Verweigerte Versöhnung

Die Moskauer Siegesfeiern zum 9. Mai wurden verschoben — die deutsche Presse scheint das zu freuen.

Vor 75 Jahren beendete die Rote Armee mit ihrem Einmarsch in Berlin die Schreckensherrschaft des deutschen Faschismus. 27 Millionen Sowjetbürger, davon fast die Hälfte Zivilisten fielen dem Einmarsch der deutschen Wehrmacht zum Opfer oder starben im Kampf um die Befreiung Europas vom Nazi-Regime. Seither weigert sich die BRD, die historische Schuld gegenüber der Sowjetunion bzw. des heutigen Russlands anzuerkennen. Nach kurzzeitigem „Tauwetter“ kehrt die heutige Regierung wieder zu rechtskonservativer Verleugnung zurück, wie sie von einer CSU der Sechziger Jahre vertreten wurde. Und wenn Russland wegen der Corona-Krise auf die jährliche Siegesfeier verzichtet, muss es sich von deutschen Medien schon wieder heimliche Schadenfreude gefallen lassen. Eine kurze Geschichte der Geschichtsverdrängung.

Als der russische Präsident Wladimir Putin die jährliche Siegesparade am 9. Mai 2020 vor kurzem wegen der Corona-Krise auf ein unbestimmtes Datum verschob, scheuten einige deutsche Medien nicht vor Spott und Häme zurück. Aus der Verschiebung wurde gleich eine Absage und aus der bedauerlichen Tatsache, auf die wichtigste Jubiläumsfeier der russischen Gesellschaft aus Vernunftgründen vorerst zu verzichten, machte man gar schadenfrohe Schlagzeilen, etwa von einer „gestohlenen Show“, so die taz am 17. April 2020. Dieser Vorgang ist nur einer von vielen, die offenbaren, dass Deutschland, dessen historisches Erbe der schlimmste und opferreichste Angriffskrieg aller Zeiten ist, es offenbar nicht für nötig hält, die einst mit grenzenloser Brutalität überfallenen Länder wenigstens heute mit Respekt zu behandeln.

In seinem Buch „Wer hat uns 1945 befreit?“ geht der deutsche, in Moskau lebende Journalist und Korrespondent Ulrich Heyden dieser Frage der deutschen Verantwortung gegenüber den einstigen Opfern des deutschen Faschismus nach.

Er nimmt viele verschiedene Perspektiven ein, ein großer und wichtiger Teil sind die Erinnerungen ehemaliger Soldaten der Roten Armee und ziviler Überlebender des deutschen Angriffskrieges. Weitere Beiträge dokumentieren verschiedene Bemühungen und Tendenzen, an diese historische Tragödie zu erinnern oder eben auch sie zu verleugnen.

Die Artikel von Ulrich Heyden entstanden in den Jahren von 2001 bis 2020 und sind nun zum ersten Mal in Buchform zusammengefasst. Sie regen dazu an, noch einmal nachzufragen, wie es eigentlich mit der Erinnerungskultur in Deutschland bezüglich des Zweiten Weltkrieges, insbesondere des Überfalls auf die Sowjetunion steht. Diese Erinnerungskultur selbst blickt auf eine eigene 45-jährige und äußerst wechselvolle Geschichte zurück. Derzeit scheint sie sich gerade in einer Kehrtmarsch-Wendung zu schlimmsten geschichtsrevisionistischen Positionen zu befinden. Aber der Reihe nach:

Die vergessene Erinnerung

Am 22. Juni 1941 überfiel die deutsche Wehrmacht die Sowjetunion mit einem brutalen Überraschungsangriff. Während des Vormarsches gen Osten wurden zahllose Dörfer, insbesondere in Weißrussland, niedergebrannt und die Zivilbevölkerung umgebracht, angefeuert von einer antislawischen Rassenideologie. Leningrad, Stalingrad und andere Städte wurden blockiert, mit dem erklärten Ziel, die „rassisch minderwertigen“ Bewohner mit Bomben und Hungersnot zu vernichten.

Die Befreiung vom deutschen Faschismus kostete 15 Millionen Sowjetsoldaten das Leben, fast ebenso viele Zivilisten wurden ermordet oder starben an den Folgen von Überfällen und Blockaden.

Während Deutschland nicht müde wird, zu Recht an die brutale Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden zu erinnern, herrscht über den antislawischen Vernichtungsfeldzug weitgehendes Schweigen, Tatsachenverdrehung, Verleugnung.

