Verstand und Gefühl
Aufklärung und Mystik sind verschiedene Perspektiven auf die Realität und sollten ihren Streit beenden.
Man kann sich auf zwei Arten an die Erkenntnis der Wirklichkeit heranpirschen: als Wissenschaftler und als Mystiker. Der eine betont eher den äußeren, der andere den inneren Blick auf die Wirklichkeit. Widersprechen sich diese beiden Vorgehensweisen? Keineswegs, sie ergänzen sich sogar! Streit zwischen „vernünftigen Menschen“ und vermeintlichen esoterischen Wirrköpfen ist unnötig, denn beide Sichtweisen haben ihre Fähigkeiten und ihre Grenzen. Der Vogel der ganzheitlichen Erkenntnis kann nur mit beiden Flügeln abheben.
von Torsten Brügge und Padma Wolff
Subjektive mystische Erfahrungen und objektive naturwissenschaftliche Fakten, auf den ersten Blick scheinen diese beiden Seiten so vereinbar zu sein wie Feuer und Wasser. Der amerikanische Wissenschafts-Philosoph Ken Wilber jedoch sieht das anders. In seinem „Integralen Modell des Bewusstseins“ behauptet er, dass wissenschaftliches Denken und mystische Innenschau nicht nur friedlich miteinander ins Gespräch kommen können, sondern dass sie der Vollständigkeit halber sogar zusammengehören.
Doch zunächst: Was ist hier mit Mystik überhaupt gemeint? Meist taucht der Begriff Mystik im engen Zusammenhang mit Religion auf. Ken Wilber verweist hierzu auf zwei wesentliche und sehr unterschiedliche Funktionen von Religion. Die eine nennt er „Translation“. Damit meint er eine horizontale Bewegung, die dem Menschen auf der Entwicklungsebene, auf der er sich gerade befindet, Sinnzusammenhänge anbietet und Orientierungshilfen gibt. Dafür stellt ihm die Religion Mythen, Rituale und Gebete zur Verfügung. Diese werden meist als ein nicht zu hinterfragendes Dogma aus religiösen Schriften oder mündlichen Überlieferungen angenommen. Translation stellt damit eine Art „sozialen Klebstoff“ der Gesellschaft dar. Ihre Regeln und Rollenvorstellungen gestalten das zwischenmenschliche Zusammenleben und haben damit eine durchaus sinnvolle Funktion.
Transformation versus Translation
Darüber hinaus bietet Religion aber noch etwas anderes, nämlich die Möglichkeit zur Transformation auf eine höhere, transpersonale Bewusstseinsebene. Die Mystiker der verschiedenen Religionen sehen das Bewusstsein der meisten Menschen als durch die Identifizierung mit einem individuellen Selbst geprägt. Dieses Selbst fühlt sich abgetrennt von Anderen und vom allumfassenden Sein — und es leidet darunter. Der translative Anteil von Religion gibt diesem Selbstgefühl Trost und Stütze, damit es sich besser mit dem existentiellen Leiden der Abtrennung abfinden kann. Transformation hingegen will etwas ganz anderes: Sie will den Menschen aus dem illusorischen Gefängnis seines abgetrennten Ichs befreien. Sie will ihm sein Wesen auf einer höheren Bewusstseinsebene offenbaren. Wilber sagt dazu:
„Die transformative Funktion der Religion stärkt nicht das getrennte Selbst, sondern zerschmettert es und bedeutet nicht Trost, sondern Zerstörung, nicht Einigelung, sondern Leere, nicht Selbstzufriedenheit, sondern Explosion, nicht Wohlbehagen, sondern Revolution; kurzum, nicht konventionelle Stärkung des Bewusstseins, sondern eine radikale Transmutation und Transformation im tiefsten Innern des Bewusstseins selbst.“
Meist sind es nur sehr kleine Minderheiten einer Religion oder religiösen Richtung, die an dieser transformierenden Kraft interessiert sind. Diese werden als Mystiker bezeichnet. Nicht selten wurden sie von den translativ ausgerichteten Angehörigen ihrer eigenen religiösen Gruppe als Ketzer abgestempelt und verfolgt, weil sie mit Aberglauben, Dogma und blindem Gehorsam brachen. Somit erging es ihnen ähnlich wie jenen Menschen, die schon vor der Zeit der Aufklärung Elemente eines neuen wissenschaftlichen Geistes in die Welt bringen wollten und damit auf massive Gegenwehr der traditionellen Religionshüter trafen — wie zum Beispiel der Astronom Galileo Galilei.
