck gebrachten Liebe zu den Menschen emotionalen Halt, der sie in ihrem Leben dauerhaft begleitet. Nachzuempfinden, welchen Schmerz die großen Kriege, die der Westen Russland in den letzten 200 Jahren aufgezwungen hat, angerichtet haben, kann die Basis dafür bilden, nicht blind in neue zu schlittern. Ein Text zur Reihe Russlands Schätze, deren Ziel es ist, die liebenswerten Seiten und kulturellen Perlen des Landes einmal abseits der tagespolitischen Debatten um den Russland-Ukraine-Konflikt zu porträtieren.
Ich denke gern an Russland. An das Land, an seine Menschen und an die Literatur, die mir vieles vom Leben und von der Mentalität dort nahegebracht hat. Wenn der russische Schriftsteller Jewgeni Jewtuschenko (1932 bis 2017) schreibt, dass Gedichte wie Krankenwagen sein sollen, verstehe ich sofort, was er meint. Denn seine Gedichte haben mich einmal, als ich nicht weiterwusste, abgeholt, mir gezeigt, dass ich nicht allein bin.
Wie ein ferner großer Bruder hat er mir damals Vertrauen zum Leben zurückgegeben; mit seiner Art, über das Hoffen zu schreiben, über Begegnungen zwischen Menschen, über die Schönheit russischer Landschaften, aber auch über die Schrecken des Krieges. Seine Liebesgedichte, seine traurige Liebesgeschichte „Der Hühnergott“ — die zum Teil an einem Strand auf der Krim spielt — trösteten mich, ich konnte mich darin wiederfinden.
Aus vielen seiner Texte spricht eine Liebe zu Menschen. Da will jemand sie alle auf einmal umarmen, wohl wissend um den Schmerz und die Trauer, die Menschen einander, vor allem in Kriegen, zufügen.
Auch deshalb gehören seine Gedichte „Meinst du, die Russen wollen Krieg?“ und „Babyn Jar" zu den bekanntesten. Ich habe Jewgeni Jewtuschenko ein Gedicht gewidmet, weil ich so leichter als in Prosa ausdrücken kann, was ihn ausmachte, der selbst vor allem in Gedichten sein Denken, sein Fühlen und seine Überzeugungen vermittelte:
Ambulanz
In memoriam Stéphane Hessel und Jewgeni Jewtuschenko
Im KZ, sagt der alte Mann, haben mich Gedichte
gerettet, beschützt gegen die Kälte, die Enge, den
Durst, gegen Hunger und Angst. Nacht für Nacht,
Goethe und Hölderlin, Baudelaire und Rimbaud,
Keats und Rilke gegen Verzweiflung, gelernt
als Kind, by heart, mit dem Herzen gelernt,
für Helen, die Mutter.
Jewtuschenko, sagt ein anderer. Zwischen
Elektroschocks und Psychopharmaka: Gedichte.
Hab den Verstand behalten, meine Seele und
das bisschen Darüber. Er winkt ab. Eine
Familientragödie, Misstrauen, falsche Sorge,
schon fast vergessen. Aber der Dichter, der
wollte alles Liebe küssen mit einem einzigen Kuss.
Wie Krankenwagen sollten Gedichte sein. Ambulanzen
für die Beschädigten, sagt ein Dritter. Und zugewunken
haben sich Erntearbeiterinnen und Reisende in seinen
Gedichten, als winke das Leben sich selber zu. Den Krieg
hätte er fast nicht überlebt, der Jewtuschenko, sagt jemand,
hat ihn selber gesehen, den großen Russen, in Berlin, die
Bühne des kleinen Theaters fast sprengend, neben dem
Brandauer Klaus Maria. Eine Bombe, 1943 aufs Dach
der Moskauer Schule, falsch montierter Zünder, weit weg
im Feindesland Sabotage, mit Leben erkauft. Der Rektor
hat es den Schülern gezeigt, damals in Moskau. Und
Menschen wie Anna Seghers’ Georg Heisler, sagt er, die
hat es wirklich gegeben. Saboteure auf Leben und Tod.
Aus der Fülle der russischen Dichter, deren Bücher mich beeindruckt, geprägt und getröstet haben, wenn mir das Leben unerträglich erschien, möchte ich Fjodor Michailowitsch Dostojewski (1821 bis 1881) nennen. Sein Buch „Die Brüder Karamasow“ holte mich vor Jahren, wohl vor allem durch die Art, wie es geschrieben ist, aus der Dunkelheit einer depressiven Verstimmung. Ich erinnere mich, damals fast zwei Wochen lang, an jedem Tag hundert Seiten des recht umfangreichen Romans gelesen zu haben.
