Warten auf Wagenknecht
An der Gründung einer neuen Partei durch die Linken-Ikone scheinen Teile der Presse mehr interessiert zu sein als diese selbst — über die Gründe darf spekuliert werde.
Seit Wochen gibt es kaum ein innenpolitisches Thema, das mehr Aufmerksamkeit auf sich zieht als die mögliche Gründung einer neuen Partei durch Sahra Wagenknecht. Von der Bild-Zeitung bis hin zu weiten Teilen der Bevölkerung stehen viele einer Neugründung erwartungsvoll gegenüber. Wäre eine solche Partei die passende Antwort auf die Stimmungen in der Gesellschaft und die politische Lage im Land?
Sommerloch und Sommergewitter
Was man sich bei „Bild“ und anderen Medien dabei denkt, Wagenknecht fast zur Parteigründung zu tragen, wissen nur die Medien selbst. Immerhin waren diese bisher nicht für Kapitalismuskritik bekannt, so wie es Wagenknecht ist. Auffällig ist, dass eher Wagenknecht den Sturm und Drang mancher Medien bremst als umgekehrt. Man könnte fast meinen, dass diesen Medien mehr an einer neuen Partei gelegen ist als der Gründerin selbst.
Hatte sie erste Spekulationen noch mit dem Hinweis auf die Schwierigkeiten einer Parteigründung und ihren gesundheitlichen Zustand abgewiegelt, so steht das Ob einer Neugründung anscheinend nicht mehr zur Diskussion, nur noch das Wann. Sicherlich aber wäre diese Partei eine ernsthafte Konkurrenz nicht nur für die AfD, sondern auch für all die anderen, die sich im sogenannten linken Milieu tummeln. Für die Linkspartei selbst dürfte sie der letzte Sargnagel sein, der ihr langes Siechtum besiegelt.
Andererseits könnten aber solche von den Medien angefachten Diskussionen nichts weiter sein als eine Überbrückungshilfe für das ereignislose Sommerloch. Jedoch ist das Thema schon zu lange Gesprächsstoff und Hoffnungsanker in der Gesellschaft, als dass es nur als eine Medienkampagne anzusehen ist. Andererseits ist nicht klar, welche politischen Überlegungen dahinterstecken, dass manche Redaktionen eine Wagenknecht-Partei immer wieder zum Thema machen.
Dass die Meinungsmacher besser mit Informationen versorgt sind als der Durchschnittsdeutsche, bedeutet nicht, dass sie die klügeren Schlüsse aus ihrem Informationsvorsprung ziehen. Man sehe sich nur die massiven Fehleinschätzungen in den Kommentarspalten des Mainstreams zu Afghanistan, dem Nahen Osten, der Sahelzone und natürlich auch zum Ukrainekrieg an. Die Schwächen im politischen Denken staatstreuer Kommentatoren offenbaren sich in deren Einstellung zu den westlichen Sanktionen, die doch schon längst zum Untergang Russland geführt haben sollten.
Dennoch haben viele Medien das Ohr dichter am Volk als so mancher Politiker. Befürchtet man aus diesem Grund, dass sich Unmut in der Gesellschaft auftürmt und zu einem Gewitter zusammenbraut? Hat man in den Redaktionsetagen und auch in so manchen anderen politischen Kreisen im Backstage der Gesellschaft Angst davor, dass sich aus diesem Gewitter Blitze entladen könnten, die mehr Schaden anrichten als das Donnergrollen einer drohenden Wagenknecht-Partei?
Spricht man deshalb einer neuen Partei das Wort, um dem Unmut eine neue Heimat anzubieten? Denn Parteien sind leichter zu kontrollieren als ein Schwelbrand, der sich im Unterholz der Gesellschaft ausbreitet.
Wer aber sollte neben den Medien mit ihrem Geschäftsmodell, aus Krawall Umsatz zu machen, sonst noch ein Interesse haben, Unmut durch eine neue Partei zu entschärfen?
Geheimdienste und Militär kämen dafür aus politischen Erwägungen in Frage. Aber gerade aufgrund ihrer ausgeprägten Analysefähigkeit und Einschätzungsvermögen von gesellschaftlichen Vorgängen dürften sie kaum Gefahren für die bestehende Ordnung durch unkontrollierte Proteste sehen. So bleibt das Treiben der Meinungsmacher weiterhin ein Rätsel.
Zankäpfel
Aber eine Frucht bringt diese Diskussion bereits hervor: Große Teile der Bevölkerung setzen ihre Hoffnungen auf diese neue Partei. Die Erwartungen steigen, und damit auch die Spekulationen. Mit all diesen Wünschen keimt aber gleichzeitig auch die Saat der Zwietracht auf. Das ist nicht anders zu erwarten, denn zu viele Hoffnungen von zu vielen Hoffnungslosen sind mit dieser Partei verbunden. Die Hypothek wächst von Tag zu Tag.
