Vorm Ende der Pandemie
Nachdem die Pandemie-Erklärung sich aus dem gesellschaftlichen Fokus schleicht, stellt sich die Frage, wie die systematische Entmenschlichung funktionieren konnte.
Wir haben in der Coronakrise eine meinungsbildende Maschinerie am eigenen Leib erlebt, die an die antisemitische Propaganda der 1930er- und frühen 1940er-Jahre erinnert, aber eine völlig andere Motivation verfolgt: Menschenleben zu retten! Wirklich? So zumindest das Rechtfertigungsargument für eine solche Politik. Die strategische Denkweise ist jedoch heute die gleiche wie damals: Menschen ihr Menschsein abzusprechen, um sich dann Unmenschliches gegen Mitmenschen ohne schlechtes Gewissen leisten zu können. Wie konnte das überhaupt gelingen?
Die strategische Denkweise
Unter der Parole „Wir retten Leben!“, „Wir schützen die Bevölkerung vorm Krankwerden und Sterben“, „Es geht um Leben und Tod!“ haben die Corona-Krisenmanager von uns, den Bürgern, bisher absolute Gehorsamkeit verlangt (1). Und das auf Kosten der Würde aller! Dabei hat Deutschland, als Staat und Bevölkerung, einen gewaltigen Fehler in seiner neuesten Geschichte wiederholt: Es hat sich samt den Grundrechten sowie der Würde eines jeden Menschen erneut in die Gewalt der Obrigkeit übergeben. Professorin Dr. Gertrud Höhler sucht dieses Menschheitsdesaster scharfsinnig wie unmissverständlich folgenderweise zu verstehen:
„Psychologisch gesehen folgt Deutschland der Einschränkung seiner Grundrechte willig, ja mit verhaltener Leidenschaft für den geleisteten Verzicht, weil die Stunde der großen Entschuldung gekommen scheint. Die Erlösung vom kollektiven Trauma steht am Horizont. Fast ein Jahrhundert trennt den Ausnahmezustand von 2020 von der schwersten Entgleisung der Nation, die einen Diktator nicht erkannte. Und wieder wählen die Deutschen das Risiko. Wieder liefern sie den Staat, ihre res publica, der Politik aus, die entschlossen zugreift — um Leben zu retten, heißt es diesmal. In großen Augenblicken ihrer Geschichte verfehlen die Deutschen das rechte Maß. Heute in der Gewissheit, auf der Seite des Guten zu stehen. Das maßlos Gute lockt“ (2).
Der Gipfel der Verletzung der Menschenwürde durch die überschießenden und übergriffigen Corona-Maßnahmen wird überall dort erreicht, wo Menschen versuchen, andere Menschen zu entmenschlichen. In diesem Sinne lautet die grundlegende Frage: Wie schaffen es Menschen, andere Menschen zu entmenschlichen?
Eigene Erfahrungen in der Vergangenheit
Das Thema der Entmenschlichung — ein anderes Wort dafür ist „Dehumanisierung“ — beschäftigt mich sehr. Vor allem, weil ich es selbst einmal erlebt habe. Im Januar 2009 wurde ich in Heidelberg von einem Unbekannten beschimpft und körperlich angegriffen: von hinten getreten, geschlagen und gegen die Wand eines Gebäudes gestoßen. Aber das war nicht das Schlimmste. Die Passanten haben alles gesehen und niemand hat seine Stimme dagegen erhoben. Bis der Besitzer einer Bar, der ebenfalls das Ganze aus seinem Lokal gesehen hatte, mir zu Hilfe eilte. Es war ein Italiener. Und er sagte dem Unbekannten, er solle damit sofort aufhören. „Siehst du nicht, dass er ein Mensch ist?!“
Der Unbekannte antwortete dem guten Italiener und sah mir dabei in die Augen: „Der ist doch kein Mensch!“ Das war für mich das Schlimmste. Das hat mich schwer getroffen. Zu erleben, dass mir ein Mitmensch mein Menschsein abspricht.
