Warum Krieg?
Die aktuelle Spannungspolitik bedarf einer entschiedenen pazifistischen Antwort.
„Warum können die nicht endlich mal Ruhe geben?“ Man rauft sich die Haare, wenn man die aktuellen Nachrichten verfolgt, zuletzt über den Raketenangriff der „Westalliierten“ auf Ziele in Syrien. Da wird jedes fragwürdige, unbewiesene Detail aufgebauscht, um buchstäblich um jeden Preis Spannungspolitik zu betreiben. Mit Syrien, mit Nordkorea, mit dem Iran – mit Russland, dem vertrauten Feind, ohnehin. Als Bürger werden wir so ständig in einem Zustand ängstlicher Anspannung gehalten. Wer würde in einer derartig gefährlichen Welt die Regierung nicht anflehen, im Interesse unserer Sicherheit die Rüstungsausgaben zu erhöhen? Man braucht eine gewisse Zeit, um zu merken, dass das Ganze System hat. Wir leben eben nicht zufällig gerade jetzt in einer besonders „schwierigen“ Zeit, in der sich die Bedrohungen häufen. Solange dieser politisch-militärisch-industrielle Komplex mit seinen Unterstützermedien regiert, wird und muss es Kriege geben – immer.
„Nun, natürlich, das Volk will keinen Krieg. (…) Aber schließlich sind es die Führer eines Landes, die die Politik bestimmen, und es ist immer leicht, das Volk zum Mitmachen zu bringen, ob es sich nun um eine Demokratie, eine faschistische Diktatur, um ein Parlament oder eine kommunistische Diktatur handelt. (...) Das Volk kann mit oder ohne Stimmrecht immer dazu gebracht werden, den Befehlen der Führer zu folgen. Das ist ganz einfach. Man braucht nichts zu tun, als dem Volk zu sagen, es würde angegriffen, und den Pazifisten ihren Mangel an Patriotismus vorzuwerfen und zu behaupten, sie brächten das Land in Gefahr. Diese Methode funktioniert in jedem Land.“
Hermann Göring, der Autor dieser Zeilen, wusste, wovon er redet. Mit erfrischender Direktheit spricht er aus, worum sich die Kriegstreiber unserer Zeit, allen voran Trump, May und Macron, noch herumwinden: Einem Volk zu erklären, warum Kriege, also millionenfaches Leiden, Töten und Sterben,angeblich unumgänglich sind, stellt ein nicht zu unterschätzendes PR-Problem dar. Aber es ist ein lösbares Problem, wie der ehemalige Reichsmarschall Göring und seine modernen Brüder im Geiste wissen.
Wem nützen Kriege?
„Keiner will sterben, das ist doch klar. Wozu sind denn dann Kriege da?“ Udo Lindenberg hat die Frage auf einen verblüffend einfachen Nenner gebracht. Wem nützen Kriege? Etwa den Frauen, die ihren Mann, den Kindern, die ihren Vater, den Müttern, die ihre Söhne verlieren? Etwa den Soldaten selbst? „Warum sollte auch irgendein armer Landarbeiter im Krieg sein Leben aufs Spiel setzen wollen, wenn das Beste ist, was er dabei herausholen kann, dass er mit heilen Knochen zurückkommt?“ (Göring) Wozu also sind Kriege da? Etwa für die Einwohner „befreiter Gebiete“, die Nutznießer „friedenschaffender Maßnahmen“, wie man heute im besten Orwell-Deutsch die Kriege umschreibt?
Es ist allzu offensichtlich, dass Kriege heute nicht um der Humanität willen, sondern um Macht, um Märkte und den Zugriff auf Ressourcen geführt werden. Wäre dies anders, wie hätte die internationale Staatengemeinschaft dann die Völkermorde in Ruanda und im Sudan, die tödliche Gewalt gegen Tschetschenen und Kurden zulassen können, während sie sich im Irak und in Syrien „plötzlich“ von menschlichem Mitgefühl ergriffen fühlte? Es mag von Saddam Hussein verfolgte irakische Dissidenten, von den Taliban unter Zwang verschleierte Frauen geben, die heute ein besseres, ein freieres Leben führen als damals. Dem stehen abertausende zivile Opfer gegenüber, die heute ohne die „Befreiungsbemühungen“ der westlichen Allianz noch leben würden. Die britische Medizinfachzeitschrift „The Lancet“ zählte zum Beispiel für den Irakkrieg 655.000 Tote seit Beginn der Kampfhandlungen.
