Verstummte Schreie unter der Maske

Während der Corona-Jahre häuften sich schwere Menschenrechtsverletzungen, speziell an Altenheimbewohnern. Die Verantwortlichen bleiben weiter unbehelligt.

In seinen eigenen vier Wänden darf man machen, was man will, und einladen, wen man will. Selbst unter der Fuchtel von „Corona“ waren die Menschen zu Hause noch einigermaßen sicher. Nicht so die Bewohner von Alten- und Pflegeeinrichtungen. Diese entwickelten sich zwischen 2020 und 2023 zu Gefängnissen für Unschuldige. In Alteneinrichtungen, so lernte man schon sehr bald, waren die Heimleiter und ihr Personal unumschränkte Herrscher. Ihnen hatten sich nicht nur die Insassen, sondern auch ihre Besucher bedingungslos zu unterwerfen. Man verfügte darüber, wen sie wann treffen konnten, wann sie ihr Zimmer verlassen durften, welcher Abstand einzuhalten war und womit sie ihr Gesicht bedecken mussten. Die Autorin erlebte einen besonders drastischen Fall am eigenen Leib, als sie einen Freund regelmäßig im Altenheim besucht. Nicht nur für diesen, auch für sie selbst waren die Gängelung durch die Betreiber unerträglich. Der Freund ist während des Lockdowns verstorben. Die Autorin wagt einen Rückblick, der ihr Corona-Tagebuch — veröffentlicht 2020 in Rubikon — vervollständigt.

Die Folgen der künstlich hochgeschraubten Coronagefahr im Frühjahr 2020 wurden auf MEINER HAUT ausgetragen. Und auf dem Rücken vieler Tausender.

Die staatlichen Verordnungen für die jeweilige – politisch manipulierte – Gefahrenlage riefen viele willfährige Geister auf den Plan, die zum Durchpeitschen der Maßnahmen zur Verfügung standen. Oft über das „notwendige“ Maß hinaus. Besonders in den Altenheimen wurde den Menschen das Leben oftmals zur Hölle gemacht, den Bewohnern ebenso wie ihren Angehörigen.

Ein gewisser Lothar Wieler, seinerzeit Leiter des Robert Koch-Instituts (RKI), verkündete am 17. März 2020 – laut der nun veröffentlichten Akten des RKI –, dass die Risikoeinschätzung für Corona geändert worden sei. Sie würde jetzt als hoch eingeschätzt; während sie vorher als mittel und niedrig eingeschätzt worden war.

Genau in dieser Zeit führte ich ein Tagebuch über meine Besuche in einem Altenheim in Neukölln, in dem mein Freund seit 2017 untergebracht war. Von Besuch zu Besuch war das Verschärfen der Maßnahmen im Frühjahr 2020 deutlich spürbar und lag wie ein Schatten über dem Lebensende meines Freundes.

Meine erste Eintragung ist datiert vom 15. März 2020. Einen Tag zuvor waren die Heime geschlossen worden. Ab morgen, hieß es, fährt die Bahn ein Notprogramm. Von meinem Wohnort in Mecklenburg bis Fürstenberg Havel brauchte ich eine halbe Stunde mit dem Auto, von dort eine gute Stunde mit der Regionalbahn bis Südkreuz, und von dort noch ein paar Minuten mit der S-Bahn bis zu seinem Heim.

Ich setzte mich ins Auto. Ich jagte durch die mecklenburgischen Wälder in Richtung Fürstenberg. Ich erreichte die Bahn. Bald schon stand ich vor der gläsernen Eingangstür des Heimes. Mein Freund durfte kurz vor die Tür kommen. Vielleicht ein paar Minuten. Immerhin, wir konnten uns sehen. Ein paar Tage später, Eintrag vom 23. März 2020, war der Eingang bereits mit Verbotsschildern zugehängt, mein Freund kam mit dem Rollator und stellte ihn ab, um mich zu begrüßen. Seine Fingerspitzen berührten die Glastür. Von innen. Ein Aufpasser zog ihn am Ärmel zurück. Mein Freund lachte. Ist das hier alles ein Spiel? Wir machten Faxen, blödelten. Ich mit meinen weißen Einweghandschuhen. Wie lustig! Bis ich Tränen in den Augen meines Freundes hinter dem Glas sah. Ich reichte schnell die Tafel Rittersport hinein. Und die gelben Forsythien, die ich unterwegs gepflückt hatte.