Die Handlung dreht sich vordergründig um den Mord an dem in allerlei Liebschaften verwickelten 55-jährigen Vater der drei Brüder Karamasow. Vor allem durch die Schilderung der völlig unterschiedlichen Charaktere der Söhne und ihrer Lebensumstände entsteht ein umfassendes Bild der russischen Gesellschaft mit ganz unterschiedlichen Befindlichkeiten und Geistesströmungen. Spannend wie ein Krimi mit psychologisch-philosophischem Tiefgang und, wie gesagt, einer heilsamen Komponente.
Sicherlich hat Dostojewskis unvorstellbar schweres Leben dazu beigetragen, dass er in seinen Werken derartig tiefgründig, vielschichtig und wesentlich vom Menschsein erzählt.
1849 wegen der Teilnahme an der Versammlung einer revolutionären Vereinigung zum Tode verurteilt, wurde er nach einer Scheinhinrichtung zum Militärdienst in Sibirien „begnadigt“. Er litt an Epilepsie und war zeitweise spielsüchtig, was er in seinem Roman „Der Spieler“ autofiktional beschreibt. Erst in seinen letzten Lebensjahren konnte er, anerkannt als Schriftsteller, ohne Geldnot leben.
In seinem Buch „Geschichte der russischen Literatur“ schreibt Reinhard Lauer über Dostojewski: „Das bedeutende literarische Werk beschreibt die politischen, sozialen und spirituellen Verhältnisse zur Zeit des Russischen Kaiserreichs, das sich im 19. Jahrhundert fundamental im Umbruch befand. Dostojewski war ein Seismograf der Konflikte, in die der Mensch mit dem Anbruch der Moderne geriet. Zentraler Gegenstand seiner Werke war die menschliche Seele, deren Regungen, Zwängen und Befreiungen er mit den Mitteln der Literatur nachgespürt hat; Dostojewski gilt als einer der herausragenden Psychologen der Weltliteratur.“ Seine Werke wurden in 170 Sprachen übersetzt.
Wahrscheinlich ist es etwas sehr Persönliches, welche Texte uns erreichen, berühren und bewegen. Aus der Fülle der Autoren und ihrer Bücher, die in meinem Leben dazugehören, möchte ich noch Tschingis Aitmatow (1928 bis 2008) nennen und aus seinem Werk die Erzählungen „Der erste Lehrer“ und „Der Weg des Schnitters“.
Dem in Kirgisien geborenen Aitmatow gelingt es, wie Jewtuschenko, nachempfindbar zu machen, was ein Krieg Menschen antut, was es heißt, wenn ein junger Mann gleich nach der Hochzeit seine geliebte Frau und seine Mutter verlassen muss, um an die Front zu fahren. In „Der Weg des Schnitters“ lässt der Autor eine alte Landarbeiterin vom Leben in einem kleinen Ort in Kirgisien erzählen, in das der 2. Weltkrieg einbricht.
Der Sohn und Ehemann kehrt aus dem Krieg, den Deutschland ab 1941 gegen die Sowjetunion führte, nicht heim. Stille Bilder erzählen davon: eine aus dem Zug geworfene Mütze; Fundamente, auf denen die Häuser der jungen Familien errichtet werden sollten, die nun im Regen zerfallen; Felder, die bestellt werden müssen. Zurück bleiben Frauen, deren Glück für immer zerstört wurde und die nun noch härter für das tägliche Brot arbeiten müssen.
In der Erzählung „Der erste Lehrer“ stehen die 1910 geborene Altynai und der engagierte Lehrer Düischen im Mittelpunkt. In einem Dorf in Kirgisien beginnt der junge Lehrer — gegen den Willen vieler —, die Kinder zu unterrichten. Gleichzeitig setzt er damit die neue Ordnung durch, die Mädchen und Frauen im Gegensatz zur islamischen Stammeskultur Rechte verleiht. Altynai kann lernen und später sogar studieren. Nach einer Wiederbegegnung mit ihrem ehemaligen Lehrer schaut sie als Professorin auf ihre Entwicklung zurück, die ohne den Lehrer, der sie nach einer Zwangsverheiratung befreite, nicht denkbar gewesen wäre.
Menschen, die selbst kein einfaches Schicksal hatten, finden als Schriftsteller eine Sprache dafür, was Leben ausmacht, auch für Irrungen und Wirrungen, für Menschen, die sich in der Unübersichtlichkeit verlaufen, und für andere, die ihren Weg finden.
