Vorwurf ohne Substanz

Antisemitismus hat die Realität jüdischen Lebens schon immer verfehlt. Heute dient der Begriff als rhetorischer Schutzwall gegen Kritiker des israelischen Faschismus.

In der letzten Zeit kann man fast an jeder Ecke sehr ernste Warnungen vor dem Antisemitismus hören. Eine Rede, eine Parole, eine falsche Sprache, ein Tuch, ein rotes Dreieck, eine Wassermelone — auch ein Stück davon — reichen, um auf jeden Fall „antisemitische Tendenzen“ auszumachen. Man kann auch sagen: Ein Apfel ist eine Banane. Alles andere ist Antisemitismus. Bei aller kafkaesken Lächerlichkeit muss es uns darum gehen, sich des Begriffes Antisemitismus bewusst zu werden, um mit diesem Vorwurf offensiv umzugehen. Denn gerade jene, die dieses Schlagwort wie Tränengas einsetzen, bedienen sich des Kerngehalts des Antisemitismus: Herrschaftsverhältnisse auf den Kopf zu stellen, um sie zu schützen.

Beim Antisemitismus geht es nicht um die Wirklichkeit jüdischen Lebens

Das klingt im ersten Augenblick verstörend bis crazy.

Beim Antisemitismus geht es nicht um den Hass auf „Juden“, sondern um das, was man in sie hineinprojiziert hatte und hat.

Die allermeisten Nicht-Juden wussten gar nicht, was und wer ein Jude ist. Das gilt ganz besonders für die Zeit in den 1920er und 1930er Jahren. Der „Judenstern“ der Nazis war folglich notwendig, um die zu markieren, die man als Jude gar nicht erkannt hätte.

Die meisten Juden lebten so unauffällig wie alle anderen auch. Aufgrund der jahrhundertelang gepflegten christlichen Judenfeindlichkeit waren sie darüber hinaus auf der Hut, sich auf besondere Art sichtbar zu machen.

Die allermeisten Juden in Deutschland kannte man nicht — bis auf die wenigen, die der christliche Judenhass schon immer als das BÖSE markiert hatte. Jene wenigen Juden, denen die Geldgeschäfte vorbehalten waren, die lange im Christentum bis in den Feudalismus hinein als Sünde gebrand-markt wurden. Die Rothschilds & Co. waren also vor allem ein Produkt des christlichen Antisemitismus.

Die übergroße Mehrheit der Juden lebte in Ghettos oder in ärmlichen Verhältnissen am Rand der Gesellschaft. Sie hatten nichts zu sagen und waren ohne Einfluss. Das stört die Judenhasser nicht. Im Gegenteil: Das ist die Grundlage des Antisemitismus.

„Die Juden“ hatten nichts mit den Juden zu tun, sondern mit denen, die sie als Projektionsfläche benutzten.

Und das war naheliegend: Sie waren als Sündenböcke seit Jahrhunderten markiert, für all das, was Feudalismus, Ausbeutung und später Kapitalismus ausmacht: unverschämter Reichtum, unglaubliche Verschwendungssucht.

Der Antisemitismus ist eine Ideologie und ein Herrschaftsinstrument zugleich.

Das heißt eben auch, dass der Antisemitismus die Zeit reflektiert, also v/erklärt, in der er wirkt. Daraus ergibt sich, dass der Antisemitismus an die jeweiligen Herrschaftsinteressen angepasst wird. Die entsprechenden Wirklichkeitspartikel gibt es in den verschiedensten historischen Epochen:

Sei es der religiöse/christliche Antijudaismus, der den „Judas“ als Verräter und Gegenbild zu „Jesus“ erfunden hat.

Sei es den „Geldjuden“ in Zeiten des Feudalismus, als Geldgeschäfte für Christen verboten waren und auf diese Weise der „Geldjude“ für alles herhalten sollte, was mit Schulden und Zinsen zu tun hatte.

