Weiter auf Expansionskurs
Am 70. Geburtstag der NATO schwören die Staats- und Regierungschefs das Bündnis auf Konfrontation mit Russland und China ein.
Am 3./4. Dezember 2019 fand in London ein Treffen der Staatschefs der NATO-Mitgliedsstaaten statt. Anlass war der 70. Geburtstag der NATO. Obwohl das Atlantische Bündnis eigentlich reif für den Ruhestand ist — was den weltweiten Frieden fördern und auch die Klimaprobleme schlagartig reduzieren würde — wurde weitere Aufrüstung vereinbart und China wurde als neuer Feind markiert. Am Rande des Treffens legte die Türkei den NATO-Partnern Großbritannien, Frankreich und Deutschland ihre Pläne einer „Schutzzone“ im Norden Syriens vor, in die Ankara syrische Flüchtlinge abschieben will. Die „Schutzzone“ wurde von türkischen Truppen und einem Bündnis von mit der Türkei verbündeten islamistischen Kampfverbänden erobert, die sich Syrische Nationale Armee nennt. Karin Leukefeld befragte hierzu den Bundestagsabgeordneten Alexander Neu. Er ist Mitglied der Fraktion Die Linke im Deutschen Bundestag und Obmann im Verteidigungsausschuss. Während die Staatschefs und -chefinnen sich bei der britischen Queen zum Gruppenfoto einfanden, demonstrierte Neu mit Tausenden anderen in London gegen das Kriegsbündnis.
Karin Leukefeld: Zum 70. Geburtstag haben die NATO-Staatschefs vor wenigen Tagen in London China als die neue Gefahr im Osten ausgemacht. Wird der Westen von China bedroht?
Alexander Neu: Natürlich nicht. Neben Russland wird nun auch die Volksrepublik zum neu auserkorenen Feind der NATO erklärt. Dem Militärbündnis NATO geht es dabei schlichtweg um den eigenen Machterhalt. Imperialistisches Konkurrenzdenken und die Angst, die ökonomische und ideologische Vormachtstellung an China zu verlieren, treiben die NATO zu immer mehr Aufrüstung und Konfrontation. Die gesamte NATO-Politik ist dabei auf militärische Expansion ausgelegt und das, obwohl sie schon jetzt das mächtigste und am schwersten bewaffnete Militärbündnis der Welt ist.
Die Türkei traf sich am Rande des Gipfels mit Großbritannien, Frankreich und Deutschland, um über die Ansiedlung syrischer Flüchtlinge in einer so genannten „Schutzzone“ im Norden Syriens zu beraten. Was sagt der Verteidigungsausschuss im deutschen Bundestag dazu? Was sagen Sie?
Im Ausschuss wurde das bisher nicht thematisiert. Und meines Wissens auch nicht im Auswärtigen Ausschuss. Wir haben dort zwar über Syrien gesprochen und über die Türkei, aber die Ansiedlung syrischer Flüchtlinge in der so genannten Sicherheitszone war kein Thema.
In der kommenden Sitzungswoche, die nach dem NATO-Gipfel stattfinden wird, werde ich das Thema im Verteidigungssauschuss ansprechen. Es gibt viele Fragen zu der türkischen Initiative: Was bezweckte die Türkei mit dem Treffen, will sie eine finanzielle Beteiligung von Großbritannien, Frankreich und Deutschland an ihren Plänen? Oder will die Türkei politische Unterstützung? So eine Ansiedlung wird ja mit ethnischen Säuberungen einhergehen. Die dort lebende kurdische Bevölkerung könnte durch die Ansiedlung arabischer Bevölkerungselemente weggesäubert werden. Mir ist nicht ganz klar, was Deutschland da sollte. Sollte die Bundesregierung die Türkei auf welche Weise auch immer unterstützen, so würde sie den türkischen Völkerrechtsbruch sowie die Massaker und die ethnischen Säuberungen gegen die Kurden und Kurdinnen und andere Volksgruppen indirekt unterstützen.
Bundeskanzlerin Angela Merkel sagte nach dem Vierer-Treffen in London, weitere Gespräche seien mit der Türkei verabredet worden. Man sei sich einig, dass die UNO bei der Rückkehr syrischer Flüchtlinge in die von der Türkei und Russland kontrollierte Sicherheitszone in Nordsyrien eingebunden werden müsse. UN-Generalsekretär Antonio Guterres hat bereits Istanbul besucht und ein Team des UN-Flüchtlingskommissariats scheint im Gespräch mit der türkischen Regierung den türkischen Plan zur Rücksiedlung der syrischen Flüchtlinge in eine angestrebte „Schutzzone“ zu prüfen …
Wenn das der Fall sein sollte, würde auf diese Weise der türkische Angriffskrieg auf Nordsyrien moralisch legitimiert werden. Der Angriff ist und bleibt ein Völkerrechtsbruch, damit würde man der Aktion der Türkei ja in Gänze entsprechen. Wäre das der Fall, wäre das verheerend. Mit so einem Krieg die Ansiedlung von Flüchtlingen zu legitimieren, wäre ein schlechtes Zeichen an alle Staaten der Welt. Dann könnte man eine Minderheit vertreiben, um andere Bevölkerungselemente dort unterzubringen. Sollte das in der Tat ein Anliegen der Vereinten Nationen sein, wäre das verheerend.