Es wären noch so viele zu nennen. Vor allem Leo Tolstoi (1821 bis 1910) mit seinem Roman „Krieg und Frieden“, der in vielen Einzelschicksalen den Krieg beschreibt, den Napoleon mit Verbündeten gegen Russland führte. In einem Aufsatz führt Stefan Zweig, der 1942 im Exil in Brasilien freiwillig aus dem Leben schied, die große Wirkung des Romans darauf zurück, dass „die Sinnlosigkeit des Ganzen (des Krieges) sich in jeder Einzelheit spiegelt“. Auch dieser Krieg wurde Russland aufgezwungen.
In einer Literaturgeschichte fand ich vor Jahren einen Hinweis darauf, dass der sowjetische Komponist Sergei Prokofjew auf einen Vorschlag von Erwin Piscator hin in den Vierzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts die Oper „Krieg und Frieden“ komponierte, die 1955 im damaligen Leningrad, heute Sankt Petersburg, uraufgeführt worden ist. 1973 wurde das für seine Architektur berühmte Opernhaus im australischen Sydney mit dieser Oper eingeweiht. Geistesgrößen und Kunstschaffende in Europa und der ganzen Welt inspirierten sich gegenseitig — wenn und wo es politisch möglich war.
Die genannten Schriftsteller und auch alle anderen russischen Autoren gehören mit ihren literarischen Werken zur europäischen Kultur und zur europäischen Familie. Ebenso wie alle russischen Künstler, Maler, Bildhauer, Grafiker und die Musiker vom Komponisten bis zur Sängerin.
Als ich das Wort Leningrad schrieb, fiel mir noch ein Roman ein, den ich zum Lesen empfehlen möchte: „Oleg oder die belagerte Stadt“. Ein Jugendbuch des niederländischen Schriftstellers Jaap ter Haar (1922 bis 1998), das 1966 erschien und mir, mit vielen Anmerkungen für den Unterricht, in der 13. Auflage von 1999 vorliegt. Das Buch bekam viele Preise und wurde als Schullektüre gelesen. Im Mittelpunkt der Handlung steht der 12-jährige Oleg, der mit seiner kranken Mutter, seiner Freundin Nadja und vielen anderen im belagerten Leningrad täglich ums Überleben kämpft.
Sein Vater ist bei dem Versuch, mit dem Lastwagen Lebensmittel über den gefrorenen Lagodasee in die von deutschen Soldaten belagerte Stadt zu bringen, ums Leben gekommen. Hautnah erleben Leserin und Leser die Albträume des Jungen und das Elend von Menschen mit, die im Kriegswinter 1942 verhungern, weil Nazideutschland einen Ausrottungskrieg gegen die Sowjetunion führte; Finnland und Spanien beteiligten sich ebenfalls an dem Kriegsverbrechen. Doch das Wunderbare des auch für Erwachsene gut lesbaren Buches sind überraschende, dem Krieg abgetrotzte menschliche Regungen: Ein deutscher Soldat rettet Oleg und Nadja das Leben, als sie sich auf der Suche nach vergrabenen Kartoffeln in Eis und Schnee des Niemandslands zwischen den Fronten verlaufen haben. Olegs Staunen, wie ein Feind unter Einsatz seines Lebens für Minuten zum Freund werden kann. Etwas in ihm ändert sich.
Wladimir Putin wurde 1952 in Leningrad geboren. Seine Mutter hatte die deutsche Belagerung überlebt, die von September 1941 bis Januar 1944 dauerte und bei der etwa 1,1 Millionen zivile Bewohner der Stadt aufgrund der Blockade ihr Leben verloren — etwa 90 Prozent der Opfer verhungerten. Während der Belagerung starb einer der beiden älteren Brüder Putins an Diphtherie. Dennoch hat der heutige Präsident Russlands, der hervorragend Deutsch spricht, die deutsche Kultur geschätzt und war wie viele seiner Landsleute bereit, Deutschland und den Deutschen die Hand zur Versöhnung zu reichen.
Bis zu dem Tag, an dem Deutschland an der Seite der USA, Großbritanniens und anderer Westmächte Waffen an die Ukraine lieferte, gab es in der Sowjetunion und in Russland die Überzeugung, dass es der Faschismus war, der deutsche Soldaten unter Hitler so grausam und erbarmungslos einen Krieg mit 27 Millionen Toten und verbrannter Erde gegen sie führen ließ.