Wagenknecht scheint das zu ahnen, hat sie doch schon jetzt zu erkennen gegeben, dass sie selbst die Auswahl über ihr Führungspersonal treffen will. Es wird also erst einmal handverlesen. Ehe es richtig losgeht, will sie sich wohl schon eine Hausmacht schaffen, eine Dynastie, auf die sie sich glaubt verlassen zu können. Aber sie sollte die Lehren der Geschichte bedenken. Königsmörder kamen meistens aus der eigenen Dynastie.
Dass Wagenknecht eine zuverlässige Mannschaft um sich scharen will, ist nicht verwerflich, vielleicht sogar vernünftig. Das erhöht den Zusammenhalt der Partei in ihrer Anfangsphase. Mit dem frühen Aufstellen eines festgelegten Führungskreises wird aber manchen basisdemokratischen Illusionen von vorneherein eine Abfuhr erteilt. Diese Ausgangslage verschlechtert andererseits auch die Aussichten von Karrieristen oder Volksrednern für den direkten Durchmarsch zu den Fleischtöpfen der gut dotierten Parlamentssitze.
Wagenknecht ist gebranntes Kind aus den Zeiten von „Aufstehen“, jener Bewegung, die so sang- und klanglos in der Versenkung verschwand, wie sie aus dieser aufgetaucht war. Und hier lag auch eines der Probleme dieses Sammelsuriums: Es gelang nicht, Perspektiven und Handlungsmöglichkeiten zu entwickeln. Wagenknecht ist zwar Kristallisationspunkt, aber nicht zukunftsweisend. Ihre Visionen enden an den Grenzen von Parlament und Kapitalismus.
Nachdem die Leute „aufgestanden“ waren, liefen sie unverrichteter Dinge in verschiedene Richtungen auseinander. Es fehlte Ausrichtung auf ein Ziel, das der Großteil der Bewegung als ein gemeinsames ansah, und so konnte sich auch kein gemeinsames Handeln entwickeln. Natürlich war Wagenknecht alleine mit der Größe dieser Aufgabe unweigerlich überfordert, was auch nicht anders zu erwarten war und ihr nicht angekreidet werden kann. Aber sie erkannte zwei Dinge nicht: dass es ein gemeinsames Ziel braucht und dass dieses den Mitgliedern zur Diskussion gestellt werden muss, wenn sie selbst kein Ziel anbieten kann, das von allen unterstützt wird.
Klasse statt Masse
Diese politischen Fehleinschätzungen waren bereits früher deutlich geworden. Zu ihrer Protestkundgebung gegen den US-Raketenangriff auf Syrien vor dem Brandenburger Tor im April 2018 kamen einige Tausend Teilnehmer. Das waren nicht sehr viele. Aber trotzdem kann man mit einigen Tausenden viel erreichen, wenn man den Menschen sinnvolle Vorschläge machen kann.
Stattdessen forderte sie, dass man noch mehr werden müsse. Aber wofür? Was hätte es geändert, wenn einige Tausend mehr gekommen wären? Selbst wenn nur wenige kommen, muss man darauf vorbereitet sein und Vorschläge machen können, wie diese wenigen dazu beitragen können, dass es mehr werden. So gingen Tausende, die vielleicht zu mehr hätten bewegt werden können, unverrichteter Dinge nach Hause.
Bei der Sammlungsbewegung „Aufstehen“ kamen immerhin 140.000 zusammen. Aber auch mit diesen konnten keine Vorstellungen entwickelt werden, wie es nun weitergehen soll. Folglich zerfiel die Bewegung ohne nachhaltiges Ergebnis. Im Februar dieses Jahres hatte Wagenknecht in Berlin zu einer Friedenskundgebung mit Alice Schwarzer aufgerufen. Zehntausende kamen. Man stellte in Aussicht, dass dies nicht die letzte Kundgebung und Aktion sein würde. Darauf warten die Menschen bis heute.
Die begleitende Unterschriften-Aktion für den Frieden in der Ukraine und gegen deutsche Waffenlieferungen hatte Hunderttausende erreicht. Das waren nicht nur Unterschriften. Das waren auch Kontakte, die man hätte einbeziehen und mobilisieren können. Man hätte diese auch um Rat und Vorschläge bitten können. Denn es kann nicht erwartet werden, dass zwei Menschen alleine stellvertretend für Hunderttausende Konzepte entwickeln. Aber das geschah gerade nicht.