„Human“ in die Barbarei
Einer der herausragenden Pazifisten unserer Zeit, der Theologe Eugen Drewermann, schrieb zum Thema „gerechte Kriege“ folgendes:
„Der Krieg ist in seinem ganzen Wesen die Zerstörung und die Aufhebung aller menschlichen Gesetze. (…) Umso aberwitziger und monströser ist es, ihn in irgendeiner Weise zur Erreichung von vermeintlich humanen Zielen zu rechtfertigen oder zu instrumentalisieren. (…) Man kann nicht durch einen See von Blut hindurch die Friedenstaube rufen.“
Humane Fortschritte in Einzelfällen können im besten Fall ein Nebenprodukt der großen globalen Macht- und Ressourcenkriege sein, sie sind niemals deren Hauptzweck.Und in aller Regel wurden sie mit einem noch viel größeren Rückschritt, mit dem Rückfall in die finsterste Barbarei erkauft.
Bevor ein einziger unterdrückter Dissident eines diktatorischen Staates „befreit“ ist, hat die bloße Existenz des Militärapparats überall auf der Welt entsetzliches Unheil angerichtet.
Die globalen Militärausgaben der USA wurden von statista.com für das Jahr 2016 auf 611 Milliarden Dollar (Russland: 69,2 Milliarden) geschätzt, die entsprechend für humane Ziele (Kampf gegen Hunger, Krankheit und Unterentwicklung) fehlen. „Wer von humanitärer Verantwortung redet, die es verlangt, sich kriegsbereit zu halten, der muss sich sagen lassen, dass Millionen Menschen heute noch leben könnten, wenn wir nicht Milliarden Mark für immer neue Waffen zum Töten ausgeben würden. Die Tatsache des Militärs allein tötet täglich weit mehr Menschen, als wir jemals ‚retten’ werden.“ (Drewermann)
„Zwangsdienst bedeutet Entwürdigung“
Einer der wichtigsten Einwände gegen das Militär ist indes das Militär selbst. 1926 verfasste eine internationale Gruppe prominenter Unterzeichner – unter ihnen Gandhi, Einstein, Bertrand Russel und der Dichter Rabindranath Tagore ein gemeinsames Manifest gegen die Wehrpflicht. Darin heißt es:
„Zwangsdienst bedeutet Entwürdigung der freien menschlichen Persönlichkeit. Das Kasernenleben, der militärische Drill, der blinde Gehorsam gegenüber noch so ungerechten und sinnlosen Befehlen, das ganze System der Ausbildung zum Töten untergraben die Achtung vor der Persönlichkeit, der Demokratie und dem menschlichen Tun.“
Auch wenn Deutschland seit der Ära des denkwürdigen Verteidigungsministers zu Guttenberg auf die Wehrpflicht verzichtet – diese Erleichterung für junge Männer ist noch immer eine vom Staat „gewährte“ Freiheit, die auf dem Prüfstand stehen könnte, wenn sich der Konflikt mit Russland verschärft.
Eine ernsthafte Diskussion auf breiter Basis über den Sinn und Zweck militärischen Drills findet bis heute nicht statt.
Militärische Ausbildungsstätten und Kasernen sind Räume mit reduzierter oder völlig fehlender Menschenwürde, in denen Einschüchterung, Erniedrigung, Unterdrückung und die Vorbereitung zum Töten praktiziert werden.