So scheint es nur allzu richtig, wenn Andrej Hunko, führender Vertreter der Linksfraktion im Bundestag, formuliert:

„Während die deutsch-französische Aussöhnung erfreulicherweise weitgehend erfolgreich umgesetzt wurde, hat es nie vergleichbare Initiativen einer deutsch-russischen Aussöhnung gegeben“ (1).

So sehr ich das Motiv zu diesem Statement begrüße, so sehr stockt mir der Atem beim Lesen. Für Hunko hat es dann offenbar auch die DDR nie gegeben. Deutschland war in seinem östlichen Teil 40 Jahre lang in einer ganzen Kultur der Aussöhnung mit der Sowjetunion und allen osteuropäischen Ländern verbunden. Eine Gesellschaft für deutsch-sowjetische Freundschaft und regelmäßiger Kulturaustausch dienten der Völkerverständigung und der Aufarbeitung des gemeinsam erlebten Krieges.

Politischer und wirtschaftlicher Austausch mit der Sowjetunion waren bekanntlich die Grundlage der DDR, eine Aussage, die man jenseits jeglicher Bewertung treffen kann.
Die damit zusammenhängende intensive Kooperation in Wissenschaft und Bildung haben ebenfalls über Jahrzehnte zu einer weitgehenden Aussöhnung und gemeinsamen Geschichte der friedlichen Zusammenarbeit geführt.

Es ist eine kulturelle Tragödie, dass dieses tiefe Fundament friedlicher Beziehungen zwischen Deutschland und dem heutigen Russland als vermeintlich überflüssiges Anhängsel der sogenannten Stasi-Diktatur in den Orkus der Geschichte gespült wurde.
Dabei ist dieses Erbe ostdeutscher Geschichte, also die Aussöhnung mit Russland noch heute spürbar. Etwa wenn ehemalige DDR-Bürger nur kopfschüttelnd staunen können, wie ihre westdeutschen Mitbürger sich seit 2014 wieder Angst „vorm Russen“ machen lassen.

Fassungslos fragt sich wohl eine große Mehrheit der Ostdeutschen, die Russisch in der Schule hatte, russische Schriftsteller gelesen, russische Filme gesehen und in der Regel mindestens eine Stadt Russlands besucht hat: Was ist los mit diesen Menschen? Der brutale Überfall der Wehrmacht, millionenfacher rassistisch begründeter Mord, die blutigsten Schlachten der Weltgeschichte? Alles schon wieder vergessen?

Dagegen klingen so manche vermeintliche Dokumentationen über den Krieg auf russischem Boden schon fast wieder wie Nachrichten aus der deutschen Heereszentrale. Etwa wenn an die Schlacht von Stalingrad erinnert wird und man dabei von „Überraschungsangriffen der Russen“ spricht. Oder wenn das Leid der deutschen Soldaten im zähen Stellungskrieg hervorgehoben wird.

Da wird der Angegriffene zum Aggressor gemacht und der Aggressor zum Opfer. Es wird so getan, als handelte es sich um einen ganz normalen Krieg zwischen zwei Ländern mit einem Grenzkonflikt.

Und es wird nicht einmal gefragt: Was bitte hatte die deutsche Wehrmacht vor Stalingrad, tausende Kilometer von Deutschland entfernt, überhaupt zu suchen? Von zivilen Opfern ist sowieso nie die Rede.

Dafür scheinen ausgerechnet deutsche Medien zu glauben, sie hätten den historischen Auftrag, die leidvolle Stalin-Ära aufarbeiten zu müssen, als gäbe es im heutigen Russland nicht genügend Institutionen und Initiativen, die sich darum kümmerten.

Doch diese Verkehrung der Tatsachen, bei der sich Deutschland als Kämpfer für den Humanismus gebärdet und die eigene blutige Geschichte systematisch verschweigt, hat bereits Geschichte.

Man darf vor allem Ulrich Heyden danken, dass seine Artikel in der Gesamtheit dieses Wechselbad aus Verleugnung und kurzzeitiger Reue deutlich machen.

Die Geschichte der Verleugnung

Es gehörte bereits zur Propaganda des Kalten Krieges, die Verbrechen des deutschen Faschismus in der Sowjetunion kleinzureden oder gar zu verleugnen und die führende Rolle der Sowjetunion bei der Befreiung Europas vom deutschen Faschismus herunterzuspielen. Man versäumte es systematisch, an die 15 Millionen gefallene Sowjetsoldaten, die Millionen von ermordeten und gequälten Kriegsgefangenen und zivilen Opfer zu erinnern. So konnte man die westlichen Alliierten, allen voran die USA, ganz ohne dunkle Schatten als strahlende Sieger über den Faschismus feiern.

