Wegmachen, bitte!

Die Jusos wollen Abtreibungen bis zum neunten Schwangerschaftsmonat legalisieren.

Auf einem Kongress der Jusos wurde Anfang Dezember gefordert, Schwangerschaftsabbrüche bis kurz vor der Geburt zuzulassen. Das ist nicht nur von Verachtung gegenüber dem vollständig entwickelten Lebewesen geprägt, sondern begünstigt auch eine mögliche Ausweitung der Arbeitgeberrechte. Es ist ein Placebo, das konsequent vermeidet, die wahren Zwänge eines neoliberalen Systems anzugehen. Was mit gescheiterten Spätabtreibungen, also Kindern, die sich weigern zu sterben, passieren soll, ist unklar. Möglich wäre eine Aufzucht im Brutkasten — und dann…? Was sagt das über die Empathiefähigkeit einer Gesellschaft aus?

Die SPD ist tot. Fast tot zumindest, könnte man meinen, wenn man sich die Umfragewerte der Partei ansieht, die manch sozialdemokratisches Urgestein noch immer — hinter vorgehaltener Hand oder vielleicht auch nur so im Spaß — als „Volkspartei“ bezeichnet. 15 Prozent laut aktueller Forsa-Umfrage (1) erntet sie dafür, dass sie in den letzten beiden Jahrzehnten fest im Zement des neoliberalen Blocks verwachsen ist. Der einzige Strohhalm, an den sie sich wie ein Ertrinkender noch zu klammern scheint, ist die öffentliche Aufmerksamkeit. Wenigstens diese pflegt sie; wie auch kurz vor Weihnachten, als die SPD-Jugendorganisation forderte, Abtreibungen bis zum 9. Monat der Schwangerschaft zu legalisieren.

Mit der geforderten ersatzlosen Streichung der Paragrafen 218 und 219 im Strafgesetzbuch würde nicht nur die Werbung für Schwangerschaftsabbrüche legalisiert, sondern auch die Abtreibung über die Dauer der gesamten Schwangerschaft. Das bedeutet: Bis zum Tag vor der Geburt. Angenommen wurde dieser Beschluss mit großer Mehrheit auf dem Bundeskongress der Jusos Anfang Dezember in Düsseldorf. Insbesondere anhand der Worte der jungen Delegierten Sabrina Simmons wird klar, dass unter dem Deckmantel der Frauenrechte zumindest bei einigen Jusos eine tiefe Verachtung für ungeborenes Leben steckt:

„Wir müssen für etwas einstehen, für die Lebenden, für die Frauen und nicht für irgendwelche Ungeborenen“ (2).

Für sie scheint es eine Selbstverständlichkeit zu sein, ungeborenes Leben nicht zu den Lebenden zu zählen. Die Bezeichnung „irgendwelche Ungeborenen“ zeigt, was für ein entfremdetes Verhältnis man zu einem vollständig entwickelten Fötus haben kann. Eigentlich könnte man meinen, dass es sich bei Abtreibungen in einem so fortgeschrittenen Stadium der Schwangerschaft um eine wenig abstrakte Angelegenheit handelt — deutlich weniger abstrakt als beispielsweise der Krieg in Syrien, dessen Ausmaße man sich hier im sicheren Westen nur schwer vorstellen kann.

Doch sonderlich viel Empathie scheinen die Jusos nicht zu haben, wenn sich die Mehrheit des Kongresses für die Angebote von Frau Simmons entschied, deren Rede nebenbei auch noch eindeutig falsche „Tatsachen“ enthielt. In Bezug auf ihre „irgendwelchen Ungeborenen“ führte sie aus: „ … die haben vorher einfach keine Rechte“. Nein, das stimmt so nicht. In Artikel 1, Absatz 1 Grundgesetz steht: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ und nicht: Die Würde des geborenen Menschen ist unantastbar. Weiterhin führte das Verfassungsgericht aus, dass das ungeborene Leben als eigenständiges Rechtsgut unter dem Schutz der Verfassung steht (3). Nachgelegt wird von Frau Simmons mit den Worten: „Das Menschenrecht gilt zuerst für die Frau und dann für alles andere“. Das hatte ich anders in Erinnerung …

Gewissensentscheidung oder Rationalität?

