Vom Wachsen

Wie ihr geliebter Pflaumenbaum reifte eine Frau durch die Konfrontation mit Schwierigkeiten — dies inspirierte sie zur Gründung einer naturnahen Kindergruppe.

Die Guten, die Linientreuen haben dich aus ihrer Mitte verstoßen — vielleicht weil du ein „Corona-Skeptiker“ bist, vielleicht auch aus anderen Gründen. Und jetzt? Willst du wirklich zurück in die Herde, oder meinst du nur, das wollen zu müssen? Die Autorin wurde durch ihre Erfahrung, ausgegrenzt zu werden, schmerzhaft auf sich selbst zurückgeworfen — und auf die Frage, was für sie im Leben wirklich zählt. Am Lagerfeuer auf ihrem Grundstück kam die Vision einer neuen Lebensaufgabe über sie: eine Gruppe für Kinder zu gründen, die zusammen die Natur erleben, basteln, kochen, den Umgang mit Tieren und Pflanzen pflegen und einander Halt und Gemeinschaft schenken sollten. Immer mit dabei: ihr Pflaumenbaum, der über die Jahre so etwas wie ihr wichtigster Lehrer geworden ist. Von dem konnte man nämlich lernen, über Verwundungen hinauszuwachsen, durch Gegenwind stärker zu werden und die Jahre mit all ihren Wechselfällen gelassen zu überstehen.

Im gestrengen Winter 2020/21 stand ich unter dem alten Pflaumenbaum auf der Wiese vor unserem kleinen Haus. In den zehn Jahren unserer Bekanntschaft hat er mein Herz berührt. Oder ich seines? Egal, derlei Rechthabereien sind uns nicht wichtig. Wir taten beide, was wir für richtig hielten, wir wuchsen.

Jahr für Jahr entspann sich unsere Geschichte. Ich erlebte seine Befreiung aus der kleinen Mülldeponie unserer vormaligen Hofbesitzer, er sah großzügig über die Schleifspuren der Baggerschaufel an seiner Rinde hinweg. Ich tauschte den ihn umgebenden Boden aus, nachdem das zu entsorgende Fass Altöl an seinem Stamm auslief, er lies es geschehen.

Ich grub Entwässerungsgräben, nachdem die kaputte Melioration der uns umgebenen Felder einen Sommer lang unseren Hof in eine Flussaue gestaltete und seine Wurzeln unterspülte. Na ja, wenn sie es braucht, könnte er gedacht haben.

Ich erlebte seine Neigung im steten Wind der Uckermark und schnitt gegabelte Weidenstangen, auf die er sich stützen konnte. Danke, hörte ich ihn ächzen.

Er lies mich gewähren, als ich ihn mit meiner neuen Astschere von den schweren Ästen erlöste, die ihn niederzogen.

Schief steht er, mein Pflaumenbaum, der, ja ich weiß, sich selbst gehört. So unglaublich schief, dass er einen schmerzhaften Bandscheibenvorfall hätte, wäre er ein Mensch. Es zieht ihn zum Boden und gleichzeitig strebt er zum Licht, mal trägt er Pflaumen mal nicht. Irgendwann werden wir beide nicht mehr sein. Ob mein die Schwerkraft ignorierender Baum mehr über die Zukunft weiß als ich?

In seiner Nachbarschaft ist meine Feuerstelle. Zeuge unzähliger Geburtstagsfeuer, Rituale, Abschiedsflammen, Wutbränden und intimen Rauchzeichen wurde mein Baum über die Jahre.

Entrindung

Im Winter des Jahres 2020/21 saß ich oft am Feuer und entrindete Unmengen an Weidenstangen. Ziele, Inhalte, Methoden....? Mein Zauselbaum fragte nicht. Ich hätte ihm nicht antworten können. Fast täglich verbrannte ich die alten Konzepte in meinem Kopf, die mir ständig neue Angebote unterbreiteten, wie es weitergehen könnte. Nur starke Feuer kamen gegen die substanzlosen Plappereien an. Ich wollte mich selber hören. Im Nachhinein weiß ich, dass die tägliche Entrindung meinem inneren Zustand Gestalt verlieh.

Nur starke Feuer linderten meinen Abschiedsschmerz und meine Trauer über die Täuschungen der alten Welt, in die ich viel investiert hatte, um dazuzugehören.

Ich schrie, tobte, greinte wie ein kleines Kind. Ich wollte mein altes Leben zurück, ich hasste mich, die plötzlich Ausgestoßene. Warum hatte ich meinen Mund nicht halten können? Warum gelang es mir nicht, so zu sein, wie man es von mir erwartete? Ich hasste all die untreuen Menschenwesen, die sich des plötzlichen Beziehungsverrats schuldig machten. Ich taumelte im Trauma meiner jüdischen Familie umher, das bis heute in mir wirkt und mit jeder neuen öffentlichen Diffamierung einen weiteren Drachenkopf gebar.