Wissenschaftliches Denken und mystische Innenschau können nicht nur friedlich miteinander ins Gespräch kommen, sie gehören der Vollständigkeit halber sogar zusammen.
Zwei gleichberechtigte Sichtweisen
Wilber meint, dass diese transformierende mystische Einsicht und die wissenschaftliche Erkenntnis nur zwei unterschiedliche Arten der Betrachtung derselben Wirklichkeit darstellen. Die wissenschaftliche Betrachtung nimmt dabei eine Perspektive der grammatikalischen „dritten Person“ ein, beschreibt ein „er/sie/es“. Der Wissenschaftler beobachtet und misst Objekte der „wirklichen Welt“ mit nach außen gerichteten Sinnen oder deren Erweiterungen, wie Mikroskopen, Teleskopen oder anderen technischen Instrumenten. Geht die wissenschaftliche Erkenntnis tief, dann offenbart sie universelle Wahrheiten der objektiven Welt.
Mystische Erkenntnis dagegen findet in der Perspektive der „ersten Person“, des Ichs statt. Hier geht es um innere Wahrnehmung. Der mystisch orientierte Mensch untersucht „sich“, also das Subjekt selbst, beziehungsweise die Art und Weise, wie das Ich die „wirkliche Welt“ wahrnimmt. Das tut auch schon die Psychologie auf der Ebene des personalen Bewusstseins. Die Mystik geht allerdings bei der Selbstbetrachtung über die Identifikation mit der Person hinaus: Sie erforscht die transpersonale Ebene, und das keinesfalls nur theoretisch, sondern sie versenkt sich in diese Ebene und erfährt sie.
Nach Wilber sollten beide Perspektiven — die äußere und die innere — gleichberechtigt gewürdigt werden. Beide besitzen Gültigkeit, denn beide wollen Klarheit und Wahrheit und untersuchen voller Begeisterung und Forscherdrang die Wirklichkeit. Nur eine der zwei Perspektiven zur einzig richtigen zu erklären, wäre einseitig.
Kritische Vernunft und Reduktionismus
Wilber beschreibt in seinem Modell auch den beeindruckenden Siegeszug des wissenschaftlichen Denkens seit dem Zeitalter der Aufklärung. Der war zunächst ein Segen — sosehr er den damaligen Kirchenvätern als Fluch erschienen sein mag. Erst die Entwicklung der kritischen Vernunft erlaubte es, uns von den Fesseln abergläubischer, auf bloßer Überlieferung beruhender Dogmen zu befreien. Mit Hilfe unserer wissenschaftlichen Ratio haben wir gelernt, kritisch zu hinterfragen und sinnvolle Schlussfolgerungen einzufordern, wo wir zuvor zu blindem Glauben verdammt waren. Ohne sie würden wir heute noch von der Kirche eingetrichtert bekommen, dass die Erde Mittelpunkt des Universums sei und wir am Rand dieser Scheibe direkt in die Hölle hinabstürzen würden.
