Was wir wissen können

Wenn wir die Form des Anstandes und der Höflichkeit rekultivieren, dann können wir auch wieder mit den Differenzen der Inhalte umgehen, ohne dass dabei unsere Beziehungen zu Bruch gehen.

„Inhalte first, Form second!“. So in etwa lässt sich die Rangfolge der heutigen Sittlichkeit bezeichnen, die im Grunde genommen keine mehr ist. Heute scheint so ziemlicher jeder zu allem und jedem eine Meinung zu haben. Und diese Meinungen, sowie die damit verbundenen Gedanken haben dieser Tage einen enormen Identifikationscharakter. Sie bilden das haltgebende Gerüst, von dem sich niemand loslösen möchte. Entsprechend schnell kochen die Emotionen dann hoch, wenn zwei divergierende Meinungen kollidieren. Was dabei unmittelbar dem Gefecht zum Opfer fällt, ist die Form des Anstandes und der Höflichkeit, die den Inhalten und der Austragung ihrer Differenzen eigentlich vorangestellt sein sollte. In Zeiten, da zwischen den vielen Gesellschaftsfraktionen die Wogen hochschlagen, geht diese Form vollends unter. Dabei ist gerade diese sittliche Form das Band, das auch bei inhaltlichen Differenzen ein Auseinanderbrechen von Beziehungen verhindern könnte.

„Was wissen wir und warum wissen wir es?“, fragt uns der Philosoph Michel Foucault. Wie kann ich also erkennen, was die Wahrheit ist, was der Ursprung und die Hintergründe eines Sachverhaltes sind. Was richtig und was falsch ist. Kurz: Wer die wahrhaft Benachteiligten und Schwachen sind, damit ich diesen Menschen durch Wort und Tat zu mehr Gerechtigkeit verhelfen kann. Denn ich will doch das Richtige tun und — wie es in einem oft zitierten Spruch heißt — die Welt jeden Tag ein Stückchen besser machen.

Betrachte ich also mit Foucaults Prämisse die aktuelle Situation und frage: Woher weiß ich, dass ich auf der richtigen Seite bin und mich von den Falschen abgrenze, vor ihnen warne, mich gar vor ihnen fürchte. Wie kann ich das wissen und woher weiß ich es?

Diese Frage wird immer wichtiger, denn eigentlich muss jeder feststellen, dass aktuell vermeintlich richtige und falsche Ansichten zur Spaltung in Familien und Freundeskreisen und zur Herabwürdigung von Arbeitskolleginnen, Bekannten und Unbekannten führen. Und es ist erstaunlich — viele zerstreiten sich mit Menschen auch über Themen, von denen sie selbst zugeben müssten, nicht wirklich viel darüber zu wissen.

Es geht nicht nur um Themen, unser Wert als Mensch steht auf dem Spiel

Ich stelle mir vor, ich säße in einer Talkshow und müsste mich zur Migrationspolitik äußern oder zu Waffenlieferungen, für beide Themen bin ich keine Expertin. Selbstverständlich habe ich eine Meinung zu diesen Fragen, eine bestimmte sogar. Doch werden die Diskussionen, sowohl die öffentlichen als auch die privaten, eigentlich mit Fakten und Argumenten geführt? Ich denke nicht.

Es ist leicht zu beobachten, dass aktuell jede Meinungsäußerung mit einer moralischen Einordnung verknüpft wird. Inzwischen machen viele Bücher und Artikel auf genau diese fatale Verknüpfung aufmerksam. So schreibt Michael Andrick in seinem Buch „Im Moralgefängnis“, dass heute bei jeder Diskussion, um welches Thema es auch immer geht, die ganze Identität eines Menschen zur Disposition steht und es kein Wunder ist, dass er sich vehement verteidigt, ja verteidigen muss! Wer will rechts, Diktatorenversteher, Kriegstreiber, Umweltsau oder ein Altenmörder sein? Ich brauche diese Begriffe nicht zu erläutern, jeder hat es erlebt, dass ein solcher oder ähnlicher Begriff auf ihn angewendet wurde. Manchem wird auch Unzurechnungsfähigkeit attestiert, „da bist du auf Propaganda hereingefallen“, heißt es dann. Wir können diesen Angriff auf unsere Integrität nicht akzeptieren.

Meine Frage ist nun: Woher kommt das und wie und wann hat das angefangen? Und das führt mich zum Verhältnis von Form und Inhalt.

Die Form, das sind vom Inhalt losgelöste Dinge, zum Beispiel Anstand und Höflichkeit. Form ist Oberfläche, geht nicht wirklich tief, so könnte man annehmen. Der Inhalt, das sind unsere wahren Gedanken und Gefühle. Diese vertrauen wir vielleicht nicht jedem an und manchmal müssen wir unser ganzes Leben darum ringen, sie auszudrücken.