Nur starke Feuer lösten die Knoten in meinem trotzigen Herzen. Sein wütendes Prasseln gab mir die Kraft, mich in der Trümmerlandschaft meiner alten Welt umzusehen und nach Verwertbarem zu suchen.

Frühling

Als sich die ersten jungen Triebe meines Pflaumenbaumes in der Hitze kräuselten, erschrak ich über meine Gleichgültigkeit ihnen gegenüber. Nur ein Baum, nur ein Mensch, nur ein Kind, nur ein paar Wochen, nur eine Maske, nur eine Gefährdungsanzeige beim Jugendamt über die Atembeschwerden meiner Schüler, nur ein Zeitungsartikel, nur die Aufkündigung von Freundschaften, nur eine böse Mail von Kollegen, nur das Verweigern eines Blickes...

Ich ließ das Feuer runterbrennen, wurde ruhig und hörte auf, mich an den jungen Trieben zu rächen. Meine Arbeit als Lehrerin ruhte bereits, der Aufhebungsvertrag war unterschrieben, meine Theater- und Akrobatik-Kurse waren aufgrund giftigen Ausatmens verboten, meine Konzepte hatten sich in Rauch aufgelöst. Ich saß weiterhin täglich an nun kleineren, nahezu zärtlichen Feuern und wartete auf mich.

Mutter aller Fragen

Im April 2021 öffneten sich die überlebenden ersten Knospen meines Pflaumenbaumes. Wir standen beieinander. Meine Fragen umgaben mich wie alte Freunde, die ich plötzlich mit anderen Augen sah.

Wer bin ich? Was kann ich? Was brauche ich? Was nährt mich? Wo ist meine Kraft? Wo werde ich gebraucht? Wovon leben, mit wem mich umgeben? Anwesend bleiben, flüsterte mein Baum.

An diesen Moment denke ich seither, wenn Zweifel mich um Rat fragen und ich keine schnelle Lösung finde.

Ich traf die Mutter aller Fragen: Wie will ich leben?

Ob die Sonne wirklich in diesem Moment durch die Wolken brach, weiß ich nicht mehr zu sagen. Aber das Gefühl von Licht, das mich durchströmte, ist mir noch gegenwärtig. Mein Blick weitete sich, ich sah unseren Hof, wie ich ihn noch nie wahrgenommen hatte, und wusste, dass alles, was ich brauchte, schon da war.

Stille, Freude, Zärtlichkeit. Sicherheit und ich selbst. Ein heiler Ort...Heilung...heil sein...bleib anwesend ...mein Baum hielt den Raum. Wo war ich denn jetzt gelandet? Ich, aufrechte Vollzeitskeptikerin, hypersensibel beim fahrlässigen Gebrauch von weichgespülten Vernebelungsvokabeln.

Ich erfasste die Dimension unseres Geländes am Feldrand und sah einen ausgebauten Bauwagen, 6 bis 8 Meter lang, einen Clown Ferdinand Wagen mit Sonnenblumen vor der Tür. Neben ihm ein Unterstand aus Eschenholz, eine Feuerstelle auf der großen Wiese hinterm Garten. Im angrenzenden Wäldchen standen kleine Staffeleien, bespannt mit Papier. Ich sah fünf bis sechs Kinder dort malen, sah mich mit ihnen über die Wiesen und Felder wandern, sah uns gemeinsam kochen, Äpfel ernten, schneiden, fädeln, trocknen. Ich sah Eltern, die gern auf einen Schwatz am Morgenfeuer standen, ich sah sie gemeinsam mit ihren Kindern am Nachmittag aufräumen, sah Freunde zum Mittag vorbeikommen, Eis spendieren und mit den Kindern übers Leben plaudern.

Ich sah die Kinder und mich Holz sammeln, Schweine erschrecken, Dachsbauten erforschen, Pferde füttern und auf der Koppel helfen. Ich sah uns im Winter dionysische Bastelarien veranstalten, vorlesen, und wie jeden Tag durch die Natur stromern. Ich fühlte eine Tagesstruktur, die sich aus dem gemeinsamen Leben ergibt und wohlwollend Platz für jeden Einzelnen meiner Feld- und Wiesengemeinschaft macht.

