Von Krieg und Knechtschaft
Viele Regierungen nutzen die Verwicklung ihres Landes in bewaffnete Konflikte als Vorwand, um die Grundrechte einzuschränken.
Das erste Opfer des Krieges ist die Wahrheit, das zweite häufig die Freiheit. Geht der Frieden, hat auch die Freiheit im Land meistens einen schweren Stand. Die tatsächliche oder vermeintliche Dringlichkeit der Landesverteidigung lässt in der Regel wenig Raum für Nuancen und Differenzierung. Schnell wird die öffentliche Meinung auf Kriegskurs gebracht, werden Abweichler unter dem Beifall der Mehrheit der Mitläufer ausgegrenzt. Alles, was vorher als demokratische Tugend galt, wird unter den Bedingungen des Krieges zu einer Gefahr, welcher der Staat meint, mit harter Hand begegnen zu müssen. Transparenz wird zu Geheimnisverrat, Meinungspluralismus begünstigt Landesverrat, Friedensliebe spielt dem Feind in die Hände. Die Idee, gemeinschaftlich erwirtschaftetes Geld auch für andere Zwecke auszugeben als für Rüstung, ist Wehrkraftzersetzung. Krieg ist der Ausnahmezustand schlechthin und verlangt auch an der „Heimatfront“ von allen Bürgern Disziplin und Zusammenhalt. Bürgerrechte sind in diesem Kontext oft nur lästiger Ballast und werden von Krieg führenden Regierungen rasch und entschlossen über Bord geworfen. Daraus folgt: Selbst wer nicht so viel Wert auf den Frieden legt — um der Freiheit willen sollte alles getan werden, um Kriege zu vermeiden.
„Die Forderung nach innerer Sicherheit in Kriegszeiten lädt zu Nachlässigkeit bei der Wahrung der bürgerlichen Freiheiten und des Rechts auf Privatsphäre ein. Häufig sind die Menschen nur allzu bereit, ihre Freiheiten auf dem Altar des Autoritarismus zu opfern, der als notwendig erachtet wird, um sicher zu sein. Nichts würde die Terroristen mehr erfreuen, als wenn wir bereitwillig einige unserer geschätzten Freiheiten aufgeben würden, um uns gegen ihre Bedrohung zu verteidigen.“
Ron Paul, US-Präsidentschaftskandidat im Jahr 2012 und Abgeordneter im Repräsentantenhaus der Vereinigten Staaten von 1976 bis 2013
Die globale Sicherheitslage war schon lange nicht mehr so brenzlig wie aktuell. Kürzlich wurde publik, dass Generäle der deutschen Luftwaffe einen Anschlag auf die Krimbrücke geplant haben. Der Krieg in der Ukraine begann ursprünglich als Stellvertreterkonflikt. Die Gefahr einer direkten Konfrontation zwischen der NATO und der Russischen Föderation wird zunehmend realistischer. Ein Atomkrieg ist nicht mehr auszuschließen. Auch im Nahen Osten und im Südchinesischen Meer steigt das militärische Konfliktpotenzial rasant. Schlafwandelt die Welt in einen neuen großen Krieg?
Je weiter sich die Eskalationsspirale dreht, desto stärker drehen die Politiker an den Schrauben des Ausnahmezustandes. Kriege und Bürgerrechte — das beißt sich. Kriege laden Politiker quasi dazu ein, die Freiheiten der Bürger im eigenen Land einzuschränken.
Getreu dem Motto: „Lass niemals eine Krise ungenutzt.“ Häufig nutzen politische Entscheidungsträger Kriege als Vorwand, um den staatlichen Machtapparat auszubauen. Der Krieg ist nicht nur der größte Feind des Friedens, sondern auch der Freiheit. Folglich ist die Friedfertigkeit ein untrennbarer Bestandteil der Idee der Freiheit. Beispielsweise ist das Nichtaggressionsprinzip der Nucleus des Libertarismus.
„Defence of the Realm Act“: Blaupause für staatliche Zensur
Wir schreiben den 4. August 1914. Das Vereinigte Königreich erklärt dem Deutschen Kaiserreich den Krieg und tritt somit offiziell in den Ersten Weltkrieg ein. Drei Tage später verabschiedete das britische Parlament den „Defence of the Realm Act”. Mit diesem Gesetz wurde die Regierung dazu ermächtigt, die Medien im eigenen Land zu kontrollieren und zu zensieren. Die britische Medienlandschaft war gleichgeschaltet. Allerdings herrschte unter den britischen Journalisten – mit wenigen Ausnahmen – vorauseilender Gehorsam. Das Regierungsnarrativ übernahmen sie kritiklos (1). Ist das heute anders?
Weltweit wurde das Vereinigte Königreich für seinen Propaganda- und Zensurapparat bewundert. Der „Defence of the Realm Act” galt als Blaupause und Vorbild für Joseph Goebbels' Propaganda-Ministerium im deutschen Nationalsozialismus. (2) Er ist ein klassisches Beispiel dafür, wie Kriege als Legitimation dienen, von heute auf morgen Grundrechte wie Presse- und Meinungsfreiheit außer Kraft zu setzen – besonders in Staaten mit einer liberal-demokratischen Verfassung. Liberal-demokratische Staaten, so zeigt sich oft, sind in Krisenzeiten nicht minder anfällig wie autokratische Gebilde, Grundrechte abzuschaffen.