Mein Freund wurde weggeführt. Ich durfte abziehen.

Kurz vor Ostern wurden wir vertröstet, dass es nach Ostern eine „Lockerung der Ausgangsbeschränkungen“ geben würde. Aber erst nach Ostern, allerdings nur, wenn wir uns über Ostern „vernünftig“ verhielten. Ich schrieb in mein Tagebuch: „Ich fühle mich verarscht von diesem Kasperletheater.“ In den Medien prangten die Gesichter von Angela Merkel, Armin Laschet und Jens Spahn.

Es war Ostersonntag. Ich fuhr nach Berlin. Ostern war immer unser Fest. Er wartete schon an der gläsernen Eingangstür. Unbemerkt hatte er sie öffnen können. Und hielt mir jetzt die Arme entgegen, um mich zu begrüßen. Die Schwestern stürzten heran. Sie konnten das frevelhafte Tun gerade noch unterbinden. Mein Freund herrschte sie an und sprach von Reglementierung und Freiheitsberaubung. Der ehemalige Anwalt in ihm war aufgestanden. Ich war stolz. Jetzt hatte ich Tränen in den Augen …

Die „versprochene“ Lockerung der Ausgangssperre sah dann so aus, dass mein Freund mit dem Rollstuhl in die ebenerdige Bibliothek gebracht wurde. Ein Fenster wurde geöffnet. Aber erst wenn zwischen ihm und dem Fenster ein Tisch stand. Ich durfte draußen stehen und durch das Fenster hineinsehen. Hinter mir auf dem Bürgersteig trötete der Neuköllner Alltag vorüber.

Nach Pfingsten gipfelte die „Lockerung der Ausgangssperre“ dann schließlich in einer Besuchererlaubnis, einmal in der Woche für eine halbe Stunde (!). Jetzt wurden zwei Tische aneinandergestellt. Längs. An jeder Front durfte einer sitzen. Der Juni hatte begonnen. Ich hatte auf eine Begegnung in frühsommerlicher Stimmung gehofft, eine Begegnung, die endlich Hoffnung versprechen sollte.

Ich durfte meine Maske nicht abnehmen, trotz beider Tische, und trotzdem sie draußen, auf dem Hof des Heimes, aufgestellt waren. Ein Aufpasser war uns beigeordnet. Er ahndete meinen Ungehorsam mit mahnenden Worten. Ich starrte in meinen von Lippenstift verschmierten Maulkorb – und hätte schreien mögen. Wind und Kühle waren aufgekommen. Mein Freund hatte Nackenschmerzen. Er war erschöpft und wollte sich nur noch hinlegen. Ich sah, wie man ihn im Rollstuhl davonschob.

Dann überstürzten sich die Ereignisse. Mein Freund durfte sein Zimmer nicht mehr verlassen. Ich hatte mich an das Gesundheitsamt Neukölln gewandt, an den Bevollmächtigten der Bundesregierung für Pflege, Andreas Westerfellhaus, und an einen Anwalt, um endlich der Situation angemessene Besuchsbedingungen für meinen an Demenz erkrankten Freund zu erreichen. Doch alle Bemühungen liefen ins Leere, kosteten Kraft und bereiteten zusätzlich Frust und Wut und vor allem Hoffnungslosigkeit – während sich der Gesundheitszustand meines Freundes mit jedem Tag verschlechterte.

Anfang Juni erlitt er einen Schlaganfall. Diese Schicksalswendung kam uns im ersten Moment wie eine Rettung vor. Endlich konnte ich bei ihm sein. Ich konnte in der Klinik an seinem Bett sitzen und wir hielten uns bei den Händen. Ich streichelte seinen linken Arm, den er kaum noch bewegen konnte.

Zum Sterben wurde er zurück ins Heim gebracht. Es begann für ihn wie für mich ein Martyrium. Ich durfte täglich für zwei Stunden bei ihm sein, von 15 bis 17 Uhr. Um 17 Uhr 30 gab es Abendbrot. Dann musste ich weg sein. Ich saß bei meinem im Sterben liegenden Freund, in voller Schutzbekleidung, mit Handschuhen und Maske.

„Sterbende und Schwerstkranke unterliegen keinen Besucherbeschränkungen“ hämmerte es in meinem Gehirn. So stand es in der neuen Verordnung, auf die mein Anwalt in einem dringenden Schreiben verwiesen hatte. Die harschen Worte der Heimleiterin, die auf ihr Hausrecht pochte, machten mich nur noch fassungslos.