Auf all dies konnte der deutsche Faschismus aufsetzen und dabei eins draufsetzen: Er erfand das Gespenst von der „jüdisch-bolschewistischen Weltverschwörung“. An dieser Mischform erkennt man am deutlichsten, dass es nicht um die Juden ging, sondern um das Generieren von alten und neuen Feindbilder. Das neue Feindbild war dabei der Kommunismus in Gestalt der KPD. Diese bekämpfte man am besten, indem man den Antikommunismus mit dem Antisemitismus in einer Zuchtanstalt kreuzte. Dass all dies nichts mit der Wirklichkeit zu tun hatte, war mehr als gleichgültig. Festhalten kann man jedenfalls, dass der Antisemitismus im Dritten Reich, im deutschen Faschismus Staatsräson war.

Und auch im Nachkriegsdeutschland hält sich der Antisemitismus dort hartnäckig, wo man Bill Gates nicht für seine milliardenschweren Politiken verantwortlich macht, sondern wegen seiner jüdischen Herkunft.

Auch so kann man das, was der Kapitalismus von Profit- in Machtakkumulation umwandelt, ins „jüdische“ Wesen umlenken — was ja nichts anders bedeuten soll als: Der Kapitalismus ist ganz in Ordnung, wenn es nicht die „Bill Gates“ gäbe.

Dass der Antisemitismus spätestens nach 1967 ein Schattendasein führt, die bedingungslose Solidarität mit dem jüdischen Staat Israel zur parteiübergreifenden „Staatsräson“ avanciert ist, ist kein Zufall und auch keine willkürliche Haltung.

Damit wurde auf gewisse Weise der militärische Sieg Israels getoppt. Fortan konnte das Gedenken an den Holocaust problemlos mit Kriegsverbrechen, internationalen Rechtsbrüchen, Post-Kolonialismus und kriegstüchtigem Staat verzahnt werden.

Das klingt auf den ersten Blick verstörend. Die Begründung für diese „Zeitenwende“ liegt im Wesenskern des Antisemitismus selbst begründet.

Zentrale Merkmale des Antisemitismus

Obgleich der Antisemitismus also in der je wirksamen Epoche verschieden modelliert ist, gibt es ganz zentrale Merkmale, die für alle Modelle gelten müssen.

Die antisemitische Verschwörungsideologie imaginiert eine omnipotente Macht der Juden.

Diese zieht im Verborgenen ihre Fäden und hält so die Wirtschaft, die Politik und unser aller Leben in der Hand. Was dem normalen Menschen verborgen bleibt, erkennt der Antisemitismus: Hinter dieser abstrakten Macht verbergen sich die Juden, die für Elend und Reichtum, für Schmutz und Glanz gleichermaßen verantwortlich gemacht werden.

Mithilfe dieses imaginierten Feindes werden die wahren Herrschaftsverhältnisse auf den Kopf stellt.

Damit verteidigt man diese zugleich — indem man in „die Juden“ all das hineinprojiziert, was der Kapitalismus an Elend und Ausbeutung produziert. Dabei erweist sich der Antisemitismus als Schutzheiliger des Kapitalismus: Er erfindet das schaffende Kapital, das gut, ehrlich und blütenweiß ist. Und als Gegenbild schafft er das raffende Kapital, das Verderben, Elend und Hunger produziert. Man muss es vorsichtshalber dazusagen: Mit dem „raffenden Kapital“ sind die Juden gemeint.

Der Antisemitismus verortet die Macht dort, wo sie nicht ist.

Der Antisemitismus lebt und gedeiht im Irrsinn: Er macht aus marginalisierten und diskriminierten Juden einen übermächtigen Feind, den man gefahrlos aus dem Weg räumen „muss“. Er ist damit ein Komplize der Herrschaft und nicht sein „größter“ Feind.

Diese antisemitische Verschwörungs-ideologie ist also das Gegenteil einer Analyse:

Sie verblendet und verschleiert Herrschaftsverhältnisse und gibt armen Schweinen das Gefühl, Her-renmenschen zu sein.

Die Ideologie des Antisemitismus kann man als eine doppelte Paradoxie begreifen:

• Man behauptet, Herrschaftsverhältnisse zu durchschauen, indem man sie zum Verschwinden bringt.

• Der Antisemitismus bietet uns Schuldige, die Juden an, um die wirklich Mächtigen zu schützen.

