Vor der Auslöschung
Ist der Mensch in der Lage, seinen eigenen Untergang zu verhindern?
„Der Mensch hat sich bis dato wie ein Lemming verhalten. Er bevölkert die Erde, ohne sich groß darum zu sorgen.“ So sieht es der belgische Anthropologe und Wirtschaftskolumnist Paul Jorion in seinem Essay „Der letzte macht das Licht aus“. In diesem geht er der Frage nach, ob der Mensch überhaupt dafür gewappnet ist, seine eigene Auslöschung zu verhindern.
Zu Beginn des 21. Jahrhunderts sieht sich der Mensch zu seiner Überraschung mit seinem eigenen Untergang konfrontiert. Dieser, so steht es für Paul Jorion fest, klafft als dunkler Abgrund vor dieser Spezies auf, und droht, sie schon bald zu verschlingen. Er vergleicht die Katastrophen, die auf die Menschheit zukommen, mit einem Soliton, einem Paket aus mehreren Wellen, ähnlich einem Tsunami, der aufs Ufer zurast. Dieses Soliton besteht, laut Jorion, aus drei Komponenten: Dem Klimawandel, der Komplexitätskrise unserer heutigen Gesellschaft sowie dem instabilen Finanz- und Wirtschaftssystem.
Ursache sei der kolonialistische Lebensstil der Menschheit, der sich durch die Natur frisst, ungeachtet des Schadens, welchen er dabei anrichtet. Dies ging, so der Autor, so lange gut, wie es noch zu kolonialisierende Landstriche gab. Damit ist es nun aber vorbei, und so machen sich die ökologischen Verwerfungen bemerkbar.
Die angedachten „Lösungen“ sind jedoch nicht dazu geeignet die Vielzahl der Probleme zu lösen. Der Mensch hat sich daran gewöhnt, alles der „unsichtbaren Hand“ des Marktes zu überlassen. Deshalb begegnet er auch den sich abzeichnenden Katastrophen allein mit marktwirtschaftlichen Methoden. So wird der Schutz der Umwelt nur dann angepackt, wenn dieser „sich rechnet“, und zwar nicht für die Allgemeinheit, sondern für Einzelne, deren unbedingtes Ziel die Profitmaximierung ist.
Auch die Politik hat keinen wirksameren Hebel zu bieten. Das gegenwärtige System erfasst das Leben der Menschen quantitativ, also in berechenbaren Zahlen und Daten, wie zum Beispiel beim Geld, nicht jedoch qualitativ. Dieses Denken hat auch längst schon die Politik erfasst, weshalb diese allein quantitativen Methoden und damit Methoden des „Marktes“ zur Bewältigung der ökologischen Katastrophe heranzieht. So werden alle Lösungen in die Profitmaximierungslogik des herrschenden Systems gepresst.
Tatsächlich zählt die Meinung der Mehrheit der Bevölkerung überhaupt nicht und spiegelt sich somit auch nicht in den Entscheidungen der Politik wider. Es sei denn, sie fällt mit der Meinung der Eliten zufällig zusammen.
Es ist nämlich eine Wirtschaftselite, die zumindest in den USA den Ton angibt, so Jorion unter Verweis auf eine Studie zweier amerikanischer Wissenschaftler. Jedoch fügt er hinzu, dass es sich in Europa wohl kaum anders verhält.
Die Herrschenden sind jedoch nicht am Allgemeinwohl interessiert, sondern allein am Erhalt der Macht. So fördern sie Meinungen, die mit ihren eigenen zusammenfallen. Daher ist es auch wenig verwunderlich, dass die amerikanischen Eliten sogenannte „Klimaskeptiker“ zu den guten Bürgern zählen, während jene, die an den Klimawandel glauben, zu den Extremisten gezählt werden. Erstere vertreten damit die Meinung der amerikanischen Handelskammer.
Jorion betont, dass die einzige „Lösung“, welche die menschliche Zivilisation stets für komplexe Fragen bereithält, der Krieg sei. Dieser jedoch kann den Klimawandel nicht verhindern. Überhaupt befinde sich die Menschheit auf dem Abstellgleis. Sie stelle zu viele nutzlose Fragen in einem hinfälligen Rahmen, eben jenem System, das sie in diese schwierige Situation gebracht hat. Die einzige Hoffnung sieht Jorion einzig im radikal Neuen. Um dieses umzusetzen ist es jedoch unerlässlich, die „Reichtumskonzentrationsmaschinerie“, welche unsere heutige Gesellschaft antreibt, zu zerschlagen.
