Wege in die Freiheit

In einer demokratischen Gesellschaft müssten wir zunächst Zugang zur Wahrheit haben — und die Chance, nach ihr zu leben. Exklusivabdruck aus „Die Propaganda-Matrix“.

Die Propaganda hält uns auch dann gefangen, wenn wir sie als solche durchschauen. Wir können ihr nicht einmal dann vollständig ausweichen, wenn wir Computer, Fernseher und Radio abgeschaltet lassen. Sie begegnet uns dann ungefragt über Lautsprecherdurchsagen, Werbeplakate und die betretenen Mienen unserer maskierten Mitmenschen, wenn wir es wagen, in ihre Zwei-Meter-Schutzzone einzudringen. Dennoch ist es nicht gleichgültig, was wir denken und welche Informationen wir in uns aufnehmen. Freiheit meint zunächst die Möglichkeit, zwischen verschiedenen „Wirklichkeiten“ zu wählen, in denen wir leben wollen. Damit eine menschlichere Welt für uns bewohnbar wird, brauchen wir Mitstreiter und alternative, freie Informationen, damit die Lüge sich nicht ungehindert in unserem Kopf breitmachen kann. Exklusivabdruck aus dem Spiegel-Bestseller „Die Propaganda-Matrix: Der Kampf für freie Medien entscheidet über unsere Zukunft“.

Sie wissen schon: Ich bin nicht Morpheus und auch nicht der Auserwählte.

Morpheus hat Neo befreit, damit er die Matrix zerstört, die Herrschaft der Maschinen beendet und den Menschen so erlaubt, selbst zu entscheiden, wie sie die Wirklichkeit wahrnehmen. Hollywood braucht solche Helden. Sie lullen uns ein und wiegen uns in Sicherheit. Macht euch keine Sorgen, liebe Leute. Das Leben ist schön. Und wenn doch mal etwas schiefläuft, wird irgendwo ein Neo wachsen, sich in eine Frau wie Trinity verlieben und uns auch deshalb am Ende alle retten können.

Die Geschichte von Morpheus, Neo und Trinity gehört zur Propaganda-Matrix und hat dennoch das Zeug, diese Matrix umzuschreiben. Alles beginnt mit der roten Kapsel — mit dem Wissen, dass der Quellcode des Lebens von Menschen gemacht und damit veränderbar ist. Neo hat dieses Wissen allein noch nicht gereicht. Morpheus, Trinity und die anderen konnten ihm noch so oft erzählen, dass der Abgrund, die Schläge oder die Pistolenkugeln nur in seinem Kopf existieren. Sie konnten ihm dies im Training sogar beweisen. Die Erinnerung war trotzdem lange stärker.

Übersetzt in die Sprache dieses Buches: Die Propaganda-Matrix hält uns auch dann gefangen, wenn wir wissen, wie sie entsteht. Mehr noch: Wir können die Leitmedien nicht wirklich ignorieren, weil wir davon ausgehen müssen, dass sich die allermeisten anderen an der „Wirklichkeit“ orientieren, die dort präsentiert wird. Menschen nutzen Medienangebote, um Definitionsmachtverhältnisse zu beobachten und so ihr Handeln und ihre Sinne für den Alltag zu kalibrieren. Was ist gerade wichtig und was sollte ich lieber nicht tun? Job und Familie lassen in aller Regel weder Zeit noch Kraft, um nebenbei auch noch Journalismus zu spielen und sich selbst durch die Berge von Informationsmüll zu graben, die Behörden, Unternehmen und andere Körperschaften Tag für Tag absondern. 15 Minuten Nachrichten, ein bisschen scrollen oder blättern. That’s it.

Was also tun? Tagesschau und Tagesthemen, Süddeutsche Zeitung und Spiegel auf Fehler und Auslassungen hinweisen, in Artikeln oder in Briefen an die Redaktionen?

„Pure Zeitverschwendung“, sagt Ulrich Teusch, ein Politikwissenschaftler, Jahrgang 1958, der auch für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk gearbeitet und vor ein paar Jahren das Schlagwort „Lückenpresse“ populär gemacht hat (1).