Mit einer tatsächlich existierenden „Bedrohungslage“ hat das nichts zu tun. Der Verdacht drängt sich auf, dass die in der Militärausbildung gezüchteten Eigenschaften – bedingungslose Unterordnung, Gehorsam und emotionale Verwahrlosung – gesellschaftlich erwünschte Tugenden sind, die auch im zivilen Leben nützlich sind.
Soldaten mit deformierten Seelen
Noch ehe im Krieg ein einziger tödlicher Schuss abgegeben wurde, sind in den Seelen junger Männer, die zum Militärdienst gezwungen wurden, schwer wiedergutzumachende Verwüstungen angerichtet worden. Eugen Drewermann schreibt dazu:
„Wir haben es bei erfolgreichem Drill mit halbierten Menschen zu tun oder mit Viertelmenschen, die überhaupt nur noch im Kopf existieren. Nicht nur die Tötungshemmung wird durch das militärische Training zurückgefahren, die Gefühlskompetenz muss überhaupt verloren gehen, sonst ist es nicht möglich, in eine Stadt hineinzuschießen, sonst ist es nicht möglich, in Flüchtlingstrecks hineinzuschießen, sonst ist es nicht möglich, Splitterbomben einzusetzen, die Menschen bei 1200 Grad Celsius verbrennen und im Umkreis eines Fußballstadions zerfetzen.“
Der Psychologe Dr. Gert Sommer, Gründer des Forums Friedenspsychologie, den ich 2006 zu seinem Fachgebiet interviewte, gab zu Protokoll: „Militär ist eine Sozialisation im Sinne der Eigenschaften, die eben nicht geeignet sind, ein friedvolles Zusammensein von Menschengruppen und Nationen zu fördern.“
Waffenhändler fürchten den Frieden
Kaum ein junger Mann möchte das heimische Wohnzimmer oder den Arbeitsplatz gegen einen Kasernenhof tauschen. Kaum einer findet Gefallen daran, seinen Körper als Teil einer geometrischen Formation nach Vorbild der Nürnberger Parteitage missbrauchen zu lassen. Kaum einer gibt freiwillig seine Individualität auf, um sich von einem militärischen „Borg-Kollektiv“ assimilieren zu lassen, in dem ihm alle Gemütsregungen ausgetrieben werden, die den Menschen eigentlich erst zum Menschen machen. Wozu und für wen sind also Kriege da?
Wir kommen der Antwort auf diese Frage näher, wenn wir den Blick weg von den „Indianern“ und den „Cowboys“ hin zu einer dritten Gruppe lenken. Schon alte Winnetou-Filme vermittelten die einfache Weisheit, dass die einzigen, die einen Krieg wirklich wollen, die Waffenhändler sind.
„Nichts fürchten die Waffenhändler mehr als den Frieden“, heißt es in dem fulminanten Antikriegsfilm „Lord of War“ mit Nicholas Cage.
Sobald ein Ding zur Ware wird, unterliegt es den ehernen Gesetzen der Profitmaximierung, und simpelste Gesetze des humanen Umgangs miteinander werden mit einer achtlosen Geste vom Tisch gewischt. Zwei Völker, die sich mit wachsender Angst voreinander und eskalierendem Hass gegenüberstehen, sind nun einmal bessere Waffenkunden als zwei friedliebende, selbstbewusste Nationen, die in gegenseitigem Respekt voreinander leben. Die hochgelobte „unsichtbare Hand des Marktes“ erweist sich im Kontext des Rüstungsgeschäfts als die Hand eines millionenfachen Massenmörders.