Nähe entsteht, so sind wir überzeugt, wenn wir einander das sagen, was gerade die Form sprengt, wenn wir die höflichen Phrasen und die geschliffenen Worte hinter uns lassen. Anstand dagegen bedeutet, im Zweifelsfall auf den Ausdruck der eigenen Meinung zu verzichten, um die Form zu wahren. Anstand heißt also, sich manchmal zu verstecken oder zu verleugnen. Braucht kein Mensch in dieser Zeit, in der es darum geht, endlich „wirklich ich zu sein“.

Gedanken und Gefühle werden zur Funktion

Die Form hat kein gutes Standing heutzutage; um es salopp auszudrücken: Der Inhalt ist alles. Wir identifizieren uns mit unserem Inhalt, das heißt mit unseren Gedanken und Gefühlen. Wir können uns mit ihnen aufwerten: Je besser unsere Gefühle und Gedanken sind, desto besser sind wir als Mensch. Je besser ich als Mensch bin, desto mehr kann ich hoffen, von anderen akzeptiert, geachtet und geliebt zu werden. So mache ich meine Gedanken und Gefühle zur Funktion. Und das ist das Problem.

Die Geringschätzung der Form ist die Ursache dafür, dass unsere Gedanken und Gefühle immer wichtiger werden. Die Güte meiner Gedanken wird zum wichtigsten Unterpfand meiner gesellschaftlichen Teilhabe. Ich muss dieses Unterpfand verteidigen, denn sonst stehe ich vielleicht bald ohne es da.

Dass genau das unmenschlich ist und würdelos, weil es den Menschen auf sein Wissen, seine Gedanken und Gefühle reduziert, ist vielen Menschen nicht bewusst. Weil sie Anstand und Höflichkeit noch als einengendes Korsett erlebt haben, schnüren sie sich nun begeistert in das Korsett der „richtigen“ Meinung.

Dabei könnte mir die Form helfen, in entscheidenden Situationen das Richtige zu tun. Ich habe mir zum Beispiel überlegt, wie ich als Lehrerin des Richard-Wossidlo-Gymnasiums reagiert hätte, dessen Schulleiter die Polizei verständigt hat, nachdem ihm private TikTok-Posts einer sechzehnjährigen Schülerin von einer ihrer Mitschülerinnen gemeldet worden waren. Diese Posts verraten eine Sympathie für rechtskonservative, wahrscheinlich auch völkische Ideen. Wie auch immer, die Polizei kam in Gestalt dreier uniformierter Beamten in die Schule und führte mit dem Mädchen ein „Aufklärungsgespräch“. Ich stelle mir nun vor, ich stehe der Klasse gegenüber, in der auch das Mädchen ist, oder vielleicht einer Parallelklasse. Die Schüler haben Fragen an mich, was sage ich?

Beginnen würde ich mit der Form. Ich würde darüber sprechen, dass es viele Möglichkeiten gibt, mit dieser Situation umzugehen. Meine erste Idee wäre, die Klassenkameradin, deren Posts mich verstören, anzusprechen und zu fragen, was sie sich dabei gedacht hat. Verpetzen an Autoritäten ist unanständig. Diese Unanständigkeit zieht sich übrigens durch an dieser Schule, auch der Schulleiter hat nicht mit der Schülerin gesprochen, er rief die nächste Autorität an. Und die Polizei verhielt sich auch unanständig, denn es ist doch klar, dass sich ein Teenager gegenüber drei Erwachsenen schwer behaupten kann. Dann würde ich meinen Schülern erklären, dass es beim Anstand nicht nur um den anderen geht, sondern vor allen Dingen um mich selbst, dass mich also — wenn möglich — selbst mir unangenehme Menschen nicht dazu bringen können, aus der Rolle zu fallen. Man nennt das Würde. Auch Kinder und Jugendliche können schon sehr viel mit diesem Begriff anfangen.

Die Würde hat keinen anderen Inhalt als den Menschen selbst

Würde ist Form. Würde muss sich keiner durch irgendetwas wie Inhalt verdienen. Sie ist immer da. Die würdevolle Form verbindet uns über alles, was uns trennt. Sie gibt Antwort auf viele Fragen, die sich inhaltlich so schnell nicht klären lassen. Beziehe ich mich auf sie, befähigt sie mich jenseits von Bildung und Wissen dazu, zu entscheiden, was in einer Situation richtig und falsch ist.