Bis heute gibt es auch keine Erklärung für diese Zurückhaltung, die aber nötig gewesen wäre, damit den Anhängern dieses Verhalten verständlich bleibt. Zwar waren aus 140.000 fast eine Million geworden. Das aber zeigt: Es kommt nicht nur auf die Masse an, sondern auch darauf, Handlungsmöglichkeiten vorschlagen zu können, die als solche angesehen werden und umsetzbar sind.
Eine neue Partei ist nötig
Nun ist Parteigründung angesagt. Diese steht auf der Tagesordnung und ist politisch unbestritten notwendig. Die bisherigen Parteien bieten keine Aussicht mehr auf Verbesserung der Lebensumstände für die überwiegende Mehrheit der Menschen in Deutschland. Von dieser Stimmung in der Gesellschaft profitiert auch die AfD. Auch sie ist nicht in der Lage, einen Ausblick anzubieten. Der Rückschritt in überholte gesellschaftliche Zustände wie zum Beispiel die Nationalstaatlichkeit ist kein Ausweg für die Zukunft.
Auch wenn diese Partei ohne Zweifel notwendig ist, so braucht es aber eines mit Sicherheit nicht: eine weitere werteorientierte Partei wie all jene, die Politik und Diskussion in unserer Gesellschaft seit Jahren bestimmen. Werteorientierung stellt sich immer mehr als politische Sackgasse heraus. Das bedeutet nicht, dass Moral keine Rolle spielen darf. Die Doppelmoral des politischen Westens hat wenig mit Moral zu tun. Das ist Willkür im fadenscheinigen Gewand von Werten.
Stattdessen braucht die Gesellschaft eine Partei, die sich an Interessen orientiert, und zwar an den Interessen der einfachen Menschen in Deutschland. An den Interessen jener 30 bis 40 Prozent, die nicht mehr zur Wahl gehen und sich aus der intellektuell und werteorientiert geprägten Diskussion verabschiedet haben. Deren Themen müssen in den Vordergrund gestellt werden.
Das sind Preissteigerungen und Wohnungsnot, niedrige Löhne und hohe Mieten. Das sind die finanziellen Bedrohungen und Existenzängste durch eine von Rechthaberei und Ideologie geprägte Klimapolitik, aber auch die Altersarmut und das Elend an den Tafeln als Folge von Altersarmut und Arbeitslosigkeit. Das sind aber auch die verschlechterten Bedingungen des Gesundheitssystems wie lange Wartezeiten für Arzttermine und wachsende Zusatzkosten. Und nicht zuletzt die Bevormundung durch Genderpolitik und Sprachvorschriften.
Diese Menschen sind die gesellschaftliche Kraft, die wirklich über Kraft verfügt. Für sie muss eine neue Partei nicht nur ein Sprachrohr sein, sondern auch eine Organisationsplattform, die Protest auf die Straße trägt und nicht nur in den Plenarsaal. Alles andere gibt es schon, und eine weitere werteorientierte, grün oder sozialdemokratisch denkende Partei ist überflüssig.
Wagenknecht selbst ist verfangen in der Werteorientierung. Sie will mehr Gerechtigkeit im Kapitalismus. Das ist ehrenhaft. Aber guten Willen hatten bisher alle Parteien; von SPD über die Grünen bis zur Partei Die Linke. Jedoch haben sich die Strukturen des kapitalistischen Systems — das über Jahrhunderte gewachsen ist, alle Schwächen überstanden hat und aus diesen immer wieder gestärkt hervorgegangen ist — als stärker erwiesen als der gute Wille wohlmeinender Idealisten.
Aber trotz aller Bedenken und Gefahren müssen Wagenknecht und die Partei, die sie gründen will, unterstützt werden — mit aller Kraft und vollem Einsatz. Vielleicht setzen sich in ihr jene Kräfte durch, die die Interessen der einfachen Menschen in den Vordergrund bringen. Das ist heute noch nicht absehbar.
Wenn es dieser Partei nicht gelingt, Interessenorientierung auf ihre Fahne zu schreiben und auch danach zu handeln, ist zu befürchten, dass sie wenig Zuspruch bekommen wird von jenen, die sich aus dem politischen Gerangel verabschiedet haben. Wenn es nicht gelingt, die sogenannten „einfachen Leute“ zu erreichen, nicht nur als Wähler mit Stimmzettel, sondern auch als politisch Handlungsbereite, droht dieser Partei dasselbe Schicksal wie all den anderen werteorientierten Parteien, die es gut meinten.
Aber selbst wenn es sich anders entwickeln sollte, muss diese Partei mit aller Kraft unterstützt werden, damit immer deutlicher wird, dass die Werteorientierung eine Sackgasse ist. Interessenorientierung ist das politische Gebot, und die Aufgabe besteht darin, diese Interessen klar und deutlich zu benennen und unmissverständlich ausgerichtet an den Bedürfnissen der einfachen Leute.