Verteidigungsministerin Kramp-Karrenbauer hatte schon Ende Oktober über eine Schutzzone und einen Einsatz europäischer Truppen im Norden Syriens gesprochen. Könnte es sein, dass man so eine Schutzzone letztlich sogar mit der Rücksiedlung syrischer Flüchtlinge rechtfertigen will?
Ich habe den Eindruck, da fügt sich etwas zusammen. Ich frage mich auch: Was ist die Rolle Russlands dabei? Ich kann mir nicht vorstellen, dass die russische Regierung diese Entwicklung gutheißt, dass die türkische Regierung wieder eigenhändig agiert und versucht, Europa und Russland gegeneinander auszuspielen. So sieht es für mich aus. Was den Vorschlag von Frau Kramp-Karrenbauer betrifft, hält sie nach wie vor daran fest. Offensichtlich will man zwei Dinge damit erreichen: Einmal will man verhindern, dass mehr Flüchtlinge nach Europa kommen. Und zweitens will man auf die Art und Weise offenbar mehr Einfluss in Syrien gewinnen.
Tatsache ist, dass der Westen nach wie vor dort keine Aktien hat. Und ich sage ausdrücklich, das ist auch gut so. Aber damit gibt sich der Westen nicht zufrieden. Das wurde auch deutlich an den Äußerungen der Bundesregierung in der Person von Außenminister Maas oder auch in der Person von Frau Kramp-Karrenbauer. Nach deren Äußerungen ist es nicht akzeptabel, dass bei den Gestaltungsfragen in der Region der Westen außen vor ist. Ein imperialer Anspruch, die deutschen Eliten können es einfach nicht lassen, sich in andere souveräne Staaten einzumischen.
Der ehemalige Generalinspekteur der Bundeswehr und Vorsitzender des NATO-Militärausschusses, Harald Kujat, plädierte kürzlich für eine Schnelle Eingreiftruppe der NATO in einer Größenordnung von etwa 20.000 Mann im Norden Syriens, die so eine „Sicherheitszone“ absichern könnte. Gibt es solche Planspiele im Verteidigungsministerium oder im Ausschuss? Was sagt die Linkspartei?
Mir ist von solchen Planspielen nichts bekannt und Die Linke lehnt das natürlich ab. Dieser Vorschlag von General Kujat hat mich sehr gewundert. Gerade von dem ehemaligen Generalinspekteur Kujat hatte ich was anderes erwartet. Zumal vor dem Hintergrund, dass er vor einigen Jahren noch dem Vorsitzenden des Auswärtigen Ausschusses, Norbert Röttgen widersprach, als es um eine „Flugverbotszone“ über Syrien ging.
Schon in dem Interview des Deutschlandfunks Ende Oktober hat Kujat gerade Russland als Begründung dafür genannt. Er sagte, Russland sei nicht in der Lage, die Region wirklich zu sichern, weil Russland selber Interessen dort hätte. Die Europäer sollten sich in Syrien zwischen den USA und Russland stärker behaupten. Er plädiert im Norden Syriens für eine „Schutzzone“ unter einer europäischen NATO-Streitmacht. Was sagen Sie dazu?
Das sehe ich gänzlich anders. Ich glaube, dass Russland in der Lage ist als Ordnungs- und Schutzmacht in der Region zu agieren. Ich sehe nicht, dass die Europäische Union willens und in der Lage ist, die syrischen Kurden zu schützen. Russland wird Probleme haben, Syrien wirtschaftlich wiederaufzubauen, aber als Schutzmacht kann Russland agieren und tut es auch schon. Deutschland kann und sollte auf Russland einwirken, dass die russische Präsenz auch uneingeschränkt die kurdische Bevölkerung vor der türkischen Soldateska schützen muss.
Russland versucht, zwischen Damaskus und Ankara eine Vereinbarung über die Sicherung der gemeinsamen Grenze gemäß dem Adana Abkommen aus dem Jahr 1998 zu vermitteln. Die Nachbarstaaten Türkei und Syrien wieder ins Gespräch zu bringen, scheint eine stabilisierende Maßnahme zu sein und könnte weitere Kämpfe verhindern. Würde eine europäische NATO-Streitmacht in der Region das fördern oder verhindern?
