Warum haben wir immer noch Atomwaffen?
Die existierenden 15.000 Atomwaffen bedeuten reale Gefahr.
Seit dem 6.und dem 9. August 1945 wissen wir von den schrecklichen, ja apokalyptischen Konsequenzen des Einsatzes von Atombomben. Seit den Bildern von den Marshall Islands, dem Bikini Atoll und aus Semipalatinsk kennen wir die Folgen von Atomtests für Mensch und Umwelt. Die existierenden 15.000 Atomwaffen können das Leben auf dem Planeten mehrfach auslöschen.
Die humanitären Konsequenzen eines Atomkrieges wurden in dem Humanitären Pledge in Wien 2015, der von über 149 Staaten gezeichnet wurde, eindrucksvoll beschrieben.
Fazit: Entweder überlebt der Planet Erde ohne Atomwaffen oder Atomwaffen werden letztendlich und irgendwann die Menschheit vernichten.
Die Atomwaffen aller Atomwaffenmächte werden für über 1 Billion Dollar während der nächsten ca. 10 Jahre modernisiert.
Der Frieden, so ist es festgeschrieben in den militärstrategischen Dokumenten der USA bzw. der NATO, aber auch in denen Russlands, basiert auf der Abschreckung durch diese Massenvernichtungswaffen. Ein Versagen, ein technischer oder menschlicher Fehler, ein falsches Kommando, eine politische Fehleinschätzung kann die Apokalypse bedeuten. Mindestens 20-mal standen wir vor dieser Katastrophe. Dass wir überlebten, ist sicher auch dem Faktor Glück zu verdanken.
Seit dem 07.07.2017 haben wir einen Atomwaffenverbotsvertrag als UN Dokument, verabschiedet in New York von 122 Staaten – ein historisches Dokument des Überlebens- und Selbstbehauptungswillens der übergroßen Mehrheit der Staaten. Er ist vergleichbar dem Verbotsvertrag zu Chemie- und biologischen Waffen.
Von einer Abschaffung der Atomwaffen sind wir – trotzdem - meilenweit entfernt. Warum?
Atomwaffen sind nicht nur Massenvernichtungswaffen; sie sind ein wesentliches und wirksames Machtinstrument in der internationalen Politik. Die fünf „offiziellen“ Atomwaffenmächte haben in dem Atomwaffensperrvertrag (auch Non-Proliferation Treaty oder NPT-Vertrag, 1968 unterzeichnet, 1970 in Kraft getreten) eine besondere Rolle, sie sind die „Habenden“ gegenüber den have-not-Staaten der internationalen Politik.
Ihre Besitzrolle wurde vor fast 50 Jahren völkerrechtlich anerkannt. Seit diesen fast 50 Jahren weigern sich diese Staaten ihren Verpflichtungen aus dem Atomwaffensperrvertrag, die sich aus dieser einzigartig herausgehobenen Machtposition ergeben, zu erfüllen.
Die Verpflichtung, auf die man sich in diesem Vertrag geeinigt hat, lautet, über die atomare und sogar die generelle Abrüstung bis auf Null zu verhandeln und diese zu vollziehen. Die fünf Atommächte können es sich problem- und sanktionslos erlauben, permanent gegen diesen Vertrag zu verstoßen. Die Macht der Atomwaffen sichert diesen völkerrechtlichen Verstoß ab.
Das Rechtsgutachten (Advisory Opinion on Legality of the Threat or Use of Nuclear Weapons ) des Internationalen Gerichtshofes von 1986 wird genauso ignoriert wie die jährlichen Beschlüsse der UN Generalversammlung. Es bleibt eine rhetorische, vielleicht auch zynische Bemerkung, daran zu erinnern, was der Verstoß gegen das Völkerrecht oder sogar nur der Vorwurf eines Verstoßes gegen internationale Verpflichtungen für Länder wie Irak oder Iran bedeutet hat.
Der Gleichheitsgrundsatz „one country –one vote“ wird durch die Atommächte ausgehebelt: Fünf Staaten sind gleicher als die anderen beinahe 188 Staaten.
Deswegen ist es auch kein Zufall, dass die fünf permanenten Sicherheitsratsmitglieder zugleich die fünf offiziellen Atomwaffenmächte sind. Diese entscheiden über Krieg und Frieden in der Welt und die Legitimität von politischen und militärischen Einsätzen nach der UN-Charta.
Sie sitzen an den Schaltstellen der internationalen Macht, ihr Einfluss ist stärker als ihre politische und ökonomische Kraft und Kompetenz. Frankreich und England wären ohne Atomwaffen heute mittelmäßige regionale Staaten, dramatischer Einflussverlust wäre die Folge in einer Welt ohne Atomwaffen. Dies hätte sicherlich nicht nur außenpolitische Konsequenzen für die Regierungen, sondern immense innenpolitische Konsequenzen: Die „grande nation“ wäre alles, nur nicht mehr „grande“, und auch Großbritannien wäre wohl kaum mehr als „groß“ zu bezeichnen.
Selbstwertverlust, ja eine dramatische Neubestimmung müssten die unausweichlichen Folgen sein.