Das Phantom der Antisemitismus-Oper

Mit dem in Deutschland als „Blitzsieg“ — in gekonnter Anlehnung an den Blitzsieg gegen Polen 1941 — gefeierten Sieg der israelischen Armee gegen die „Araber“ und der damit einhergehenden Besetzung palästinensischer Gebiete in Syrien, Westjordanland und Gaza bahnte sich eine notwendige staatsmännische Wende an. Der jüdische Staat hat sich als mächtig, als überlegen, als sichere Bank im arabischen Raum erwiesen. Ab diesem Zeitpunkt hat er sich als eine zentrale Stütze in der imperialistischen Ordnung des Westens bewährt und ausgezeichnet. Aus „David“ ist ein „Goliath“ geworden.

Damit ist dem Antisemitismus ein wesentliches Axiom genommen worden: Der imaginierte Feind, der tatsächlich schwach und wehrlos ist. Eigentlich ist damit der Antisemitismus obsolet geworden, zumal ja das Bekenntnis zum jüdischen Staat einen Staat meint, in dem die Juden gerade keine Opfer sind, sondern privilegiert sind, das Sagen haben.

Das Schlagwort „Antisemitismus“ hat die Substanz eines Hohlkörpers

Der Begriff wurde gekapert, umgedreht und nun gegen jene verwendet, die die imperiale Politik in und zusammen mit Israel kritisieren.

Selbstverständlich wussten die Herren der Bewusstseinsindustrie, dass man diese Kritik an dem Staat Israel nicht im Geringsten mit Antisemitismus in Verbindung bringen kann. Dafür fehlen schlicht die Grundbedingungen.

Die Kritik am staatlichen Vorgehen Israels hat sich keinen imaginierten Feind aufgebaut, wie im Antisemitismus, sondern ist mit einem realen, sehr mächtigen Feind konfrontiert. Diese Kritik kann und mag falsch sein. Aber das hat nichts mit Antisemitismus zu tun.

Dieser haarsträubende Missbrauch sollte in Folge mit einem Trick aus dem Weg zu geräumt werden: Fortan sprachen Politiker und Medien vom sekundären und seit ein paar Jahren vermehrt vom Israel bezogenen Antisemitismus.

Letztere Begriffsfindung ist eigentlich ein offenes Bekenntnis zur ideologischen Raubkunst. Lassen wir einmal beiseite, dass sich die palästinensischen Menschen in den besetzten Gebieten keine deutsche Lehrstunde in Sachen Antisemitismus anhören wollen. Moshe Zuckermann, in Tel Aviv lebend, sagte einmal sehr treffend sinngemäß:

Die PalästineserInnen brauchen keinen Antisemitismus, um auf Israel wütend zu sein.

Der Scheinbegriff vom Israel bezogenen Antisemitismus bezieht sich ja hauptsächlich auf all jene, die in Deutschland den Vernichtungskrieg in Gaza, den Genozid nicht totschweigen, sondern zur Sprache bringen.

Jetzt ließe sich einwenden, dass diese pro-palästinensischen Proteste nur Kritik an dem Staat Israel als Vorwand nehmen, um ihren Antisemitismus durch die Hintertür auszuleben.

Dieser vorgebliche Blick in die wahre Seele des pro-palästinensischen Protestes ist aus einem weiteren Grund haarstäubend: Bis heute gibt es keine öffentliche Erwähnung von und Auseinandersetzung über profaschistische Kräfte in Deutschland und im Ausland, die Israel eben nicht zum Teufel wünschen, sondern feiern!

Bemerkenswert an der bedingungslosen Solidarität mit dem jüdischen Staat ist das politische Spektrum, das sich da zusammentut: Es reicht von der sich selbst inszenierenden politischen Mitte, bis hin zu den nicht unbedeutenden Teilen der „Neurechten“, von AfD bis hin zu Teilen der „Sezession“.

Und gerade die postfaschistischen Fraktionen machen das offen und sichtbar, was die politische Mitte mit vornehmer Zurückhaltung unterstützt und möglich macht: Sie feiern Netanjahu als den starken Mann, den sie sich auch für Deutschland wünschen. Ein Mann, der sich nichts vorschreiben lässt, der die institutionelle Gewaltenteilung für liberalen Bullshit hält und der genau weiß, dass es nicht auf die Einhaltung von Gesetzen ankommt, sondern auf das Gewaltpotenzial, über alle Gesetze und Grenzen hinweg Fakten zu schaffen.