Visionen haben es nicht gerne hektisch

Meine inneren Bilder waren kraftvoll, aktuell und nährend, sie wirkten auf mich. Das also war das Ding mit der Wirklichkeit. Etwas in mir wusste, dass ich soeben eine Vision hatte, ich empfing etwas, dass die ganze Zeit schon anwesend war. In mir und hier auf unserem Hof.

Als schon benannte Skeptikerin behielt ich meine Bilder einige Wochen für mich. Sie schwanden nicht, ich ging in ihnen spazieren, führte meine Zweifel und Fragen aus und fühlte Heimat.

Ich besuchte einen älteren Freund und bat um Rat. „Wenn du eine echte Vision hattest, wird sie konkreter, wenn nicht, verschwindet sie wieder, warte ab. Visionen haben es nicht gerne hektisch.“

Ich erzählte meinem Mann von mir und unserem Pflaumenbaum, er wunderte sich nicht.

Ich malte meinen Söhnen mein Bild und wappnete mich gegen ihre Zweifel. Ist doch cool, sagten sie. Ich bat meine Herzensfreunde, um Feedback. „Wir fühlen es“, war ihre Reaktion.

Einige Abende später betrachteten meine Freunde und ich einen Feldblumenstrauß, wir trugen die Pflanzenbezeichnungen zusammen. Als der Name „wilde Möhre“ fiel, wusste ich, dass meine Kindergruppe ihren Namen gefunden hatte.

Für meine inhaltliche Sortierung begann ich, ein Konzept zu schreiben, wie ich es schon viele Male zuvor getan hatte. Während des Schreibens zogen sich die Bilder vor mir zurück. Was war los?

Du kannst nicht zweimal in denselben Fluss steigen. Klar Heraklit, alter Grieche, recht hatte er.

Ich begann, meine Motivation zu befragen. Warum hier? Warum so? Es gibt tausend Kindergruppen, Montessori-, Pickler-, Juul-, Waldorf-, Waldkindergärten... bla, bla, selbst Kneipp-Kindergärten gab es. Alleinstellungsmerkmal? Genau das war das Problem. Ich konzentrierte mich auf das, was es gibt, und nicht auf das, was ich für richtig hielt. Ich suchte die Abgrenzung, das Besondere, das Bessere, Innovative. Ich wollte beweisen, es drauf zu haben, suchte Sicherheit im Bekannten, im Erprobten, und meine Bilder traten den Rückzug an, meine Vision hatte das so nicht gemeint. Ich verließ diesen Raum, folgte dem Stift in meiner Hand, schrieb meine Fragen an mich nieder und antwortete ihnen, bis ich den Eindruck hatte, fertig zu sein.

Ich nahm Kontakt mit Gerald Hüther auf und bat um Unterstützung. Spannende Sache allerdings nicht neu, nicht das, was er suche, auf dem Laufenden könne ich ihn halten.

Warum wird immer das Neue gesucht? Warum neu, wenn wir doch das Alte, ganz Einfache und Gute nicht zu leben wagen? Für mich war das Alte neu!

Ich fühlte mich „erwischt“. Ich suchte den „großen Erlauber“, dessen Reputation ich wie eine Fahne vor mir her schwenken konnte, um persönlich nicht sichtbar zu sein. Dass Gerald Hüther dafür nicht zur Verfügung stand, war logisch. Ich dankte Gerald und folgte weiter dem Weg, der sich zeigte.

Einfach, klar und sicher für alle Beteiligten, inklusive mich sollte mein Menschenort sein, die Feld-und Wiesengruppe „wilde Möhre“.

Wie finanzieren? Was kann ich den Eltern zumuten? Was mir? Bedürfnisse, Verhältnisse, Wertigkeiten ändern sich, Leben ist Bewegung. Ein alter Hut, ja und warum weigern wir uns so hartnäckig diese Tatsache so zu integrieren? Ab wann wird ein finanzieller Wertausgleich zu Schmerzensgeld? Was wiegt Glück, gelingende Beziehungen, Gleichwürdigkeit, Zufriedenheit auf der Waage?

Menschenglück

Ich ging zum ersten Mal im Leben zum Arbeitsamt, schilderte meine Idee, bat um Unterstützung und landete in einem Existenzgründerkurs. Mein freundlicher Kursleiter verstand schnell, dass mein Vorhaben Schablonen resistent war. Wir frisierten es als handelsübliche Kindertagesbetreuung.

Oft saßen wir in meinem Garten, werteten die neuesten politischen Maßnahmen aus und stärkten uns gegenseitig. Was für ein Glück, an Robert geraten zu sein. Finanzplan, Steuerrecht to go..., nimm die Gefühle raus, riet Robert, dann nervt es einfach nur, anstatt einen fertig zu machen.