„Der Kapitalismus trägt den Krieg in sich“
Es gibt sogar Stimmen, die dem Kapitalismus selbst (nicht nur dem Waffenhandel als Spezialfall einer profitorientierten Branche) für einen Feind des Friedens halten. Jean Jaurès, ein bedeutender französischer Sozialist und Pazifist, der 1914 am Vorabend des Ersten Weltkriegs ermordet wurde, sagte:
„Der Kapitalismus trägt den Krieg in sich wie die Wolke den Regen.“
Kritiker einer auf unbegrenztem Wachstum und Zins basierenden Wirtschaftsordnung haben immer wieder auf den Zusammenhang zwischen dem Zins und zyklischen Katastrophen und Zusammenbrüchen hingewiesen. So sagte Ernst Winkler in seiner „Theorie der natürlichen Wirtschaftsordnung“:
"Der Krieg ist die großzügigste und wirkungsvollste ‚Reinigungskrise zur Beseitigung der Überinvestition’, die es gibt. Er eröffnet gewaltige Möglichkeiten neuer zusätzlicher Kapitalinvestitionen und sorgt für gründlichen Verbrauch und Verschleiß der angesammelten Vorräte an Waren und Kapitalien. (…) so ist der Krieg das beste Mittel, um die endgültige Katastrophe des ganzen kapitalistischen Wirtschaftssystems immer wieder hinauszuschieben.“
Krieg „rechnet sich“ mindestens so gut wie Sklavenhaltung, vorausgesetzt die gesetzlichen Kontrollmechanismen sind genügend aufgeweicht und alle Reste humaner Rücksichtnahme aus der Seele verbannt. So wird ein geschickter Geldanleger kaum gegen den Krieg demonstrieren, sondern vielmehr von ihm zu profitieren suchen, indem er zuerst in die Zerstörung und anschließend in den Wiederaufbau investiert.
Der bekannte Geldtheoretiker Helmut Creutz schrieb in „Das Geld-Syndrom“:
„Mit der Rüstung wird nicht nur das Kapital bedient, sondern auch gebunden, zutreffender: vom Markt genommen. Würde man das in die Rüstung, die Raketensilos, Kasernen und Kriegsschiffe investierte Kapital im zivilen Sektor einsetzen, dann wäre das Angebot an zivilen Gütern und Leistungen auf den Märkten deutlich größer. Ein größeres Angebot an Wohnungen, Konsumgütern usw. aber würde auf die Kapitalrendite drücken und schließlich – wenn das Kapital nicht streiken könnte – den Zins gegen Null sinken lassen.“
Ein solches Schreckensszenario mag man den bedauernswerten Zinsprofiteuren natürlich nicht zumuten.
Das Morden rechnet sich
Auch der Theologe Eugen Drewermann hat erkannt:
„Wir können die Illusion wohl auch nicht aufrechterhalten, dass wir die aggressivste aller Wirtschaftsformen in Gestalt des Kapitalismus etablieren können und am Ende Frieden erwarten dürfen. (…) Kapitalismus besteht in nichts anderem, als dass wir – im Staat ebenso wie in der Wirtschaft – überhaupt nur investieren können durch Kreditaufnahme, durch Schuldenmachen. Dann müssen wir den aufgenommenen Krediten hinterherhetzen, plus Zinseszinsspirale.“
Drewermann beruft sich in seinen Anti-Kriegs-Schriften vor allem auch auf die Ethik der Bergpredigt: „Reagiert nicht auf das Böse“, so legt er die Worte Jesu aus, „indem ihr euch von der Aktion die Gegenreaktion vorschreiben lasst, denn dann bleibt ihr innerhalb der Gefangenschaft des gleichen Handlungsniveaus, ihr kommt aus der Blutmühle von Gewalt und Gegengewalt niemals heraus.“
Die Logik der Vergeltung
Die „Blutmühle“ wird in Gang gehalten von einer ebenso simplen wie barbarischen Prämisse: Das, was mir angetan wurde, soll auch dem anderen angetan werden. Auch anderen großen Denkern außerhalb des christlichen Kulturkreises wollte diese „Logik“ nicht so recht einleuchten: Mahatma Gandhi äußerte etwa: „Es ist nicht erkennbar, wieso es mich erleichtern soll, wenn ein anderer den gleichen Schmerz empfindet wie ich. Es gibt dann doch niemanden, der weniger leidet. Es gibt lediglich zwei Menschen, die gleich viel leiden. Wem aber hilft das?“
Über Feindbilder sagte Gandhi:„Gegen wen könnten wir Feindschaft hegen, wo doch Gott selbst sagt, dass er in allen Lebewesen wohnt?“ Der unlängst verstorbene Wissenschaftler und Friedensforscher Carl Friedrich von Weizsäcker gab sogar zu Protokoll, ein radikaler Pazifismus sei das „christlich einzig Mögliche“.