Inzwischen ist sich Teusch sicher, dass die Leitmedien „nicht reformierbar sind“. Seine Schlussfolgerung: Lasst das „politische Schmierentheater“ ohne uns weiterspielen und hört auf, „jeder neuen propagandistischen Umdrehung, jeder neuen Tatarenmeldung, jedem neuen Täuschungsmanöver gewissenhaft“ nachzuspüren. Lasst uns selbst „die Agenda“ bestimmen — über möglichst viele „antisystemische Medien“ (2).

Ulrich Teusch hat mit Paul Schreyer und Stefan Korinth Multipolar gegründet, ein Online-Magazin, das schon im Namen die Dominanz der USA in der Diskursordnung der Gegenwart infrage stellt und in seinen Beiträgen und Empfehlungen das umzusetzen versucht, was Teusch als „Standard“ für den Journalismus insgesamt vorschwebt: „absoluter Respekt vor Tatsachenwahrheiten“, „diskursiv“, „multiperspektivisch“ (3).

In der Welt von Morpheus, Neo und Trinity wäre Multipolar eine Art Zion — ein Ort, an dem sich die „freien Menschen“ zurückziehen und vom Aufstand gegen die Maschinen träumen können. Selbst in Hollywood aber reicht das nicht. Zion wäre untergegangen, wenn man die Herrscher einfach hätte machen lassen. Freiheit braucht die Revolution. Der Film Matrix ist ein Klassiker geworden, weil er an die Wurzeln unserer Vorstellungen von Freiheit geht. Da ist ein Zwang von außen, okay, düster und bedrohlich. Seelenlose Metallungeheuer, die jede menschliche Regung spüren und sich sofort aufmachen, alles Leben auszulöschen, das sich ihrer Kontrolle entzieht.

In dieser Preisklasse gibt es unendlich viele Produktionen. Aliens, Diktatoren, Familiendespoten, Bürokraten, die Bösewichte bei James Bond. Für die Freiheit steht dort immer das Ende der Bedrohung. Die Außerirdischen verjagt, der Pascha tot, alles gut. In der Matrix-Trilogie der Wachowskis genügt das nicht, weil es den Herrschern dort längst gelungen ist, das Gefängnis unsichtbar zu machen.

Die Menschen merken nicht, dass sie in einem Kokon stecken und sich buchstäblich nicht bewegen können, weil in ihren Köpfen ein ganz anderer Film läuft.

Die „Wahrheit“, die Morpheus Neo verspricht, als er ihm die Schachtel mit der blauen und der roten Kapsel zeigt, ist ein Synonym für Freiheit. Es gibt kein Leben ohne Abhängigkeiten und Zwänge — ohne andere Menschen, die etwas anderes wollen oder das Gleiche und uns damit in die Quere kommen, bewusst oder unbewusst. Was es aber geben kann: ein Leben, in dem wir solche Abhängigkeiten und Zwänge entweder schon kennen oder uns zumindest problemlos darüber informieren können.

Manchmal hilft beim Schreiben der Zufall. Als ich den ersten Matrix-Teil noch einmal gesehen habe, um Story und Figuren hier einigermaßen richtig zu skizzieren, und noch nicht wirklich wusste, wie ich meine Argumentation abrunden kann, schickte mir der Westend-Verlag ein neues Büchlein von Walter Lippmann nach Hause, keine hundert Seiten dick. Ich hatte nicht wirklich Lust, eine Rezension zu schreiben und mich so von der Propaganda-Matrix abzulenken, konnte den Wunsch der Presseabteilung allerdings auch nicht ganz ignorieren.

Wir haben zwei Bücher zusammen gemacht und einige Veranstaltungen. Das schränkt meine ganz persönliche Freiheit ein, einfach Nein zu sagen. Außerdem lockten wie immer bei Westend Cover und Titel: Die Illusion von Wahrheit oder die Erfindung der Fake News. Ich war mir zwar sicher, dass Walter Lippmann nichts über „Fake News“ geschrieben hat, aber man weiß ja nie. Ein Jahr Corona. Wird schon gute Gründe haben, dass diese Texte von 1920 ausgerechnet jetzt wieder ausgegraben werden.