Und wenn es in der BRD vor 1989 um Russland ging, beherrschte bekanntlich seit jeher eine Melange aus Fakten und Gräuelmärchen über den Stalinismus und die KGB-Diktatur den Tenor.

Der Zweite Weltkrieg wurde von rechts-konservativer Seite gern behandelt wie ein gewöhnlicher Krieg, der sich vermeintlich historisch mit den Versailler Verträgen erklären ließ und nach dessen Ende man die Ehre der heldenhaft kämpfenden Soldaten nicht beschädigen wollte.

Während in der DDR Besuche beim sowjetischen Soldatendenkmal, im Treptower Park oder anderswo, an jeder Schule organisiert wurden, während hier in KZ-Gedenkstätten nicht nur Blumen für ermordete Juden sondern für alle Opfer des Faschismus, eben auch für Millionen ermordete russische Kriegsgefangene niedergelegt wurden, kämpften in der BRD wenige unermüdliche Einzelinitiativen um die Erinnerung an das Leid von Kriegsgefangenen und Zwangsarbeitern aus der Sowjetunion und ganz Osteuropa. Woran außer Ulrich Heyden heute wohl auch kaum noch jemand erinnert.

Er erinnert auch an eine breite Front aus CDU und CSU, die noch nie etwas auf „die Ehre deutscher Soldaten“ kommen lassen wollte. Und die die Erinnerung an den antislawischen Rassenwahn entweder völlig aus dem Gedächtnis verdrängt hatte oder vielleicht ja noch irgendwo im Inneren mit sich herum trug.

Düsteres bekommt man zu spüren, wenn man liest, wie Ulrich Heyden seinen alten Vater an die „Wirkungsstätte“ des ehemaligen Wehrmachtssoldaten in Russland begleitet. Die Abwertung des Russen ist unterschwellig immer noch da.

Antislawischer Rassenwahn und amerikanischer Antikommunismus schienen gut in den Köpfen der Deutschen zusammenzukommen und überkommenes Nazi-Erbe wach zu halten.

Bekanntlich rang sich erst 1970 Willy Brandt zum Kniefall vor den polnischen Kriegsopfern der deutschen Wehrmacht durch, und demonstrierte damit als erster Politiker öffentlich eine Anerkennung der historischen Schuld, die Deutschland gegenüber den Völkern Osteuropas auf sich geladen hat. Doch auch da war die Aufregung seitens CDU/CSU groß und man setzte alles daran, aus der Anerkennung historischer Tatsachen einen vermeintlichen „Schuldkult“ zu machen.

Von da an dauerte es noch einmal 15 Jahre bis im Jahr 1985 Bundespräsident Richard von Weizsäcker zum 40. Jahrestag der Befreiung am 8. Mai erstmals den Krieg Deutschlands in der Sowjetunion zum deutschen Angriffskrieg erklärte. Dabei war bereits offensichtlich, dass es hier um Diplomatie ging. Die Märkte schrumpften und der Osten sollte sich den Deutschen nun ein zweites Mal öffnen, nicht für Panzer aber für Investoren und wirtschaftliche Kooperation, und das wäre unter erklärten Feinden schwierig geworden.

Warum auch immer, Weizsäcker zollte dem Leid der sowjetischen Menschen im Zweiten Weltkrieg erstmals politische Anerkennung und forderte die historische Verantwortung Deutschlands für dauerhafte Friedensbeziehungen ein. Endlich schien erreicht, was längst fällig war. Jahrzehnte hatte es gedauert, um in der BRD zu diesem historischen Punkt zu gelangen, ein Tauwetter wurde eingeläutet. Schon fünf Jahre später waren die Grenzen auf und deutsche Investoren nutzten den Zerfall der Sowjetunion für ihre Geschäfte.

Ab 2014 der stramme Marsch zurück

Mit der Machtübernahme in Kiew 2014 ist der Geschichtsrevisionismus in das öffentliche Denken der Deutschen zurückgekehrt. Bei der Erweiterung des Wirkungsraumes von EU und NATO ist eben jeder Partner recht, und da es nun mal antirussische Kräfte sind, mit denen sich am besten kooperieren lässt, um den russischen Einfluss in den ehemaligen Sowjetrepubliken zurückzudrängen, scheut sich die deutsche Regierung auch nicht davor, mit offen geschichtsrevisionistischen Kräften gemeinsame Sache zu machen.