„Patriot Act“: Eine neue Ära des Überwachungsstaates beginnt
Am 11. September 2001 begann eine neue geopolitische Ära mit dem sogenannten „Krieg gegen den Terror“. Die USA und ihre NATO-Partner haben neue Kriege im Nahen Osten entfacht: Im Irak, in Afghanistan, Libyen, Syrien und weiteren Ländern.
Doch 9/11 ist nicht nur als Zeitenwende in der Geopolitik zu verstehen. Auch das Verständnis der Privatsphäre innerhalb der westlichen Classe politique hat sich fundamental verändert. Wenige Wochen später verabschiedete der US-Kongress den „Patriot Act“, mit welchem die Grundrechte der Bevölkerung massiv eingeschränkt worden sind. US-Bürger und Amerika-Besucher erleiden seither eine nie dagewesene Überwachung und Spionage. US-Geheimdienste haben sogar die Mobiltelefone von ausländischen Staatschefs wie Angela Merkel abgehört.
Der „Patriot Act“ hat weltweit Schule gemacht. Auch in der Schweiz ließ man sich inspirieren. Die Schweiz hat eines der strengsten Anti-Terror-Gesetze in Europa. Kürzlich enthüllte die Republik, dass der Schweizer Nachrichtendienst (NDG) den Internetverkehr sämtlicher Bürger systematisch überwacht.
Der gläserne Bürger gehört in liberal-demokratischen Staaten inzwischen zum Normalzustand. Das Grundrecht auf Privatsphäre existiert nur noch auf dem Papier und in Sonntagsreden von Politikern.
Der Schweizer Bürgerrechtler Nicolas A. Rimoldi schlussfolgert: „Es ging nie um die Überwachung von Einzelnen, sondern stets um die totale Überwachung aller Menschen!“
Ukraine-Konflikt: Abschaffung der Grundrechte im Namen der Demokratie
Es vergeht kein Tag, an dem nicht ein westlicher Politiker pathetisch und gebetsmühlenartig predigt, in der Ukraine würden „Freiheit” und „Demokratie“ verteidigt. Solche Parolen erinnern an den Satz des ehemaligen deutschen Verteidigungsministers Peter Struck: „Die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland wird auch am Hindukusch verteidigt.“
Die Ukraine in einem Atemzug mit „Freiheit” und „Demokratie“ zu erwähnen, ist — äußerst zurückhaltend ausgedrückt — sehr gewagt. Oppositionelle Medien und Parteien sind dort verboten. Sprachliche Minderheiten werden systematisch unterdrückt. Kritische Journalisten landen auf Todeslisten oder im Gefängnis, wo beispielsweise der amerikanisch-chilenische Journalist Gonzalo Lira verstarb.
Am 28. Februar 2022 beschloss die Europäische Union, russische Medien wie Russia Today oder Sputnik zu verbieten. Das Verbot würde so lange gelten, „bis die Aggression gegen die Ukraine ein Ende hat und die Russische Föderation sowie die ihr nahestehenden Medien ihre Desinformations- und Informationsmanipulationsmaßnahmen gegen die EU und ihre Mitgliedstaaten einstellen“. Doch was bedeuten eigentlich „Desinformation“ und „Informationsmanipulationsmassnahmen“? Das weiß wohl nur die EU-Kommission.
Flankiert wird die Zensur gegen russische Medien mit dem „Digital Services Act“, der im Herbst 2023 vom EU-Parlament verabschiedet wurde. Es gibt der Kommission die Befugnis, auf Social-Media-Plattformen auch nicht rechtswidrige Inhalte als löschpflichtig zu deklarieren. Sie darf von nun an nach eigenem Gutdünken entscheiden, was entfernt gehört und was nicht.
Während angeblich westliche Werte verteidigt werden, schaffen ebenjene westlichen Regierungen die Grund- und Bürgerrechte im eigenen Land peu à peu ab.
Auch auf nationaler Ebene wird die behördliche Zensur gegen unliebsame Meinungen massiv vorangetrieben. Beispielsweise stimmte Schweden, bekanntlich ein EU- und demnächst ein NATO-Mitglied, vor Kurzem für eine Verfassungsänderung. Gemäß dieser Änderung ist nun strafbar, Informationen weiterzugeben, die das Verhältnis Schwedens zu anderen Staaten oder Organisationen wie der NATO oder den Vereinten Nationen schädigen könnten.
Die Zensurmaßnahmen im „Wertewesten“ nehmen inzwischen ein Ausmaß an, das sehr stark an die Zeit während des Ersten Weltkriegs erinnert. In der jüngsten Vergangenheit wird die Unterdrückung abweichender Stimmen zunehmend populärer. Der Linguist Noam Chomsky und der Ökonom Edward S. Herman erklärten den Mechanismus der Selbstzensur in den Massenmedien in ihrem Werk „Manufacturing Consent: The Political Economy of the Mass Media“. Heute gleicht die Zensur immer mehr einem Stiefel, der jemandem ins Gesicht drückt – um es mit George Orwells drastischen Worten zu formulieren.