Macht und Einfluss hängen also entscheidend mit dem Besitz und der Verfügungsgewalt über eigene Atomwaffen zusammen.
Deswegen auch die Ausweitung der Atommächte von den so genannten fünf offiziellen auf heute neun. Die neuen sind Indien, Pakistan, Israel und Nord Korea – alles Länder, die an Kriegen und tiefgreifenden Konflikten beteiligt sind. Es ist sicher ein Erfolg des Atomwaffensperrvertrages, dass wir keine ungehemmte Zunahme der Anzahl der Atomwaffenstaaten haben. Verfügen doch mehr als 40 Staaten der Erde über die technologischen Fähigkeiten, über den „nuklearen Kreislauf“, um in relativ kurzer Zeit zu Atomwaffenmächten zu werden.
Gebannt ist diese horizontale Proliferation sicher nicht. Verletzt wird diese auch durch das sogenannte nuclear sharing, das auch Deutschland betreibt. Mit dem Beitritt zum NPT-Vertrag, der ja innenpolitisch Ende der 60er Jahre sehr kontrovers war, hat Deutschland auf jeden Besitz und jede Verfügungsgewalt verzichtet.
Wenn jetzt deutsche Piloten in deutschen Flugzeugen mit US-Atombomben üben und diese in einem Krisen- oder Kriegsfall in das Ziel bringen sollen, was ist das anderes als ein Verstoß gegen einen völkerrechtlich gültigen Vertrag?
Die „Neuen“ sehen in dem Besitz der Atomwaffen eine Sicherheitsgarantie. Ob es nicht eher eine Unsicherheitsgarantie ist, bedarf sicher intensiver Diskussionen, ebenso wie die Frage, ob Atomwaffen auch bei den Neuen nicht zu einer Destabilisierung von Regionen und Konflikten, beispielsweise im Nahen Osten, beigetragen haben. Frieden oder die Lösung regionaler Konflikte ist für keinen der Atomwaffenstaaten aus dem Besitz entstanden.
Eher hat der Besitz von Atomwaffen zu Gefühlen von Überheblichkeit geführt und eine leichtfertige Verführung zu kriegerischen Auseinandersetzung erreicht.
Sicherheit einer ganz anderen Art kann der Besitz von Atomwaffen jedoch – mindestens kurzfristig –sehr wohl bedeuten: Die Sicherheit vor einem völkerrechtswidrigen Aggressionskrieg durch die NATObzw. Die USA. Das Musterbeispiel für diese „Sicherheit“ ist Nordkorea. Nordkoreas Schlussfolgerung aus den Kriegen gegen den Irak und Libyen ist ganz einfach: „Mit eigenen Atomwaffen, die möglicherweise sogar den ,Gegner‘, mindestens aber seine Verbündeten erreichen, können wir nicht angegriffen werden.“
Eine durchaus rationale Logik, die die Führung in Nordkorea da anwendet: die Abwehr einer Regime-Change-Politik durch Atomwaffenbesitz. Die Diskussion dieser Gedanken zeigt, wohin der Besitz der Atombombe führen kann. Die politische Realität unserer Tage widerspricht dieser Einschätzung nicht.
Politische Alternativen tun Not.
Dazu gehören eine Ausweitung der in Europa in den 70/80 Jahren erprobten und bewährten Politik der gemeinsamen Sicherheit auf andere Teile der Erde und vor allem auf die vielfältigen Konfliktgebiete, sicher immer unter Anerkennung regionaler und lokaler Besonderheiten, aber mit dem Grundprinzip, dass meine Sicherheit nur gewährleistet ist, wenn ich die Sicherheit des anderen anerkenne, sie für legitim halte und immer mit berücksichtige.
Dazu gehört die Wiederbelebung des nuklearen Abrüstungsprozesses, besonders zwischen den beiden Ländern USA und Russland, die über 93% aller Atomwaffen verfügen, mit dem Ergebnis, den Atomwaffenverbotsvertrag mitzuzeichnen und dem Ziel, eine Welt ohne Atomwaffen ernsthaft anzustreben.
Eine Welt ohne Atomwaffen würde zu einem vollständig neuen geopolitischen Schachbrett von Einfluss, geostrategischer Bedeutung, ökonomischer, ökologischer und sozialer Kompetenz führen. Die Welt würde demokratischer, eine Demokratisierung internationaler Politik einschließlich einer Demokratisierung der UN hätte eine größere Chance.
Atomwaffen sind also ein wichtiger Hebel zur Beibehaltung eines nach 1946 etablierten Zweiklassensystems der Staaten, das, durch den kalten Krieg gefestigt, die multipolare Weltstruktur immer noch fest im Griff hat. Abschaffung der Atomwaffen heißt also immer auch Ringen um mehr Demokratie und Gerechtigkeit in den internationalen Beziehungen. Abschaffung der Atomwaffen und Demokratisierung der UN hängen deshalb wechselseitig eng miteinander zusammen.
Es lohnt, sich gerade jetzt mit dem Atomwaffenverbotsvertrag „im Gepäck“ wieder stärker für eine atomwaffenfreie Welt zu engagieren.