Das Menschenbild opportunistisch neu definieren
Ich verbinde diese, meine Erfahrung mit der Impfpolitik während der Corona-Pandemie. Das Wort „impfen“, „Impfung“ kommt ursprünglich aus dem Wein- und Obstbau. In diesem Kontext bedeutete dieses Wort „einpflanzen“ oder „pfropfen“. Und in der Coronakrise erreichte uns diese Bedeutung mit der Vorstellung des Veredelungsprozesses von Obstgehölzen — auf den Menschen übertragen durch die Pharmamedizin. Nämlich durch die medizinische Haltung, Lehre und Praxis, jede Krankheit nahezu ausschließlich mit Pharmazeutika heilen oder vorbeugen zu wollen. Wer geimpft war, galt also als „veredelt“, wer nicht, eben nicht. Denn es handelte sich nicht um eine natürliche, gesunde Immunisierung, sondern vielmehr um die durch den Veredelungsprozess der Impfung künstlich induzierte „Immunität“. Nur so können die Geschäfte der Pharmaindustrie aufrechterhalten werden.
Sich-impfen-Lassen war eben das Übergangsritual zum neu definierten Menschsein: der „veredelte“ Mensch! Der Rest galt als minderwertig und sogar als gefährlich. Die Nicht-Geimpften bedrohten in diesem Sinne die neue Normalität der „Verhaltensänderung“ der Bevölkerung (3).
Das war zumindest eine der latenten Grundhaltungen der aktuell vorherrschenden Überzeugung. Versunken in einer Bedrohungshysterie sowie in einem selbstgefälligen Retter- oder Beschützerwahn drängte sich für die Impf-Befürworter und Impf-Demagogen die „Nicht-Geimpften-Frage“ auf, für die sie dringend eine Lösung suchten. „Wie können wir diese Leute überzeugen, bekehren?“, fragten sie sich. Die Antwort ist aber immer schon da gewesen: die endgültige Lösung in der Gestalt des Zwangs, der strukturellen und institutionalisierten Nötigung, nämlich die direkte sowie indirekte Pflicht, sich impfen zu lassen.
Das war eben das Ziel der Impfkampagne: Alle müssen geimpft werden — unbedingt! Die rhetorische Entmenschlichung hat viele Gestalten in der Geschichte der Menschheit angenommen. Das Gefährliche daran lag und liegt gerade darin, dass sie sich in Haltung und Handlung umsetzt. Der Entmenschlichungsprozess lässt sich aber abstrakt folgendermaßen zusammenfassen: Der Andere wurde zum Fremden gemacht, der Fremde wurde zum Feind, der Feind wurde zum „Ungeziefer“ umbenannt; den als „Ungeziefer“ entarteten Menschen durfte man dann ausgrenzen und sogar vernichten. Leider ist diese Propaganda im Sinne des Entmenschlichungsprozesses im Bewusstsein der Öffentlichkeit weltweit immer wieder erfolgreich gewesen.
Inhuman logisch
Besorgniserregend waren deshalb die dehumanisierenden Züge des Corona-Krisenmanagements, weil der „neue“ meinungsbildende Medienapparat einer erstaunlich ähnlichen Denkweise wie in der Vergangenheit anhing. Grundsätzlich ging es darum, den anderen als „nicht gleich“ zu betrachten, zu empfinden, zu behandeln. Anders als in der Vergangenheit, schloss die jüngste Rhetorik nicht an die Frage der „Ethnie“ an, sondern an die des Impfstatus. „Jenem, der sich nicht impfen lässt, sprechen wir Grundeigenschaften des Menschseins ab“: Zurechnungsfähigkeit, Gemeinschaftssinn, also Solidarität, soziale Relevanz, ökonomische wie politische Bedeutung oder auch kulturelle Signifikanz.