Um es kurz zu machen: Walter Lippmann sieht nach einem schrecklichen Krieg und nicht minder frustrierenden Friedensverhandlungen in Paris einen Weg in die Freiheit, der über den Journalismus führt. Neben den Erfahrungen auf den Schlachtfeldern und in der Diplomatie braucht es dazu eine Absage an die „klassische Freiheitsdoktrin“, im Buch vertreten von John Milton, John Stuart Mill und Bertrand Russell.

Walter Lippmann: Selbst das „edelste Plädoyer für die Freiheit, das die englische Sprache kennt“, liefert Argumente für die „Inquisition“, weil es im „Kern“ immer um „Gleichgültigkeit“ geht. Um dies zu verstehen, genügt es hier vielleicht, John Stuart Mill zu zitieren: „So weit muss die individuelle Freiheit begrenzt werden, dass niemand anderen Menschen Schaden zufügen darf“ (4).

Seit dem Krieg gegen ein Virus wissen wir, dass es nicht weit her ist mit einer Freiheit, die diesem Theoretiker folgt.

Mit der Gleichgültigkeit ist es schlagartig vorbei, sobald eine Krise kommt. Anderthalb Meter Abstand und eine Maske, bitte, weil du den anderen sonst eine tödliche Krankheit bringen könntest — völlig egal, ob du das glaubst oder nicht.

Walter Lippmann: „Fragen von Eigentum, Regierung, Wehrpflicht, Besteuerung“ oder Kriegsursachen „werden auf diesem Planeten niemals als gleichgültig toleriert oder unangetastet bleiben, ganz gleich, wie viele edle Argumente für die Freiheit vorgebracht werden oder wie viele Märtyrer dafür ihr Leben opfern“ — vor allem dann nicht, wenn sich eine Gesellschaft „bedroht fühlt. Und steht eine Revolution bevor, so wird die Jagd auf Ketzer gar zu einer respektablen Beschäftigung. Mit anderen Worten: Wenn die Leute keine Angst haben, haben sie auch keine Angst vor Ideen; haben sie jedoch Angst, so breitet sich diese auf alles aus, was aufrührerisch erscheint oder auch nur damit in Zusammenhang gebracht werden kann“ (5).

Walter Lippmann geht es so kurz nach einem echten Krieg folgerichtig nicht um Meinungsfreiheit, sondern um die „Quellen“, um den „Schutz vor Propaganda“, um „Beweisstandards“, um „Kriterien der Schwerpunktsetzung“ (6).

Ulrich Teusch würde mit Hannah Arendt sagen: um einen Journalismus, der „Tatsachenwahrheiten“ zur Richtschnur seines Handelns macht — das, was der Mensch nicht ändern kann (7). Erst die Information über die Tatsachen, aus möglichst vielen Blickwinkeln, versteht sich, und dann die Meinungen.

Walter Lippmann besetzt den Begriff deshalb neu. Freiheit ist bei ihm alles, was „den Wahrheitsgehalt der Informationen, die unser Handeln bestimmen“, schützt und steigert (8).



Quellen und Anmerkungen:

(1) Vergleiche Ulrich Teusch, Lückenpresse. Das Ende des Journalismus, wie wir ihn kannten, Westend, Frankfurt am Main 2016.
(2) Ulrich Teusch, Der Krieg vor dem Krieg. Wie Propaganda über Leben und Tod entscheidet, Westend, Frankfurt am Main 2019, Seite 8, 194.
(3) Ebenda, Seite 180.
(4) Walter Lippmann, Die Illusion von Wahrheit oder die Erfindung der Fake News, herausgegeben von Walter Otto Ötsch und Silja Graupe, Edition Buchkomplizen, Frankfurt am Main 2021, Seite 31, 33, 36 folgende.
(5) Ebenda, Seite 34, 38.
(6) Ebenda, Seite 52.
(7) Vergleiche Kapitel 3.
(8) Lippmann, Die Illusion von Wahrheit, Seite 55.