Das große Russland mit seinen ungeheuren Weiten, Wäldern und (Boden-)Schätzen hat schon immer Begehrlichkeiten geweckt und wurde unter großen Opfern von den Menschen verteidigt, die dort leben und zu ihrem Land ganz selbstverständlich und ohne Pathos stehen. Landschaften mit Birkenwäldern erinnern mich an Russland, weil es dort viele dieser anspruchslosen hellen Bäume gibt. Und mein Eindruck von den Menschen dort ist, dass sie ihr Land auf eine ganz selbstverständliche Art, die mir gleichzeitig existenziell erscheint, lieben. Wie jeder normale Mensch, wollen sie in Frieden leben und weder von Napoleon, wie in Tolstois „Krieg und Frieden“ beschrieben, noch von seinerzeit Hitler-Deutschland zwischen 1941 bis 1945 angegriffen, besetzt und ausgeraubt werden.
Als Teil der Sowjetunion hat das Land seit Ende des 2. Weltkriegs unter den Anfeindungen im Kalten Krieg gelitten. Und lange vor dem Februar 2022 wurde versucht, Russland mit Wirtschaftssanktionen der USA und der EU zu schaden. An seinen Grenzen wurden martialische NATO-Manöver abgehalten, die Nachbarländer massiv aufgerüstet, was im Aufstellen von Raketen in der Ukraine an den direkten Grenzen Russlands gipfeln sollte.
Ich schäme mich dafür, dass Deutschland, nachdem es im vergangenen Jahrhundert in zwei Kriegen mit unaussprechlicher Grausamkeit über Russland hergefallen ist, neues Leid mit Waffenlieferungen für den Stellvertreterkrieg an die Ukraine erzeugt.
Nicht unerwähnt möchte ich eine Begegnung in Moskau lassen. In einer Buchhandlung hatte ich mehr Bücher zum Kauf auf dem Ladentisch angehäuft als in mein Flugzeuggepäck gepasst hätten. Unkompliziert bot die Buchhändlerin an, mir die Bücher per Post zu schicken. Bald nach meiner Heimkehr nach Deutschland erreichte mich das Bücherpaket mit deutschen Übersetzungen russischer Autoren, aber auch mit Romanen von Autorinnen wie Anna Seghers. Wie gut wäre es, weiterhin in Freundschaft mit solchen Menschen leben zu können!
Der voraussichtliche Ablauf der Reihe (weitere können folgen):
(23. Juni 2023) Lilly Gebert: Jenseits von Schuld und Sühne (über Nikolai Gogols „Tote Seelen“ und die Eigenheiten der russischen Literatur
(30. Juni 2023) Michael Meyen: Mit dem Wolf nach Russland (über die sowjetische Kinderserie „Hase und Wolf“)
(7. Juli 2023) Nicolas Riedl: Russischer Tiefgang (über die apokalyptische Science-Fiction-Trilogie „Metro 2033-35“ von Dimitry Glukhovsky)
(14. Juli 2023) Bilbo Calvez: Eine Gemeinschaft in Sibirien (über ihre Zeit in einem sibirischen Dorf, in dem sie Ende vorigen Jahres mit gebrochenem Arm gestrandet ist)
(21. Juli 2023) Kenneth Anders: Die Russen und wir (über seine persönlichen Erfahrungen vom Kontakt mit der russischen Besatzungsmacht in einer Garnisonsstadt der DDR)
(28. Juli 2023) Felix Feistel: Antiautoritäres Russland (über die anarchistische Mentalität der Russen und seine Eindrücke während einer Reise in der Coronazeit)
(11. August 2023) Aaron Richter: Ein Monument der Freundschaft über Modest Mussorgskis „Bilder einer Ausstellung“)
(18. August 2023) Renate Schoof: Weltliteratur und Birkenwälder (über die Gedichte von Jewgeni Jewtuschenko, „Die Brüder Karamasow“ von Fjodor Dostojewski und „Der Weg des Schnitters“ von Tschingis Aitmatow)
(25. August 2023) Hakon von Holst: Versöhnung im Land der Verbannung (über den Baikalsee und die ZDF-Dokuserie „Sternflüstern“)
(8. September 2023) Owe Schattauer: Die harten Neunziger (über die beiden russischen Filme: „Bruder“ von Alexei Balabanow und „Toschka ― Der Punkt“ von Yuri Moroz)
(15. September 2023) Roland Rottenfußer: Der Himmel auf Erden (über russische Spiritualität und Orthodoxie)
(22. September 2023) Wolfgang Bittner: Hinter dem neuen eisernen Vorhang (über seine Vortragsreise durch Russland und die damit verbundenen Erlebnisse)
(29. September 2023) Lea Söhner: Der Feindkomponist (über die Musik und das Leben von Pjotr Iljitsch Tschaikowski)
(6. Oktober 2023) Laurent Stein: Ein unbekanntes Viertel (über das Viertel Sokolniki in Moskau und die Erinnerungen an seine russische Großmutter)