Nur jetzt den Kopf oben behalten. Nur jetzt Frieden im Herzen. Der Tod am 30. Juni kam wie eine Erlösung.

Hätte man es mir doch ganz verboten. Hätte man mir doch verboten, mich in Berlin aufzuhalten. Hätte man mir doch verboten, auf der Welt zu sein.

Jetzt denke ich manchmal an den Tornado. An einem seiner letzten Tage kam ein Unwetter auf. Es war kurz nach 17 Uhr. Ich hätte längst gehen müssen. Ich hörte schon das Klappern der Abendbrotwagen auf dem Gang. Oh Gott, betete ich, lass mich hierbleiben. Ich möchte noch einmal während des Abendbrotes bei ihm sein. Ich wusste, dass er nicht aufisst und damit auch nicht alle Tabletten, die auf dem Brei zerbröselt waren, bekommt. Er konnte schon lange seine Tabletten nicht mehr schlucken. „Er hat mal wieder nicht aufgegessen“, wurde dann lapidar gesagt.

Ich schaute zum Fenster. Eine dunkle Wolke, wie ein Tornado gedreht, erhob sich über dem Nachbardach. Mit einem Mal schlugen die Fenster und Regen prasselte herein, ein Schwall, als hätte er alle Tränen der Welt eingesammelt und wollte sie mir zu Füßen schleudern. Eine Schwester stürzte herein und kämpfte mit den Fenstern gegen den Regensturm an. Sie wischte sich das nasse Gesicht.

„Bleiben Sie“, sagte sie zu mir, „das nehme ich jetzt auf meine Kappe. Bleiben Sie, bis das Unwetter vorbei ist.“

Ich konnte vor Glück kaum atmen. Ich durfte ihm das Abendbrot reichen. Ich durfte bei ihm sein, bis er alle auf dem Brei zerbröselten Tabletten genommen hatte. Ich durfte bei ihm sein.

Ich denke manchmal an diese Schwester und an die, die dem Druck von oben standhalten mussten. Die, die es gerne taten, und die, die es nur widerwillig taten. Die ihr Menschsein nicht verloren hatten. Ich versuche für die, die es nur widerwillig taten, Verständnis aufzubringen.

Für die Verursacher und gewissenlosen Produzenten des Druckes gibt es kein Verständnis und kann es keines geben.

Rubikon veröffentlichte im Frühjahr 2021 mein Tagebuch in vier Teilen unter dem Titel „Hier mein Cluster, Herr Drosten“, Teil 4 wurde von Manova übernommen. Das gesamte Tagebuch ist als Buch unter dem Titel „Lockdown im Seniorenheim“ (19,90 Euro) erschienen und erhältlich über meine Webseite.

Die Leserzuschriften, die ich bekam, haben bis auf eine Ausnahme, die mich in die Ecke der Schwurbler und Querdenker stellen wollte, bestätigt in dem, was ich erlebt habe.

Eine Frau schrieb mir: „Ich habe meinen Mann am 20. Juli 2020 an Corona verloren. Er war vom März bis Mai im Pflegeheim eingeschlossen, Terrassentür zugenagelt, und ist am 8. Mai aus dem Fenster des Pflegeheims gestiegen, hat sich dabei eine Hirnblutung zugezogen und ist zwei Monate lang elendiglich krepiert.“

Eine andere Frau schrieb: „Es ist für mich so unfassbar, was hier mit uns Menschen gemacht wird. So unverstanden wie in dieser Zeit habe ich mich noch nie in meinem Leben gefühlt, unverstanden nämlich gerade von den Menschen, mit denen man befreundet ist, oder auch in der eigenen Familie.“

Noch eine andere schrieb: „Ich hätte laut schreien können beim Lesen vor Wut und vor Schmerz. Es sind so viele Parallelen zu dem Schicksal meines Mannes. Auch die Zeit deckt sich genau. Danach hat man wohl etwas dazugelernt, aber das bringt unsere Liebsten nicht wieder zum Leben.“

Und eine weitere: „kann ich noch heute kaum ertragen zu lesen. ‘Zum Glück‘ hat meine Mutter den Horror nur vier Wochen ertragen müssen, dann hat sie dieser idiotischen Welt den Rücken gekehrt. Auch ich habe alle Stellen angerufen, angefleht, vollen Schutz und Tests angeboten.“