Was sie vergisst, uns zu sagen: Die Organe und Körperteile von irgendwelchen Ungeborenen sind im neunten Schwangerschaftsmonat bereits vollständig entwickelt. Ebenso wie das Schmerzempfinden des Kindes, das mittlerweile meist mit dem Kopf nach unten im Becken der Frau liegt. Dieser müsste bei einer späten Abtreibung folgerichtig als erstes entfernt, zerstochen oder abgesaugt werden. Das Kind ist auf demselben Entwicklungsstand wie ein Neugeborenes (4). Hier kein Mitgefühl zu entwickeln, deutet auf eine besonders drastische Abspaltung der eigenen kindlichen Anteile hin.

Abtreibungen sind nach aktuellem Recht straffrei während der ersten 12 Wochen der Schwangerschaft. In der Regel bemerkt die Mutter ihre Schwangerschaft in dieser Zeit und kann — insofern sie das wünscht — einen Schwangerschaftsabbruch durchführen. Das Problem, das Befürworter des Juso-Antrages sehen, beschreibt die stellvertretende Juso-Vorsitzende Katharina Andres gegenüber der Welt: Für Frauen sei es mittlerweile sehr schwer und manchmal gar nicht möglich, eine Abtreibung durchzuführen. Als Beispiele führt sie an, dass es in Münster nur noch zwei und südlich von München nur noch einen Gynäkologen gäbe, der diese „Leistung“ durchführe. Einerseits hat sie damit durchaus Recht.

Viele Gynäkologen und Frauenkliniken führen tatsächlich keine Abtreibungen mehr durch. Was allerdings der Antrag zur Fristverlängerung daran ändern soll, ist nicht ersichtlich.

Ärzte, die sich schon heute dazu entscheiden, diesen Eingriff nicht anzubieten, werden daran sehr wahrscheinlich nichts ändern, nur weil sie es theoretisch bis zum Ende der Schwangerschaft dürften.

Andererseits muss zur Kenntnis genommen werden, dass es in Deutschland trotz dieser Tatsachen eine recht hohe Zahl von Schwangerschaftsabbrüchen gibt. Im Jahr 2017 waren es 101.000, was in Bezug auf die Geburtenzahl von 785.000 lebend geborenen Kindern relativ hoch erscheint (5, 6).

Die Kompromisslösung des Paragrafen 218 ist hart erkämpft worden und berechtigt, denn es gibt Situationen, in denen Frauen keinen anderen Ausweg sehen, als ihre Schwangerschaft abzubrechen — das ist möglich und rechtlich absolut legitim. Zu diesen Beweggründen gehören neben Vergewaltigungen oder medizinischen Indikationen auch finanzielle Probleme. Dabei stellen sich viele Mütter die Frage, was für ein Leben sie ihrem Kind bieten können. Ökonomische Gründe sind hier oft ausschlaggebend.

Mittlerweile ist weitgehend bekannt, dass Kinder in Deutschland als Armutsrisiko gelten, von dem insbesondere alleinerziehende Mütter betroffen sind. 42 Prozent von ihnen sind laut konservativen Studien der Bertelsmann-Stiftung akut von Armut bedroht. Sich ohne berufstätigen Partner für ein Kind zu entscheiden, ist in vielen Fällen der Einstieg in die wirtschaftliche Geiselhaft — und das unabhängig von der Berufstätigkeit der Mutter (7). Die Abtreibung eines ungewollten Kindes scheint für junge Frauen oft der einzige Weg zu sein, der drohenden Armutsfalle zu entgehen.

Mater Öconomicus

Und was ist diesbezüglich die logische Schlussfolgerung? Wir verbessern die Bedingungen für Mütter und Familien speziell im unteren Einkommensbereich? Wir stärken die Rechte von alleinerziehenden Müttern? Wir setzen die Wiederherstellung des Sozialstaates in Gang, so dass nur noch die Mütter abtreiben müssen, die das wirklich wollen und nicht auch diejenigen, die ihre wirtschaftliche Existenz durch ein Kind gefährdet sehen? Falsch!