Auf Kosten unserer Nachfahren
Es ist eine Binsenweisheit, dass wir heutzutage auf Kosten unserer Nachfahren leben. Jorion sieht dies aber schon in den Grundlagen des Finanzsystems verankert. Dort werden die Schulden immer an die nächste Generation weitergereicht. Ähnlich verhält es sich in ökologischer Hinsicht. Der Mensch versucht, kurzfristig so viel Nutzen aus dem Planeten zu ziehen, wie ihm möglich ist, und überlässt den angerichteten Schaden seinen Nachfahren. Es ist also das kurzfristige Denken, welches das Handeln der Gesellschaft bestimmt. Dies ist auch tief in das Rechnungswesen von Konzernen eingraviert. Diesem ist die Plünderung von Unternehmen durch ihre Vorstände und Aktionäre inhärent, denen somit das Schicksal der Unternehmen an sich vollkommen gleichgültig ist.
Im kapitalistischen System ist Wachstum unabdingbar. Dies dient jedoch nur dazu, die stetig wachsenden Zinsen an die Finanzinstitute zurückzuzahlen. Diese generieren auf diese Weise einen massiven Umsatz, obwohl ihr Anteil am BIP verschwindend gering ist.
In einem solchen wirtschaftlichen System sind die sogenannten Wirtschaftswissenschaften keine Wissenschaften, sondern eher ein politisches Programm, das unter dem Deckmantel der Objektivität und unpolitischen Neutralität daherkommt.
Auf diese Weise werden dessen sogenannte Sachzwänge als eine Natürlichkeit ausgegeben, der man sich nicht widersetzen könne. Die Entscheidungen werden damit auch nicht Politikern überlassen, sondern sogenannten „Experten“. Auf diese Weise kontrolliert die Wirtschaft längst schon den Staat.
Menschliche Unzulänglichkeiten
Doch Jorion beschränkt sich nicht auf eine Analyse des Wirtschaftssystems an sich, sondern interessiert sich auch für die Kapazitäten des Menschen. So kommt er zu dem Schluss, dass auch der Mensch selbst von kurzsichtigem Denken beherrscht ist: Einzig sein Drang zur Reproduktion bestimmt sein Handeln. Die Zeitspanne, die der Mensch auf der Erde verbringt, ist nur kurz, und so kann er nicht erfassen, was in der Zukunft liegt, und hat auch von der Vergangenheit nur ein verschwommenes Bild, sorgt sich aber auch um beides nicht sonderlich.
Der Autor bezeichnet auch den freien Willen sowie das Bewusstsein als reine Illusion. In Wahrheit sei es allein der Körper, der Entscheidungen trifft. Das Bewusstsein schaltet sich erst mit Verzögerung ein, um die vorgenommenen Handlungen zu rationalisieren und in die Erinnerung einzuspeisen, um sie gegebenenfalls in der Zukunft in ähnlich gelagerten Fällen zu reaktivieren. Diese Erinnerung fehlt jedoch bei einer Katastrophe neuen Typs, also jener des Klimawandels, sodass es dem Menschen unmöglich ist, eine Erinnerung zu reaktivieren. Der Mensch steht dieser Katastrophe somit vollkommen planlos gegenüber.
Das Ziel menschlichen Lebens ist der Selbsterhalt, sowohl individuell, als auch als Spezies. Dies aber widerspricht einander. Ein menschliches Vorhaben wird vom Individuum als Anspannung wahrgenommen, die sich mit Erreichen des Ziels löst und einer angenehmen Entspannung weicht. Dies aber ist im Falle des Arterhalts nicht möglich.
Das wahre Übel
Der Mensch kann nicht glauben, dass er sterben wird. Daher hat er über Jahrtausende das „wahre Leben“ auf ein Jenseits verschoben und darüber hinaus vergessen, das Diesseits zu bewahren. So hat sich die Mentalität „Nach mir die Sintflut!“ in das Bewusstsein des Menschen eingebrennen können. Zugleich würde jedoch kein Mensch das Leben, das er führt, akzeptieren, wenn nicht am Ende die Erlösung des Todes warten würde. So hat er sich auf dieser Erde eingerichtet und vertreibt sich nur die Zeit bis zu seinem Tod, nach welchem er das „wahre Leben“ zu leben erhofft.
