Weiche Morde

Auch im Angesicht des russischen Angriffskriegs sollte niemand die brutalen Angriffskriege der NATO schönreden.

Ist Putin ein harter Hund, und sind die Hegemonialbestrebungen des Westens demgegenüber nur „Soft Power“? Waren die USA-geführten Kriege demnach nur rein virtueller, höchstens ökonomischer Natur, und müssten die Menschen in Serbien, Libyen, dem Irak oder Afghanistan nicht eigentlich ganz froh sein, derart mit Samthandschuhen angefasst worden zu sein? Diesen Eindruck könnte man jedenfalls gewinnen, wenn man bestimmten „Linken“ zuhört. In der Absicht, die Macht der Westallianz zu relativieren und auf das gewachsene Selbstbewusstsein Russlands hinzuweisen, neigen sie dazu, auch NATO-Verbrechen zu bagatellisieren. Die USA sind nicht der Nabel der Welt, aber die Spitze des westlichen Imperialismus und auch mitentscheidend für das Schicksal der Ukraine. Auf der Seite RosaLux hat ein „postsowjetischer Linker“ einige Thesen zur Invasion der russischen Truppen in der Ukraine veröffentlicht (1). Der Autor widerspricht.

Lieber Volodymir Artiukh,

auf der Onlineseite von RosaLux vom 7. März 2022 stellst Du Dich als „postsowjetischen Linken“ vor und forderst die westlichen Marxisten auf, ihre Sicht auf die Welt mit den USA als dominantem Gestalter des westlichen Imperialismus und seiner globalen Unterdrückung aufzugeben oder zurückzustellen und stattdessen zu erkennen, dass Russland längst seine Handlungsmacht zurückgewonnen hat und fähig und willens ist, seine Umgebung nach eigenem Willen zu gestalten.

Russland bediene sich dabei „anderer Methoden als die USA, denn es stützt sich vor allem auf rohe Gewalt, anstatt unter Einbeziehung von ,soft power‘ und wirtschaftlicher Macht ein hegemoniales Projekt zu verfolgen“. Was die „westliche Linke über den im letzten Jahr eskalierenden Konflikt zwischen den USA, Russland und der Ukraine zu sagen hatte, lag grotesk daneben und war viel weniger zutreffend als“ das, was die „bürgerlichen Medien“ voraussagten.

Sie unterscheiden, lieber Friedensfreund Artiukh, in einen ,soft‘, einen weichen Imperialismus der USA, und in einen rohen, barbarischen Imperialismus Russlands. Ich erlaube mir als jemand, der als Reporter in Santiago de Chile, in Vietnam, auf Kuba und in Serbien war, das als eine groteske Fehleinschätzung zurückzuweisen.

In Chile haben die Luftwaffe der USA und die rührige CIA-Arbeit vor Ort dafür gesorgt, dass die Allende-Regierung weggeputscht wurde. Tausende aktive Demokraten wurden im Fußballstadion Chiles zusammengetrieben und ermordet. Der Angriffskrieg gegen Vietnam, der Nato-Angriff auf Bosnien-Herzegowina — das war soft power? Das Zusammenbomben Libyens, weiche Überzeugungsarbeit? Der Angriff gegen den Irak? Die Bombardierung des Iran? Malen Sie sich keinen schönen, weichen westlichen Imperialismus — bis in die jüngste Zeit hat dieser bewiesen, dass er ohne Skrupel die große Tötungsmaschine anwirft, wenn Völker sich ihm in den Weg stellen.

Mögen die Friedenskräfte in Ihrem Land, in Russland und überall auf der Welt dafür sorgen, dass die USA dies nicht bei Ihnen zu Hause erneut unter Beweis stellen.

Worin haben sich denn die westlichen Linken in der Einschätzung der Lage rund um die Ukraine getäuscht? Es war richtig, dass sie sich eingesetzt haben für eine friedliche, politische Lösung des Konflikts. Dies wird doch nicht deshalb falsch, weil Russland den schändlichen Angriffskrieg einer politischen Lösung vorzog!

Worin sich viele Linke täuschten, war die Haltung, das systematische Lügen der Putin-Regierung. Putin, politischer Führer eines kleptokratisch-kapitalistischen Systems, setzt seine Armee ein, um den ständigen Schwund der Macht Russlands aufzuhalten und die Kräfteverteilung zu Russlands Gunsten zu verändern, am liebsten zurück zur Zeit von 1991, der Implosion der Sowjetunion.

Vom russischen Angriff war nicht nur die westliche Linke, sondern wohl auch die CIA überrascht. Jedenfalls muss der Angriff der russischen Truppen der CIA gut gefallen haben. Denn der russische Angriff auf die Ukraine hat im geopolitischen Ergebnis die USA und den gesamten westlichen Imperialismus gestärkt.