Dass die deutschen „Neurechten“ dies begrüßen, ist kein Irrtum, so wenig wie die Unterstützung der Netanjahu-Regierung von Mitgliedern, die sich selbst als Faschisten bezeichnen. Dazu zählt ganz prominent der israelische Finanzminister Bezalel Smotrich.

Wenn hier also mit dem Scheinbegriff „Israelbezogener Antisemitismus“ massiv und rechtsbrecherisch die propalästinensischen Proteste zerschlagen werden sollen, dann dient dieser ausschließlich als Leichentuch, unter dem sich Neokolonialismus, Imperialismus und Staatsterrorismus verbergen. Das ist auch der Grund, warum sich heute die „politische Mitte“, die „Neurechten“ und die Faschisten so nahe sind.

Wer sich also wieder daran erinnert, welche Bedeutung der Begriff Antisemitismus hat, der kommt dann wieder an seinen Kern:

Der Antisemitismus stellt die Herrschaftsverhältnisse auf den Kopf und verteidigt sie damit. Und genau das geschieht in der Israel-Palästina-Debatte von Regierungsseite ständig und sehr gewollt. In diesem Weltbild sind die Palästinenser daran schuld, dass die Israelis nicht in Frieden auf geraubtem Land leben können. In diesem Weltbild sind die Palästinenser die Terroristen und somit die größte Gefahr für die in Israel beheimatete „moralistische Armee“ der Welt. In diesem Weltbild verteidigt sich David mit den großherzigsten Freunden gegen einen Goliath, der mit den allerschlimmsten Monstern im Bunde ist.

Das wird hoffentlich an einem zentralen Baustein dieser auf dem Kopf stehenden Weltsicht deutlich: Vom 8. Oktober 2023 bis zum 19. Januar 2025, also über vierzehn Monate lang, verteidigte, verteidigte, verteidigte sich Israel in einem vom ihm besetzten Land, namens Gaza, im besetzten Westjordanland, auf den besetzten Golan-Höhen und im einst besetzten Südlibanon und ab und an in Syrien.

Wer sich diese verkehrte Welt vor Augen führt, also dieses geschlossene Weltbild, dem wird dann die Welt des Antisemitismus lebendig. In der wissenschaftlichen Debatte tauchte einmal der Begriff des strukturellen Antisemitismus auf, der genau dies zu erfassen versuchte. Offensichtlich ahnte man die Gefahr, die mit dieser Erkenntnis verbunden sein könnte und löschte ihn aus der Diskussion.

Was heute die öffentlich-rechtlich-private Bewusstseinsindustrie mit Blick auf Palästina-Israel prägt und dominiert, ist genau dieser „strukturelle Antisemitismus“— on the ground.

Es gab einen Faschismus ohne Juden und es gibt einen Faschismus mit Juden

Zweifellos war im deutschen Faschismus der eliminatorische Antisemitismus beherrschend, was übrigens nicht für alle Faschismen gilt.

Heute gibt es einen Weg in den Faschismus mit Juden, um sehr genau zu sein, mit dem Kriegskabinett Netanjahus. Um ihn herum sind Mitglieder versammelt, die unverhüllt faschistisches Gedankengut verbreiten beziehungsweise sich selbstbewusst als Faschisten bezeichnen.

Sie alle markieren nicht den Rand der israelischen Regierung, sondern das Zentrum. Dazu gehört nicht nur der genannte Finanzminister Smotrich, der ganz offen besetztes Land in israelisches Staatsgebiet transformieren will, wobei als Begründung — berührungsfrei — auch die faschistische Terminologe „Ein Volk ohne Raum“ fällt.

Der stellvertretende Knesset-Vorsitzende Nissim Vaturi von der LIKUD-Partei Netanjahus spricht davon, alle in Gaza hinrichten zu lassen. Für ihn sind Palästinenser, nachdem er sie von den Frauen und Kinder getrennt hat, „Abschaum und Untermenschen“.

Er hat ein Recht darauf, mit den Nazis verglichen zu werden.

Dass genau dies vor unser aller Augen passiert, ist ein existenzieller Grund, darüber zu reden, es zur Sprache zu bringen, sich dem Unfassbaren zu stellen.