Die Jusos versuchen, den Prozess des Schwangerschaftsabbruchs zu vereinfachen, damit sich Frauen leichter wieder dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stellen können. Hier kommen wir auch schon zur nächsten, klammheimlich in dieses Vorhaben eingebauten Perfidie.

Eine abhängig beschäftigte, werdende Mutter hat gegenüber ihrem Arbeitgeber gewisse Rechte. Es gilt beispielsweise ab Beginn der Schwangerschaft Kündigungsschutz, selbst wenn der Arbeitgeber zur Zeit der Kündigung noch nichts von der Schwangerschaft weiß. Die Mutter kann gewisse eventuell im Aufgabenbereich enthaltene Tätigkeiten nicht mehr ausführen und geht spätestens sechs Wochen vor der Geburt in Mutterschutz. Kurzum: Eine schwangere Angestellte ist für den kapitalistischen Arbeitgeber nichts weiter als eine Belastung (8).

Es sei denn, sie bricht die Schwangerschaft ab. Erfährt der Arbeitgeber erst nach der zwölften Woche davon, dass die abhängig Beschäftigte ein Kind erwartet, ist immerhin nach aktueller Gesetzeslage dieser Zug abgefahren. Ein Glück für den Arbeitgeber, dass es fortschrittliche Jugendorganisationen wie die der SPD gibt, die sich für Frauenrechte und Gleichberechtigung einsetzen. Ist eine Abtreibung erst einmal zeitlich unbegrenzt legalisiert, kann am Arbeitsplatz subtil oder auch eindeutig Druck ausgeübt werden.

Zwar dürfte die Frau sicherlich nicht zum Abbruch gedrängt werden. Aber durch wiederholtes Anführen von Negativ-Szenarien ist gezielte Manipulation zum eigenen Interesse genauso möglich. Schließlich kann man der Frau ja nicht versprechen, dass sie ihren Job auch behalten darf, wenn das Kind erst einmal auf der Welt ist und überhaupt passt das ja so gar nicht in die Unternehmensplanung.

„Wenn das Kind nicht sterben will“

Eine Ausführung zeigt besonders, wie undurchdacht das Vorhaben ist. Eine Vorrednerin von Sabrina Simmons führte auf dem Juso-Kongress aus:

„Und was ihr euch vielleicht auch vorstellen könnt: Wenn das Kind, was eigentlich abgetrieben werden sollte, auf dem OP-Tisch nicht mehr sterben will (…), anfängt, auf dem OP zu stöhnen, sich zu bewegen…“ (2).

Ja, genau? Was passiert dann? Sterben lassen darf der Arzt das Kind nach der 24. Schwangerschaftswoche nicht mehr (9). Und was dann? Wird das Kind dann ohne Eltern, nachdem es aus dem Bauch der Mutter gerissen wurde, einfach in einen Brutkasten gelegt? Und verbringt es dann dort die bis zu 16 restlichen Wochen, um dann in Pflegefamilien oder Heime ausgelagert zu werden?

Heutzutage ist weitgehend bekannt, dass bei einer frühen Trennung des Kindes von der Mutter Bindungstraumata die Folge sind. Wenn selbst ein Kaiserschnitt schon eine entfremdete und für manche Frauen traumatisierende Geburt darstellt, zu was für Menschen sollen sich diese Babys dann entwickeln, wenn sie schon kurz nach der Geburt einen existenziellen Mangel an Liebe und Geborgenheit erfahren?

Bezüglich Paragraf 219 a im Strafgesetzbuch, der die Werbung für Schwangerschaftsabbrüche verbietet, wurde mittlerweile eine Lösung gefunden, die immerhin Information erlaubt, doch eine Entscheidung bezüglich Paragraf 218 steht noch aus.

Der gesellschaftliche Aufschrei zum Vorschlag der Jusos kam bis jetzt nur von rechts. Es scheint, als hätten große Teile der humanistischen Linken Angst, mit dem rückschrittlichen Familienbild der AfD gleichgesetzt und beschuldigt zu werden, eine Form der Selbstsabotage zu betreiben. Aber das tun sie bereits, indem sie es unterlassen, die kapitalistischen Hintergründe zu benennen und Empathie zu kultivieren gegenüber verzweifelten Müttern und deren ungeborenen Kindern.