Die „neumodische“ Heldenverehrung für den Hitler-Kollaborateur Stepan Bandera und offener Geschichtsrevisionismus scheinen jedenfalls kein ethischer Hinderungsgrund für eine enge Kooperation mit der Ukraine zu sein. Stattdessen werden das politische Erbe eines Willy Brandt und eines Richard von Weizsäcker, also ein politischer Friedenskurs mit Russland aus scheinheiligen Gründen aufgegeben.

Beim Streit um die Rechtmäßigkeit des Anschlusses der Krim an Russland lässt sich zumindest kein tiefer Wille erkennen, einer historischen Verantwortung gerecht zu werden. Schon gar nicht, wenn man die Haltung gegenüber Russland mit der deutschen Haltung gegenüber Israel vergleichen würde.

Schon die von dem Historiker Hannes Heer initiierte Ausstellung „Verbrechen der Wehrmacht“ konnte nur wenige Jahre (1995 bis 2004) und nur unter gewaltigen Protesten von rechts-konservativ gezeigt werden.

Und unter Bundeskanzlerin Angela Merkel ist es wieder Normalität geworden, den Vorwurf, die deutsche Wehrmacht sei eine Armee des Verbrechens gewesen, zurückzuweisen. Man könne das nur „im Einzelfall“ prüfen. Man soll also einen brutalen Angriffskrieg, der jedem Völkerrecht widersprach, und der nachweislich auf einen rassistisch motivierten Massenmord an Zivilisten abzielte, im Einzelfall prüfen?!

Das sind Positionen, die eine erzkonservative CSU unter Franz Josef Strauß vertrat und die heute kaum noch einen Unterschied zu den Positionen der AfD erkennen lassen. Und das hat schwerwiegende Folgen für die hart erkämpfte Erinnerungskultur innerhalb der BRD. Gedächtnismonumente für russische Kriegsgefangene verschwinden wieder, Zwangsarbeiter aus der Sowjetunion sind in neueren KZ-Gedenkausstellungen angeblich plötzlich nicht mehr dokumentierbar. Und selbst vor Ort in Wolgograd will man aus deutschen Soldaten-Friedhöfen am liebsten noch Ehrenfriedhöfe machen und das Gedenken an das deutsche Grauen in Russland mit einer Franz-Josef-Strauß-Büste schmücken.

Aussöhnung beginnt mit dem Blick von der anderen Seite

Dabei wäre und ist die Aussöhnung mit Russland, insbesondere mit ehemaligen Sowjetsoldaten und mit zivilen Überlebenden des Krieges beziehungsweise mit ihren Kindern und Enkeln, die mit den Geschichten von Tod und Leid aufwuchsen, gar nicht so schwer.

Auch hier ist wieder das Buch von Ulrich Heyden zu empfehlen, dem es gelang, in den letzten zwanzig Jahren noch einige ehemalige Sowjetsoldaten und Kriegszeugen zu interviewen. Wer die Geschichte eines achtjährigen Jungen liest, der seine gesamte Großfamilie bei deutschen Massakern verlor und dann jüngster Soldat bei der roten Armee wurde, der hat nicht mehr viel Nahrung für ein Feindbild. Vor allem dann nicht, wenn man spürt, wie dankbar dieser inzwischen hochbetagte Mann ist, dass ein deutscher Journalist sich für seine Geschichte interessiert.

Oder wir begleiten zwei Enkelinnen in ein ehemaliges Kriegsgefangenenlager, wo ihr Großvater als junger Mann unter entwürdigenden Umständen verhungert ist. Es geht ihnen nicht um Rache oder Wut, es geht ihnen darum, die letzte Station des Großvaters zu kennen, Erde mitzunehmen für das Grab der Großmutter, die ihn nie vergessen und nie wieder geheiratet hat. Es sind traurige Geschichten und doch auch hoffnungsvolle, denn sie sind erfüllt von der Sehnsucht nach Aussöhnung und Frieden.

Jeder einzelne russische Zeitzeuge beteuert, keinen Hass auf Deutsche zu haben. Sie trennen deutsche Menschen und deutschen Faschismus voneinander. Sie verweisen auf die lange Zeit, die seither vergangen ist. Nimmt man ihre Perspektive ein, kann man gar nicht anders, als dankbar zu sein für ihr Verzeihen und ihre Bereitschaft zu vergessen, an die Versöhnung der Völker zu glauben und an die Vernunft moderner Zeiten.


Quellen und Annmerkungen:

(1) Das Zitat stammt aus seinem Grußwort zu „Wer hat uns 1945 befreit?“ von Ulrich Heyde