Während dieser Zeit saß ich weiterhin täglich am Feuer. Unter meinem Baum baute ich einen Rosenbogen aus alten Traubenkirschenästen und stellte ihn ins Gelände. Das ist der Eingang zur neuen Welt, scherzte mein Mann. Ich meine das ernst, legte er noch einen drauf und umarmte mich. Was für ein Glück, diesen Mann an meiner Seite zu haben.

Ich stellte mein Konzept und mich dem Jugendamt vor.

„Schade, dass wir für Sie keine Schublade haben“, hörte ich.

„Dann erfinden sie doch eine“, wir lachten gemeinsam über die Schwerfälligkeit des Systems und fantasierten, wie es besser für alle sein könnte.

„So wie Sie ticken, machen Sie bestimmt keine Tagesmutterausbildung?“, wurde vermutet.

„Nein, mach ich nicht, ich bin keine Dienstleistung, ich bin ein Mensch. Das gilt es, zu lernen miteinander. Die Eltern, Kinder, ich, wir tragen gemeinsam Sorge für die Feld- und Wiesengruppe „Wilde Möhre“. Wir geben uns eigene Regeln.“

„Dann können wir Sie nicht finanzieren, so gerne wir es möchten.“
„Gut, dann bespreche ich mit den Eltern, wie wir damit umgehen.“

Was für ein Glück, so wunderbare Frauen kennengelernt zu haben.

Während dieser Prozesse bauten künftige Eltern, zusammen mit meinem Mann und meinem ältesten Sohn den Unterstand, den ich in meiner Vision gesehen hatte. Der Bauwagen für wenig Geld und mit wunderbarer Transgender-Geschichte kam wenig später.

Was für ein Glück, Axel zu kennen, der uns auf ihn aufmerksam machte.

Der Wagen auf der Wiese hinterm Haus fügte sich ins Gelände, als hätte er schon immer dort gestanden.

Was für ein Glück, Dieter zu kennen, der mit seinem Traktor kam.

Die Zeitung berichtete über mein Projekt.

Was für ein Glück, die Journalistin Claudia kennenzulernen, die sofort den Atem der wilden Möhre spürte.

Ob das alles mit rechten Dingen zugehe, wurde nach erscheinen des Artikels in einer anonymen Anzeige beim Jugendamt angefragt. Das schaale Gefühl schlechter Wünsche hielt nicht lange.

Ein Vorgang leider müsse angelegt werden, sagten die Frauen in der Behörde, nicht ernst nehmen solle ich derlei Zweifler, die gäbe es immer. Alles in Ordnung, ob sie mich besuchen dürften, Neugier wäre schon da. Klar, wann?

Einen gehaltvollen Vormittag verbrachten wir gemeinsam, hier wären sie auch als Kind gerne gewesen, ihren Segen hätte ich, erzählten sie, während wir über die Bildungslandschaft auf dem Lande schwatzten.

Die Feld-und Wiesengruppe „wilde Möhre“ gibt es seit fast zwei Jahren. Sie ist ein guter Ort für alle Beteiligten. Ich lerne täglich, dass Entwicklung Gemeinschaftsarbeit ist. Ich lerne täglich, dass Konflikte Teil des Miteinander sind und ich vor ihnen keine Angst haben muss.

Ich erfuhr, dass gemeinsam bewältigte Konflikte eine positive Beziehungsbiographie begründen können. Ich erfuhr, dass es in einer Gemeinschaft unterschiedliche Tempos gibt.

Ich erfuhr, dass ich meine Vision anderen Menschen nicht aufdrücken kann. Ich kann sie 100 Prozent ernst nehmen und leben und andere Menschen einladen.

Ich erfahre, dass meine Vision für andere Menschen fremd sein kann, unvorstellbar, naiv geradezu. Ich darf langsam sein, ich lerne, Pläne zu korrigieren.

Gemeinschaft bedeutet Sichtbarkeit und Gleichwürdigkeit.

Ja, ich kann auch an meinen Ansprüchen scheitern, das tut weh. Ich lerne anzuerkennen, was wirklich anwesend ist. Damit habe ich zu tun. Und mit dem Schreiben meines neuen Buches, dessen Figuren sich immer dann vor mir verstecken, wenn ich sie zu mir zwingen will. Sie sind genauso wenig Objekte wie ich, mein Pflaumenbaum und meine Mitmenschen es sind. Schelte ich sie, weil sie einen anderen Weg als den von mir Geplanten gehen, wenden sie sich ab. Ich lerne zu vertrauen und wachse.

Jeder Tag ist neu, obwohl er seine Routinen hat. Das alles ist anstrengend und ganz wunderbar lebendig.

Was für ein Glück, dass es uns gibt.