Muss man sich aber gleich zum „Pazifisten“ erklären, um die Unmenschlichkeit des Krieges anzuklagen? Genügt es nicht, ganz allgemein „ein bisschen für den Frieden zu sein“ und sich das Hintertürchen zur notgedrungenen Gewaltanwendung (analog zur Notwehr oder Nothilfe) offenzuhalten? Ich habe hohe Achtung vor Menschen, die auf solche Fragen keine vorschnelle, einfache Antwort geben. Auf die Frage, ob ich unter bestimmten Umständen zu Gewalt greifen würde, antworte ich auch oft mit „Ich weiß es nicht“. Ich glaube aber, viele der populärsten Argumente gegen den Pazifismus beruhen auf Missverständnissen – oder auf leicht durchschaubarer Propaganda seitens der Bellizisten.
Warum Pazifist sein?
Argument 1: „Wer einem Hilfsbedürftigen privat beistehen würde, muss auch bereit sein, in den Krieg zu ziehen.“
Ein solches Argumentationsschema ist aus den Fragekatalogen für Kriegsdienstverweigerer bekannt: „Stellen Sie sich vor, Ihre Frau wird auf der Straße von einem Vergewaltiger angegriffen. Würden Sie Gewalt anwenden, um das Verbrechen zu verhindern?“ Die Frage ist meines Erachtens nicht sehr schwer zu beantworten. Es wäre angemessen und auch emotional mehr als verständlich der Frau zu helfen – notfalls auch mit Gewalt. Dabei wäre es zu vermeiden, den Angreifer zu töten, denn es handelt sich wahrscheinlich um ein krankes, verirrtes Wesen, und welches noch so schwere Delikt „verdiente“ die Auslöschung des eigenen Lebens? Wer bin ich, dieses Urteil auf die Schnelle über ihn zu verhängen? Die Frage ist nur, ob ich verpflichtet bin, für ein Abstraktum wie mein „Vaterland“, für das zu sterben bekanntlich „süß und ehrenhaft“ (Horaz) ist, dasselbe zu tun wie für meine Frau.
Ich hatte vor Jahren die Gelegenheit, einen der entschiedensten Pazifisten unserer Zeit zu diesem Thema zu interviewen, den Liedermacher Konstantin Wecker. Wecker antwortete auf die erwähnte Fangfrage:
„Solange ich das wirklich ganz allein entscheiden kann, ist es etwas anderes, als wenn ich irgendeinem General oder Führer vertraue, dass er für mich die richtige Entscheidung trifft. Wann kann ich denn sicher sein, dass wir uns wirklich in einer Situation der Verteidigung befinden? Wir werden in den Medien ja ständig manipuliert, und wenn es darum geht, Kriege zu führen, werden wir ausschließlich belogen.“
Natürlich hat Konstantin Wecker Recht. Eugen Drewermann gibt dem bellizistischen Scheinargument mit noch drastischeren Worten Kontra:
„Das, was die Soldateska tut, besteht nicht darin, dass sie eine Frau beschützt, die im Stadtpark vergewaltigt zu werden ‚droht’; was sie tut, besteht bildlich gesprochen darin, in das Haus dessen einzudringen, den man für den Täter hält oder erklärt, um dessen Frau dazwischen zu nehmen, seine Kinder mit Benzin zu übergießen und ein Streichholz anzuzünden und hernach eine Siegesparade abzuhalten.“
Argument 2: „Nur wer sich persönlich vollkommen friedlich und harmonisch verhält, hat das Recht, Pazifist zu sein.“
Unser politisches und wirtschaftliches Establishment hat zwar keine Probleme damit, die Freiheit mit Unfreiheit (also durch Drill auf dem Kasernenhof) zu verteidigen, es legt aber größten Wert darauf, dass für den Frieden keinesfalls anders als friedlich demonstriert wird. Die Medien verspotten den Pazifisten gern als „Softie“ und „Feigling“, wenden aber jede Anwandlung von gerechtem Zorn sofort gegen den Kriegsgegner. Konstantin Wecker, der als Künstler für sein vehementes, kraftvolles Auftreten bekannt ist, sagte zu diesem Thema:
„Wer für den Frieden ist, ist nicht unbedingt ein durchgehend sanftes Wesen, das nur mit leiser Stimme spricht und mit Birkenstocksandalen durch die Gegend schleicht. Da ist es auch ganz gut, dass mal so ein Typ wie ich mit aller Gewalt für Gewaltfreiheit eintritt.“
Wobei mit „Gewalt“ hier Vehemenz, nicht physische Gewalt gemeint ist. Auch der Friedenspsychologe Gert Sommer legt Wert darauf, dass es nicht genügt, für den Frieden ab und zu ein Kerzchen ins Fenster zu stellen. Gerade spirituell motivierte Menschen argumentieren ja gern: „Der Friede beginnt in dir“. Leider hilft es nicht viel, wenn der Friede im eigenen Herzen beginnt, um genau dort auch zu enden. Er muss nach außen getragen werden, um gesellschaftliche Realität zu werden. Professor Sommer mahnt ein politisches Engagement an, das auch die Auseinandersetzung mit den Kriegsbefürwortern nicht scheut.
„Mit sich selbst im Frieden zu sein ist auch schön. Aber selbst wenn 99 % der Weltbevölkerung im Frieden sind und 1 % ist es nicht, dann reicht das völlig aus, um Kriege zu führen."
Tatsächlich ist ein Pazifist erst einmal jemand, der sich dafür einsetzt, dass organisierte, von „oben“ befohlene Kampfhandlungen mit hunderten oder tausenden Opfern gar nicht erst stattfinden können. Ob dieser Mensch auch im Privatleben die Sanftmut selbst ist, ist eine ganz andere Sache. Ich möchte einem Menschen wie dem Hitler-Attentäter Georg Elser nicht glaubwürdige pazifistische Motive absprechen. Trotzdem spricht viel für gewaltfreie Protestformen, bei denen Zweck und Mittel in Übereinstimmung sind, wie schon Gandhi anmahnte. Ein wütender, laut schreiender Pazifist mag noch glaubwürdig sein, aber ein Pazifist, der einen Polizisten tötet …?
Eugen Drewermann ist in dieser Hinsicht vollkommen konsequent:
„Das, was die so genannten Gegner mit uns machen könnten, ist das Sekundäre. Was unsere eigenen Führer aus uns machen, um dahin zu kommen, dass wir tötungsbereit werden, ist das Schlimme. Sterben müssen wir irgendwann alle, aber töten sollten wir niemals.“
Was aber für den Umgang mit dem imaginären Gegner im Ausland richtig ist, kann für den Umgang mit dem politischen Gegner im Inneren (dem Kriegstreiber) nicht falsch sein.
Argument 3: „Krieg ist die unvermeidliche Folge der allen Menschen innewohnenden Aggression.“
Ich schätze psychologische und psychoanalytische Deutungen, wenn sie sich mit Fällen extremer persönlicher Destruktivität, mit Sadismus und Zerstörungswut auseinandersetzen. Erich Fromm („Anatomie der menschlichen Destruktivität“) und in jüngerer Zeit Arno Gruen („Ich will eine Welt ohne Kriege“) haben in dieser Hinsicht Großes geleistet.Gruen sieht das Bedürfnis, zu töten oder anderen Menschen Gewalt anzutun, als Folge erniedrigender und gewaltsamer Opfererlebnisse – meist in der frühen Kindheit. Der erlittene Schmerz bleibt als uneingestandene Wunde in der Tiefe der Seele zurück, gerade bei solchen Menschen, die sich nach außen hin gern „cool“ und „hart“ geben.