Die Forderung nach einer kompletten Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen geht lediglich davon aus, dass es Frauen ein natürliches und alltägliches Bedürfnis wäre, ihre Föten abzutreiben, und ignoriert die gesellschaftlichen Problematiken dahinter.

Bessere Bedingungen für Kinder und Eltern — gerade in sozial schwierigen Situationen — sollten das Ziel sein, nicht eine marktschreierische, unausgegorene Fristenverlängerung.


Redaktionelle Anmerkung:
Zuletzt wurde in einem Bericht des Recherchezentrums Correctiv die Aussage getätigt, dass die Jusos „keine Regelung für Schwangerschaftsabbrüche bis zum neunten Monat beschlossen“ hätten. Correctiv gründet seine Behauptungen auf die nachträglichen Antworten einzelner Juso-Mitglieder, inklusive eines Pressesprechers und des Vorsitzenden Kevin Kühnert, denen die Frage gestellt wurde, ob die Jusos „eine Regelung zur Abtreibung bis zum neunten Schwangerschaftsmonat“ beschlossen haben. Selbstverständlich fiel die Antwort der offiziellen Vertreter der SPD-Jugendorganisation verneinend aus.

*Das ändert jedoch nichts an der Tatsache, dass der Gesetzesentwurf der Jusos den StGB-Paragrafen 218a streichen soll, welcher die bisher rechtlich gültige Drei-Monats-Frist für einen Schwangerschaftsabbruch festlegt. Dabei wurde vonseiten der Jusos kein alternativer Fristvorschlag im Gesetzesentwurf festgehalten.

Die in diesem Artikel getroffene Aussage, dass der Gesetzesentwurf der Jusos zur Legalisierung eines Schwangerschaftsabbruchs bis zum neunten Monat führt, ist somit korrekt.

Dass kein Vorschlag für eine alternative Frist unterbreitet wurde, bezeichnete Kühnert nebenbei selbst als „naiv“. „‚Raum für eine neue Fristenlösung‘“ könne eine von den Jusos geforderte Neufassung des Schwangerschaftskonfliktgesetzes bieten, so ein Juso-Sprecher auf Anfrage von Correctiv im Nachhinein.

Wir empfehlen zur weiterführenden Recherche die folgenden Quellen:
(A) https://www.epochtimes.de/politik/deutschland/jusos-wollen-abtreibungen-bis-zur-geburt-legalisieren-a2731444.html
(B) https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/99562/Jusos-wollen-Legalisierung-von-Schwangerschaftsabbruechen
(C) https://www1.wdr.de/nachrichten/rheinland/jusos-bundeskongress-schwangerschaftsabbruch-legalisierung-100.html
(D) Die Bundestagesdebatte zum Thema: https://www.youtube.com/?gl=DE&hl=de


Artikelquellen und Anmerkungen:

(1) https://www.wahlrecht.de/umfragen/
(2) https://www.youtube.com/watch?v=lkPyhcthShk&t=2s
(3) http://www.bpb.de/politik/hintergrund-aktuell/201776/1975-streit-um-straffreie-abtreibung
(4) https://de.zenit.org/articles/neue-studie-belegt-foten-empfinden-schmerz/
(5) https://www.destatis.de/DE/ZahlenFakten/GesellschaftStaat/Gesundheit/Schwangerschaftsabbrueche/Schwangerschaftsabbrueche.html
(6) https://www.destatis.de/DE/ZahlenFakten/GesellschaftStaat/Bevoelkerung/Geburten/Geburten.html
(7) https://www.bertelsmann-stiftung.de/de/unsere-projekte/familie-und-bildung-politik-vom-kind-aus-denken/projektnachrichten/alleinerziehende-leben-fuenfmal-haeufiger-in-armut-als-paarhaushalte/
(8) https://www.arbeitsrechte.de/schwangerschaft/
(9) https://www.lmt-medicalsystems.com/de/aktuelles/nachrichtendetails/fruehgeburt-andere-laender-andere-richtlinien.html