Der Grundgedanke hinter jedem Versuch der Entmenschlichung besteht darin, der zu entmenschlichenden Person Rechte abzuerkennen, die sonst jedem Mitmenschen als gleichwertigem Gegenüber zustehen. Damit wird jedes Unrecht gegen die Entrechteten gerechtfertigt.
Das war die Rechtfertigung des Heidelberger Unbekannten und das wollte auch die jüngste Impf-Politik durchsetzen. Das Narrativ war für mich sonnenklar: Der Nicht-Geimpfte war, wenn nicht ein Nicht-Mensch, zumindest kein gleichwürdiger Mensch. Diese Denkweise, die sich in politisches Handeln umsetzte, ist nicht nur grundgesetzwidrig. Sie ist vor allem auch menschenrechtswidrig.
Die Impfkampagne, ich will fast sagen: Impfpropaganda, zeigte deutliche Unterscheidungszüge, die einen Entmenschlichungsprozess in Gang gesetzt haben. In dieser Rhetorik stellte der durch die Impfung „veredelte“ Mensch das neue Menschenbild dar. Die Trennung, die dabei herauskommt, markiert ebenfalls einen Unterschied in der Anerkennung der Grundrechte. Wer nicht durch die Impfung veredelt wurde, war im Grunde genommen kein gleichwürdiger Mensch mit dem Status „eines gleichen“ und verfügt daher auch nicht über die gleichen Grundrechte wie der „veredelte“ Mensch.
Zurück zur Sache selbst, zu der Würde des Menschen
Freiheit und Gleichheit müssen aber stets zusammen gedacht werden. Wer einem Mitmenschen in die Augen schaut und ihn als Mensch anerkennen will, muss ihn auch als einen freien und als seinesgleichen erkennen wollen. Menschlichkeit und Menschenliebe sind daher mit keiner Form der Entmenschlichung vereinbar.
Wie sollen wir humane, gerechte Maßnahmen entwickeln können, wenn das Hauptkriterium für Humanität, nämlich die Menschenwürde, von vornherein aufgehoben wird? Oder wie Gertrud Höhler es noch einmal sehr prägnant formuliert hat:
„Die Würde ist ein Wächteramt, das beide, Bürger und staatliche Gewalt, zum erfolgreichen Umgang mit Herausforderungen anleitet“ (4).
Der erste Schritt zur Vernichtung von Menschenleben besteht gerade in der geistigen, aber fatalen Aufhebung der Menschenwürde. Die Würde des Menschen ist mehr als ein schöner philosophischer Begriff. Sie ist nicht nur ein geistiges Erbe des Renaissance-Humanismus. Sie ist das Allerheiligste der Humanität als geistig-kultureller Lebensform des Organismus Mensch.
Sie ist lebensnotwendiger als Sauerstoff und Wasser, wenn es darum geht, ein menschliches Leben in Selbstbestimmung und Autonomie zu führen. Das sind ihre Koordinatenachsen. Die Würde des Menschen bewahrt uns alle vor jeder Art von Dehumanisierung.
Quellen und Anmerkungen:
(1) Eine überarbeitete Fassung dieses Artikels erscheint in Kürze in: Javier Y. Álvarez-Vázquez. 2023. Vernichtungslage - Das Ende der Pandemie: Ethisch-philosophische Probleme der Corona-Krise. Norderstedt: Paper Books.
(2) Gertrud Höhler. 2020. Die Würde des Menschen ist unantastbar. München: Heyne, Seite 20.
(3) Zum Terminus „behaviorchange“ im Kontext der Corona-Pandemie siehe Bill Gates. 23. April 2020. „The First Modern Pandemic: The scientific advances we need to stop COVID-19.” Gates Notes: The Blog of Bill Gates. https://www.gatesnotes.com/Health/Pandemic-Innovation, accessed on 30. Januar 2022.
(4) Gertrud Höhler. 2020. Die Würde des Menschen ist unantastbar. München: Heyne, Seite 23.