Als Konsequenz des russischen Einmarschs in die Ukraine beschnitten westliche Staaten das Grundrecht auf Eigentum. Wir erinnern an uns an die öffentliche Debatte über die Enteignung russischer Vermögenswerte wie Jachten. Russen stehen unter Generalverdacht, Handlanger Putins zu sein. Diese Sippenhaft ist ähnlich illegitim, wie wenn man Christoph Blocher für den Bruch der Schweizer Neutralität bestrafen würde. Aktuell planen die EU- und NATO-Staaten, mit den 150 Milliarden Euro an russischen Vermögenswerten den „Wiederaufbau“ zu finanzieren. Auch die Schweiz, die übrigens als einziges Land der Welt die Wirtschaftsfreiheit als Freiheitsrecht anerkennt, ist Komplize dieser Enteignung (3).
Neben der Meinungs-, Presse- und Eigentumsfreiheit geraten auch andere Grund- und Menschenrechte unter Druck. In Deutschland versuchen Universitäten, die Lehraufträge von Dozenten zu kündigen, die sich kritisch über den Ukraine-Krieg äußern. Die Politikwissenschaftlerin Ulrike Guérot und der Journalist Patrik Baab stehen als Pars pro Toto für den desolaten Zustand der Forschungsfreiheit im Westen.
Im Baltikum werden ethnische Russen, die seit Generationen dort leben, mittlerweile als Bürger zweiter Klasse behandelt. Beispielsweise kennt Lettland 80 Unterschiede zwischen lettischen Bürgern und „Nicht-Bürgern“, zu denen ethnische Russen gehören. Diese „Nicht-Bürger“ haben weniger Menschenrechte, als Beamte, Polizist oder Notar dürfen sie nicht tätig sein. Der lettische Staat verweigert ihnen das aktive und passive Wahlrecht. Seit Kurzem verlangt das lettische Gesetz, dass die ethnischen Russen einen Sprachtest ablegen müssen. Wer diesen nicht besteht, wird abgeschoben.
Wer für die Freiheit ist, muss gegen den Krieg sein
Wie zu Beginn erwähnt, ist der Krieg nicht nur der größte Feind des Friedens, sondern auch der Freiheit. Denn mit dem Krieg ruft der Staat den Ausnahmezustand aus, und mit dem Ausnahmezustand werden Bürger für eine unbestimmte Zeit ihrer Grundrechte beraubt.
Demnach kann für einen freiheitsliebenden und humanistisch denkenden Menschen einzig und allein die Schlussfolgerung lauten, den Krieg mit aller Entschiedenheit abzulehnen. Denn nur in Zeiten des Friedens kann die Freiheit gedeihen.
Es kommt nicht von ungefähr, dass die Schweiz, die zwei Weltkriege unbeschadet überstanden hat, bis heute als eines der relativ freiesten Länder der Welt gilt. Nur dank ihrer integralen und bewaffneten Neutralität, dem Friedensinstrument der Außenpolitik, war dies möglich. Doch auch während der zwei Weltkriege verordnete die Schweizer Regierung Notrecht und schränkte die Grundrechte ihrer Bürger ein.
Wir schlussfolgern: Je stärker ein Land von Krieg betroffen ist – sei es nur in Bezug auf die geografische Nähe zum Epizentrum des Krieges – desto eher fühlt sich die Politik ermutigt, den Ausnahmezustand auszurufen. Demzufolge sollte jeder pflichtbewusste und freiheitsliebende Staatsbürger dafür sorgen, dass sich die Politik von Kriegen im Ausland fernhält. Mit zunehmender Involvierung in eine kriegerische Auseinandersetzung steigt die Wahrscheinlichkeit, dass die Bürger ihrer Freiheit beraubt werden.
Sehr viele selbsternannte Liberale, die sich sonst als sehr staatskritisch gerieren, trommeln gerne für den Krieg, um die „Demokratie” und die „Freiheit“ gegen „Autokratien“ in anderen Ländern zu verteidigen. Beispielsweise brüstet sich FDP-Verleger Markus Somm als „absoluter Kriegstreiber“.
Sie reden sehr leichtfertig vom Krieg. Doch in den allermeisten Fällen gehen solche Journalisten und Intellektuelle nicht selbst an die Front. Sterben müssen andere. In der warmen Redaktionsstube lässt es sich halt sehr gerne über Krieg sinnieren.
Viele Liberale lassen außer Acht, dass sie mit solcher Kriegsrhetorik den gesellschaftlichen Diskurs in eine freiheitsfeindliche Richtung verschieben. Sie bereiten den Nährboden für einen Staat, der dann den Ausnahmezustand ausrufen und somit die Grund- und Bürgerrechte einschränken wird. In der Konsequenz kann bei liberalen „Kriegstreibern“ nicht mehr von freiheitlichem Gedankengut die Rede sein. Nur wer den Krieg konsequent ablehnt und den Frieden mit aller Entschlossenheit verteidigt, ist ein freiheitlich denkender Mensch.