Pfarrer Thomas Dietz, einer der Mitwirkenden der Initiative „Alles auf den Tisch“, schrieb: „Mit Ihrem erschütternden Buch haben Sie vielen anderen Mensch eine Stimme gegeben, die ihre Erfahrungen eben nicht so niederschreiben, so artikulieren können. Vielen, vielen Dank dafür.“

Und der Historiker und Publizist René Schlott schrieb mir: „Schon beim Lesen der ersten Seite wird einem noch einmal die ganze Tragweite der staatlichen Coronamaßnahmen deutlich, und ja, ich teile Ihre Einschätzung: Es ist Unrecht geschehen! Und ich verspreche Ihnen, ich werde nicht locker lassen, es beim Namen zu nennen.“

Ein Leser schrieb: „(…) es sind genau diese Offenbarungen, die inmitten von Zeiten wie diesen an unser Menschsein appellieren bzw. unsere Geisteshaltung fordern. Insofern haben Sie genau das Richtige getan, wenn Sie Ihre traurigen Erfahrungen mit uns teilen (...) und uns zugänglich zu machen (...) und dabei gleichzeitig Ihre Seele aufschreien ließen. Sie glauben gar nicht, welch gesunde Kräfte dadurch im Leser freigesetzt werden! Kräfte, die ein jeder hier benötigt, um dem ganzen Irrsinn samt seinen bösartigen Auswirkungen auf das Individuum besser widerstehen, ihn besser/leichter ertragen zu können.

Es hat mich aber auch zutiefst an unser Menschsein erinnert, welches in diesen dunklen Zeiten stärker denn je von uns gefordert ist.“

Einen Monat später, am 31. Juli 2020, wurde mein Freund in Berlin Zehlendorf, wo seine Familie lebt, beerdigt. Die Großdemo am nächsten Tag, am 1. August, kam wie vom Himmel gesandt. Ich empfand sie als unendlich befreiend. Und als folgerichtig für mich. So folgerichtig wie noch nie etwas in meinem Leben. Tausende waren gekommen, um mich zu trösten! Und um mir wieder Mut und Kraft zu geben.

Ich trug ein Plakat mit dem Foto meines Freundes von der Beisetzung. Auf das Plakat schrieb ich die Worte: Nie wieder Lockdowntod im Seniorenheim.


Das Corona-Tagebuch aus dem Jahr 2020 im Überblick:

Teil 1: Katrin McClean, Corona-Tagebuch
Teil 2: Roland Rottenfußer, Der letzte freie Tag
Teil 3: Isabelle Krötsch, Corona-Tagebuch
Teil 4: Kerstin Chavent, An das Mögliche glauben
Teil 5: Anonym, Meine Mutter und die Isolation
Teil 6: Gabriele Herb, Aufruf zur Wachsamkeit!
Teil 7: Paul Löber, Spanienbericht
Teil 8: Liselotte Korfmacher-Finke, DemokratInnen unerwünscht
Teil 9: Michael Bock, Sind wir bereit, uns zu verändern?
Teil 10: Oliver Märtens, Corona-Tagebuch
Teil 11: Dirk Hüther, Gehen, Sehen, Handeln!
Teil 12: Doris Röschmann, Jenseits von richtig und falsch
Teil 13: Mathilda Libertad, Irgendnirgendsicherwo
Teil 14: Heidemarie Weber, Corona-Tagebuch
Teil 15: Daniela Wolter, Corona-Tagebuch
Teil 16: Thomas Hochschild, Corona-Tagebuch
Teil 17: Wolf Schneider, Hausarrest
Teil 18: Jitka Nickel, Kopfcorona — das Trauma sickert ein
Teil 19: Heike Wentland, Corona-Tagebuch
Teil 20: Michael Bock, Die fast perfekte Show & Eine Frage an die Liebe
Teil 21: Dijana Ilic, Eine Antwort auf die Frage : Mama, wo warst Du?
Teil 22: Anna Köppel, Nicht in meinem Namen
Teil 23: Ines Maas, Was soll ich tun?
Teil 24: Helene Bellis, Wie ich auszog, die verrückt gewordene Welt zu retten
Teil 25: Sophia Alt, Anarchie zum Frühstück
Teil 26: Elisa Gratias, Briefe aus dem Gefängnis