„Solche Menschen sind ihr Leben lang auf der Flucht vor allem, was diesen Schmerz wieder zum Leben erwecken könnte. Aus diesem Grund sind sie auch nicht in der Lage, ihn bei anderen Menschen empathisch wahrzunehmen und mitzufühlen. Im Gegenteil: Was bei einem ‚normalen’ mitfühlenden Menschen Verständnis, Anteilnahme und Zuneigung auslöst, weckt in ihnen die Mordlust. Sie müssen töten, was in ihnen menschliche Gefühle auslöst.“
Individualpsychologie versagt aber meines Erachtens, wenn sie nicht nur die politischen Führer oder besonders drastische Einzelfälle zu analysieren versucht, sondern die Masse der Soldaten. Junge Männer ziehen nicht in den Krieg, um sich mal „auszutoben“, sondern weil sie manipuliert, missbraucht und zum Kriegsdienst gezwungen werden.
Krieg, gerade moderner Krieg, setzt äußerste emotionale Kälte und Präzision voraus, nicht das Ausagieren „heißblütiger“ Impulse.
Die These von der „wölfischen Natur“ des Menschen, der, einem inneren Automatismus folgend, Gräueltat auf Gräueltat häuft, ist irreführend und verschleiert die Bedeutung ganz rationaler politischer und wirtschaftlicher Interessen bei der Kriegsvorbereitung. Eugen Drewermann:
„Krieg ist nicht die Summation der unausgetragenen aggressiven Potentiale in der Seele beliebig vieler Individuen. Man kann Krieg nicht betrachten als die Kondensation vieler Wassertröpfchen im angeheizten Kessel, der schließlich bei Überdruck explodiert. Ganz im Gegenteil, die Menschen werden auf Staatsbefehl hineingezogen in ein organisiertes Morden, hinein in einen Staatsschlachthof, mit dem sie, ginge es nach ihren eigenen Wünschen und Vorstellungen, nichts zu tun haben würden.“
Pazifismus ist nicht blauäugig
Was also ist ein Pazifist? Der Humorist Gerhart Polt gab in seiner unnachahmlichen Art folgende paradoxe Weisheit zu Protokoll:
„Diese Pazifisten haben ja noch nie einen Krieg verhindert. Oder können Sie mir einen Krieg nennen, den die verhindert haben?“
Dieser satirische Seitenhieb gegen die unqualifizierte Vorverurteilung des Pazifismus hat einen ernsten Kern. Da konsequenter Pazifismus noch nie – in keinem Land der Erde – an der Regierung war, kann man auf keine historischen Erfahrungen zurückblicken, die seine Wirksamkeit dokumentieren könnten. Gegner können auf diese Weise leicht von „abenteuerlichen Utopien“ sprechen, derenScheitern an der rauen Wirklichkeit vorprogrammiert ist.
Das Sicherheitsbedürfnis einer Bevölkerung, die sich „lieber in bekannten Höllen als in unbekannten Himmeln“ aufhält, lässt sich allzu leicht zu Ungunsten des Pazifismus aktivieren. So als ob es nicht ein großes, ja für viele potenzielle Kriegs- und Terroropfer mörderisches Risiko beinhalten würde, wenn liebedienerische deutsche Politiker den jeweils unverantwortlichsten „Falken“ der Westallianzin jedes ihrer militärischen Abenteuer hinterherstolpern.
Der Pazifismus ist alles andere als ein Ausweichmanöver ins Reich der Utopien, aber er wird ein Zukunftsprojekt bleiben, solange ihm die faktische Machtfülle des politisch-militärisch-industriellen Komplexes die Erprobung seiner Thesen in der Gegenwart verweigert.
„Der Pazifismus ist nicht die Utopie von Blauäugigen und ewig Gestrigen“, schreibt Drewermann, „er war und ist die Antizipation der einzigen Form von Zukunft, die uns Menschen auf dieser Erde beschieden ist.“