Dabei sieht Jorion nicht in der Religion an sich das Übel. Diese bringt, im Gegenteil, stets eine gewisse Ethik mit sich, doch schwingt in ihr auch immer die Überzeugung mit, dass „Gott“ mit „uns“ sei, wodurch es zu einem Ausschluss des „anderen“ kommt.
Das wahre Übel hingegen macht Jorion im Ultraliberalismus aus. Dies ist die spontane Philosophie des Händlers, der nicht das Gemeinwohl im Auge haben soll, sondern stets nur sein eigenes. Die einzige Priorität dieses Händlers ist es, seinen Reichtum zu vergrößern, eine Philosophie, die sich bereits in alle Lebensbereiche des Menschen ausgedehnt hat.
Die einzige Rettung ist für den Autor eine neue Religion. Diese darf jedoch keine institutionalisierte, und muss eine atheistische sein. Ihr Credo ist, dass das Überleben der menschlichen Spezies gesichert werden muss. Die Gründe für dieses Credo liegen aber gleichzeitig im Dunkeln, bilden damit also den für jede Religion notwendigen Mythos.
Können wir die Spezies retten?
Doch selbst wenn wir die Spezies retten wollten, so wäre es uns unmöglich. Interessengruppen, die auf die Politik einwirken, vertreten immer nur ein Interesse, weshalb gleichzeitig andere Interessen ausgeblendet werden. Derzeit ist die meinungsführende Interessengruppe allerdings eine der Geschäftswelt identische Minderheit. Deren Interesse steht jedoch jenem der Mehrheit entgegen. Der Abgrund breitet sich vor der Menschheit aus, und wenn wir so weitermachen wie bisher, ist der Untergang gewiss.
So kommt Jorion zu dem Schluss, dass der Mensch nicht das Potenzial hat, sich zu retten. Denn eine Änderung findet nur dann statt, wenn sie „sich auszahlt.“ Auf diese Weise verhindert das Establishment den notwendigen Wandel.
Jorion bietet aber die Möglichkeit, die Auslöschung der Spezies Mensch als Fortschritt zu betrachten. Möglicherweise war es nur seine Aufgabe, die Maschine zu entwickeln, die als zukünftige Intelligenz den Planeten bevölkern wird. Er sieht darin die Verwirklichung des Hegelschen Weltengeistes, man könnte es aber auch als Fortgang der Evolution bezeichnen.
Zudem sieht er die Zeit gekommen, mit der Trauerarbeit um die menschliche Spezies zu beginnen. Dies, so seine Schlussfolgerung, sei ein Abenteuer, das die Geschichte des Universums markiert haben wird. Schließlich gebe es so viele Planeten, „auf denen nun wahrlich nichts Interessantes passiert.“
Mit seinem Essay legt Jorion eine nüchterne Bestandsaufnahme des Zustandes vor, in welchem sich die menschliche Spezies befindet. Er tut dies nicht, um Politiker zu überzeugen, sondern schlicht um „die Karten offenzulegen“. Zugleich gibt er uns damit die Möglichkeit, uns über unsere Situation klarzuwerden, sie zu begreifen und zu verarbeiten. Untermalt wird dies mit zahlreichen wissenschaftlichen Quellenverweisen.
Diese, so muss man jedoch konstatieren, beinhalten auch viele Verweise auf seine eigenen Arbeiten. So ist das Bild, das sich hier bietet, nicht vollkommen objektiv. Auch schweift Jorion oft von seinem Hauptthema ab, wirft viele Fäden aus, die er am Ende nicht alle wieder zusammenführt, und so hat das Essay einige Längen, deren Sinn sich auch im Nachhinein nicht unbedingt erschließt. Seine Schlussfolgerungen, der Mensch sei nicht mehr zu retten, und möglicherweise sei seine Aufgabe nur die Entwicklung der Maschine gewesen, verleitet jedoch auf gefährliche Weise zur Untätigkeit. Sie lädt dazu ein, sich mit diesem als wahrscheinlich proklamierten Schicksal abzufinden, und sich in Passivität zu flüchten.
Alles in Allem legt er jedoch einen guten Abriss über die drohende Auslöschung der menschlichen Spezies vor und verdeutlicht damit die Dringlichkeit der Probleme, denen wir uns gegenübersehen.