  1. Der Westen war zusehends zerstritten — der Putin-Krieg hat ihn wieder zusammengeführt.
  2. Deutschland hat sich seit dem Beschluss der Nato 2014, dass die Mitgliedsländer 2 Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts für Rüstung ausgeben, mit immer neuen Wendungen um diesen Beschluss gedrückt. Nun wurde er ratzfatz realisiert, die 2 Prozent sogar noch weit überboten.
  3. Deutschland hatte sein Nord-Stream-2-Projekt bis vor wenigen Wochen zielstrebig angesteuert — 55 Prozent des Erdgasbedarfs der BRD kommen aus Russland. Nun ist das Projekt gekippt, es übernehmen die US-Firmen mit Flüssiggas. Deutschland wird — auch — in der Energieversorgung abhängig von den USA.
  4. Mit dem Beginn des Krieges stiegen die Aktien zweier Kapitalgruppen: der Energieversorger und der Rüstungskonzerne. Diese sind neben dem Finanzsystem die zwei Hauptgruppen des US-Kapitals. Für diesen wichtigsten Kapitalteil ist der Ukrainekrieg wie ein warmer Regen. Es sprießen die Kurse und Profite!

Wie soll es weitergehen, in welchem Rahmen können Maßnahmen der Lösung festgelegt werden?

Klar ist, dass die Vermittler keiner der beiden Parteien direkt zuzurechnen sind. Ideal wäre eine Teilnahme Chinas, das wahrscheinlich als einzige Macht der Erde den nötigen Druck auf Russland ausüben könnte, das sich einer fast geschlossenen Front des Westens gegenübersieht. Zunächst wird es darum gehen, alle Kampfhandlungen einzustellen und den Waffenstillstand zu kontrollieren durch die Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE), die aus ihrer jetzigen Passivität geholt und zu einer wirklichen Agentur der im Namen verkündeten Ziele ausgebaut werden muss. Dann stehen die hoch komplizierten Fragen an:

  1. Die russischen Truppen haben das Land zu verlassen, die ukrainische Armee wird auf ein Friedensmaß reduziert. Die Flüchtlinge aus der Ukraine können wieder zurückkehren in ihre alte Heimat. Alle drei Komplexe — Abzug der russischen Truppen; Demilitarisierung der ukrainischen Armee; Rückkehr der Flüchtlinge — werden von der KSZE kontrolliert und auch nach Möglichkeit organisiert.
  2. Die Frage der Einheit der Ukraine. Im Osten des Landes leben nach Angaben Russlands vier Millionen Russen. Sie zu schützen, war das vorgeschobene Argument für den russischen Angriff. Eine genauso verlogene Schutzbehauptung wie beim Eingreifen der USA und der Nato 2011 gegen Libyen mit der Parole „Responsibility to Protect“ — Verantwortung zum Schutz. Ob die beiden Donbass-Republiken autonom bleiben oder zur Ukraine gehören, soll in Volksabstimmungen geklärt werden, von den UN überwacht. Die Ukraine selbst wird weder Mitglied der Nato noch der EU. Sie verpflichtet sich zur Neutralität. Angestrebt wird ein europäisches Sicherheitssystem, das auch die Fragen der Waffen-, insbesondere der Atomwaffenkontrolle miteinschließt.
  3. Die Entwicklung der letzten Monate macht den Riss deutlich, der sich zwischen USA-Westeuropa und der Russland-China-Allianz auftut. Diese globale Gegenüberstellung hat auch eine pazifische Komponente. Dort steht das Militärbündnis AUKUS (Australien, England, USA) gegen China. Die USA bedrängen Kanada und Indien, AUKUS beizutreten. Der Westen sitzt heute sowohl wirtschaftlich wie militärisch — noch — am längeren Hebel. Aus Angst vor einem nuklearen Inferno versuchen beide Seiten, militärische Konflikte regional zu begrenzen. Es wächst das Macht-Potenzial des „Ostens“; im Gleichschritt damit auch die Gefahr lokaler Konflikte, die schnell überregional werden können. Es wäre dringend geboten, mit einem konkreten Programm der Friedenssicherung in Europa anzufangen, ausgehend von der politischen Beilegung des Ukraine-Konflikts.

Lieber Friedensfreund in Kiew oder sonstwo in der gepeinigten Ukraine, ich wünsche Dir viel Glück in Deiner gefährlichen Umgebung — bleib am Leben, und alle anderen Ukrainerinnen und Ukrainer auch.

Und auch kein Russe möge mehr sterben in diesem wahnsinnigen Bombenhagel. Wir brauchen einander beim Aufbau einer friedlichen, nachhaltigen und für alle reichlichen Welt,

Dein Conrad Schuhler

PS. Bleibst Du im Ernst bei Deinem Loblied auf die westlichen Medien, wo deren mächtigster Konzernherr in Deutschland, der Springer-Chef Döpfner, eben forderte, die Nato gegen Russland einzusetzen, also keine Rücksicht zu nehmen auf die Zweitschlagsmöglichkeit der Russen, ihre Atomwaffen auch nach einem atomaren Angriff noch einsetzen zu können? Ein Atomkrieg mitten in Europa? Über Nuancen und Differenzierungen brauchten wir dann nicht mehr zu reden, könnten wir gar nicht mehr.


Quellen und Anmerkungen:

(1) https://www.rosalux.de/news/id/46080/die-usa-sind-nicht-der-nabel-der-welt