Kinder ausgrenzen — mache ich nicht. Politische Gegner zusammenschlagen — mache ich nicht. Abwerten mir unsympathischer Menschen — mache ich nicht. Hassparolen schreien — auch gegen die, die es meiner Meinung nach verdient haben — mache ich nicht. Menschen hindern, ihre sterbenden Verwandten zu verabschieden oder in der U-Bahn zu fahren — mache ich nicht. Menschen ihr Lebensrecht absprechen — mache ich nicht. Man sieht, der Anschein genügt.

Wir brauchen nicht mehr Moral, wir brauchen mehr Schönheit

Die Form ist der Bezug auf etwas Höheres, das ich nicht sehen und verstehen kann. Deswegen muss man im Grunde auch keine Angst davor haben, wenn alle bei allem mitreden, weil die Kraft der Meinungen und Gefühle gar nicht so riesig ist, wie man immer glaubt.

Es passiert nichts Schlimmes, wenn jemand die falsche Meinung hat, solange alle wissen, dass die Würde jedes Menschen unantastbar ist.

Die Angst vor der falschen Meinung ist ja inzwischen so groß, dass geradezu wahnhaft nach jedem Hinweis auf moralisch verwerfliche Positionen gesucht wird, wie bestimmte Buchstabenfolgen auf Autokennzeichen oder Modelabels, verwendete Farben oder Gesten und vieles mehr.

Totalitarismus entsteht — das sollte man bedenken — eben nicht nur durch die falschen Gedankeninhalte, sondern auch durch eine übermäßige Identifizierung vieler Menschen mit diesen Gedanken. Eine solche Gedankenverengung führt aus meiner Sicht dazu, dass nur wenige Handlungsmöglichkeiten bleiben, bis eben alles alternativlos erscheint. Wohin das führt, muss ich nicht ausführen, es führt zu Kampf, Gewalt und Krieg.

Die Gedankenverengung ist auch an ihren rigiden und starren Formen erkennbar, die sie hervorbringt. Kein Wunder, dass die Diktatoren dieser Welt sich nicht am meisten vor der Gegenrede fürchten, sondern dass man sie lächerlich macht, also ihre Formen zerstört.

Um zu illustrieren, welche Räume sich auftun, wenn man auf eine nicht-starre Form setzt, um mit einem Menschen in Beziehung zu treten, erzählt der Filmemacher Dirk Pohlmann in einem Interview Folgendes: 1987 konnte der damalige Arbeits- und Sozialminister Norbert Blüm durch seine Fürsprache die deutsche Kommunistin Beatriz Brinkmann aus einem chilenischen Militärgefängnis befreien. Nach ihrer Freilassung begegneten sich die Kommunistin Brinkmann und der gläubige Christ Blüm wieder und Beatriz Brinkmann schenkte ihm als Dank für ihre Befreiung ein Holzkreuz, welches sie für seine Frau im Foltergefängnis gebastelt hatte. Solche Gesten, so Dirk Pohlmann, haben eine Schönheit.

Ich zeige durch die Schönheit, in welcher Form auch immer, dass es mir um die Beziehung zum anderen geht.

Und dass er oder sie mir in diesem Moment wichtiger ist, als meine eigenen Gedanken und Meinungen. Und plötzlich gibt es Freiheit.

Übrigens: Höflichkeit und Anstand lassen sich nicht befehlen

Es ist der hochambivalente Charakter der Form, der ihre Zauberkraft ausmacht. Sie bedeutet nichts und manchmal alles. Deswegen ist zum Beispiel ein Gesetz widersinnig, Menschen zu verbieten, andere Menschen mit dem von ihnen nicht gewählten Geschlecht anzusprechen. Denn allein der Anstand gebietet es, einem Menschen das Ansinnen zu erfüllen, ihn mit einem bestimmten Geschlecht anzusprechen. Was Anstand verbietet, ist, überall und ständig die eigene Auffassung in den Vordergrund zu rücken, obwohl sie in den meisten Beziehungen zu meinen Mitmenschen gar nicht interessiert. Was uns verbindet, ist eine Referenz an das Höhere, welches losgelöst von jedem Kontext existiert und deswegen auch nur durch Formen ausgedrückt werden kann.

Schönheit macht uns größer als unsere Meinungen, was wir ja auch sind. Gibt es jedoch dafür ein Gesetz, wird die Form zum Inhalt und verschwindet — und gegen diesen Freiheitsverlust werden sich nicht wenige Menschen wehren.

Die freie Wahl der Form habe ich nur, wenn ich selbst bestimmen kann, ob ich von meiner Meinung in einer Situation absehe, um mich zum Beispiel auf die Erfahrungen eines anderen Menschen einzulassen und um ihm jenseits von Schlagworten zu begegnen. Die Form ist immer ein Geschenk an den anderen; es muss freiwillig erfolgen, dann rettet sie uns auch vor der Meinungshysterie.