Eine solche Initiative von Russland würde durch die Präsenz einer europäischen Streitmacht oder einer NATO-Mission verhindert. Die westlichen Staaten haben unter dem Schirm der NATO-Allianz völlig andere Interessen in der Region. Sie haben ja viele, viele Jahre in der Region destabilisierend gewirkt, indem sie Islamisten und die übelsten Gotteskrieger unterstützt haben. Nach wie vor ist die Agenda ein „Regime Change“ in Syrien. Obwohl man es militärisch mit Unterstützung der Islamisten nicht geschafft hat, versucht man es jetzt immer noch durch die Aufrechterhaltung der Sanktionen. Und dadurch, dass man das Gespräch (mit Syrien, kl) vermeidet.
Man fordert, möglichst auf UN-Ebene, ein Mitspracherecht bei der Gestaltung der politischen Zukunft Syriens. Man hat nicht aufgegeben, die Regierung Assad und die Strukturen absetzen und eine pro-westliche Regierung einsetzen zu wollen. Das ist nach wie vor auf der Agenda der westlichen Pläne. Niemand anderes — und das ohne jegliche Einmischung von außen — als die syrische Bevölkerung hat über die politische Ausrichtung und personelle Zusammensetzung der Regierung Syriens zu befinden. Dieses Recht nennt man Souveränität und Selbstbestimmung.
Zu einer Stabilisierung Syriens insgesamt würde natürlich die Rückkehr der Flüchtlinge beitragen. Rückkehr aus Libanon, Jordanien und der Türkei findet tatsächlich auch statt. Doch internationale Unterstützung — beispielsweise durch die UNO — gibt es dafür nicht. Gerade hat das Auswärtige Amt einen entsprechend negativen Bericht zur Lage in Syrien vorgelegt. Wird der Druck der Türkei, syrische Flüchtlinge in den Norden Syriens abschieben zu wollen, von EU und NATO benutzt, um eine europäische Streitmacht dort zu stationieren?
Wenn man jetzt Flüchtlinge aus der Türkei mit finanziellen Anreizen auffordert, nach Syrien zurückzugehen, dann gehen natürlich die Kräfte, die gegen die Regierung Assad agiert haben. Damit kann man einen Gegenpol zur Regierung in Damaskus schaffen und ein eigenes Einflussgebiet. Auf Dauer könnte in dem Gebiet eine Enklave entstehen wie seinerzeit im Nordirak.
Dort gab es ja über mehr als eine Dekade eine Ausnahmesituation. Die Kurden im Nordirak konnten sich unter dem Schutz westlicher Kampfflugzeuge frei bewegen und die irakische Regierung unter Druck setzen. So etwas könnte jetzt auch in Nordsyrien geschehen. Wenn dort Syrer angesiedelt werden, die gegen die Regierung Assad agieren, könnten sie auf Dauer eine Art Dorn in der Staatlichkeit Syriens darstellen.
Was die Rückkehr von Flüchtlingen allgemein betrifft: Ja, die Rückkehrer könnten Syrien auch wieder stabilisieren. Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass die Regierung in Damaskus in der Lage ist, die Rückkehr der Flüchtlinge finanziell und materiell allein zu tragen. Die Infrastruktur wieder aufzubauen ist teuer und Syrien ist wirtschaftlich geschwächt, nicht zuletzt aufgrund der einseitigen wirtschaftlichen Strafmaßnahmen der Europäischen Union und der USA.
Syrien hat die UNO wiederholt gebeten, das Land bei der Rückkehr von Flüchtlingen zu unterstützen, die aus dem Libanon oder aus Jordanien kommen. Halten Sie das für sinnvoll?
Die Frage ist, wie so eine Unterstützung aussieht. Was ich mittlerweile mitbekommen habe, ist, dass die UNO gerade in dieser Frage die Zusammenarbeit mit dem syrischen Staat verweigert. Auf Grund von Druck einiger Mitglieder des UN-Sicherheitsrates, besonders von den Vereinigten Staaten. Ich denke, es ist in erster Linie eine innerstaatliche Angelegenheit. Da sollte sich Syrien genau überlegen, welche Akteure man einlädt, um die Situation in Syrien zu stabilisieren und wiederaufzubauen.
Könnte die Bundesregierung ein solcher Akteur sein?
Daran habe ich meine Zweifel. Die Bundesregierung ist neben Großbritannien, Frankreich und den USA eine der führenden Kräfte und Akteure gewesen, die einen „Regime Change“ gegen die Regierung Assad vorangetrieben haben. Dabei haben sie skrupellos auf die Islamisten gesetzt, bis heute übrigens.
Vielen Dank für das Gespräch!