Insofern hat auch wissenschaftliches Denken einen starken, transformierenden Effekt. Es hebt uns aus der magisch-mythischen Bewusstseinsebene in ein höheres, rationales Bewusstseinsfeld. Ein aufgeklärter Geist wird wissenschaftliches Denken deshalb sehr wertschätzen. Doch der Glaube an die Macht der Ratio kann auch ein unheilvolles Ausmaß annehmen und wird dann seinerseits zu einer neuen Art von Religion, die im Extremfall neue Denk- oder Forschungsverbote aufstellt.
Das zeigt sich zum Beispiel als wissenschaftlicher Reduktionismus, dem dann als einzig wahrem Gott gehuldigt wird, wie das heute in großen Teilen der akademischen Welt geschieht. Inneres Erleben wird dabei ausgeblendet, auf das bloße Wechselspiel von Neurotransmittern mit Nervenzellen reduziert, oder unbesehen als irrational belächelt. Gefühlswelten, tiefere Sinnfragen, die ganze spirituelle Dimension des Menschseins wird dabei ignoriert oder explizit ausgegrenzt. Einerseits wirkte dieses Vorgehen als kraftvoller Befreiungsschlag aus religiös-magischen Mythen. Andererseits schüttete man dabei mit dem Badewasser auch das Kind der authentischen Mystik aus. Es ist nun Zeit, uns bei ihm zu entschuldigen und es frisch geputzt wieder in den Arm zu nehmen, dann kann es erwachsen werden und uns vielleicht Erstaunliches mitteilen.
Ozeandampfer im Stecknadelkopf
Zwischen wissenschaftlichen Erkenntnissen und mystischen Einsichten gibt es bemerkenswerte Parallelen. Zum Beispiel in der Elementarteilchenphysik. Dieses Fachgebiet erforscht, woraus Materie besteht. Der griechische Philosoph Demokrit (460 bis 371 vor unserer Zeit) sprach von kleinsten unteilbaren Einheiten der stofflichen Welt und nannte sie „Atome“, von griechisch a-tomos, un-teilbar. Um 1860 fand man dann, dass es tatsächlich solche kleinsten Teile gibt, die nicht mehr mechanisch oder chemisch zerlegbar sind, und wie unvorstellbar klein sie sind: Auf eine fiktive Kugel mit einem Durchmesser von nur 1/100.000 Millimeter würden 17.000 Kupferatome passen.
Dann fand man Anfang des 20. Jahrhunderts heraus, dass auch diese Atome teilbar sind. Vereinfacht gesagt kreisen innerhalb eines Atoms um einen Atomkern herum, der wieder aus Teilchen besteht, Elektronen. Alle diese Elementarteilchen sind viel, viel kleiner als das ganze Atom: Wäre der Kern eines Wasserstoffatoms — er besteht aus nur einem einzelnen Proton — so groß wie der Kopf eines Streichholzes, dann wäre der Durchmesser der Atomhülle so hoch wie der Eiffelturm, und in diesem riesigen Raum kreist dann ein einzelnes Elektron von der Größe eines Staubkorns.
Ein Atom besteht also ganz überwiegend aus leerem Raum. Nur ein verschwindend kleiner Volumenanteil ist tatsächlich von Materie erfüllt. Könnte man zum Bespiel die Atome eines großen Ozeandampfers so zusammenpressen, dass sich die Elektronen dicht an den Atomkernen befänden, erhielte man ein Stück verdichtete Materie in der Größe eines Stecknadelkopfes. Auf diese Weise würden sämtliche Handels- und Kriegsflotten aller Nationen dieser Welt in eine dann allerdings untragbar schwere Hosentasche passen.
Leere Formen
Dass Materie tatsächlich mehr aus leerem Raum als aus massehaltiger Substanz besteht, zeigt sich also schon auf der Ebene von Elektronen, Protonen und Neutronen. Würden wir die noch kleineren Teilchen, wie Quarks, Mesonen und Gluonen unter die Lupe nehmen, würden wir auch dort finden: Je genauer wir schauen, als desto leerer erweist sich die Materie.
Was hat das alles mit Mystik zu tun? Der Buddha kannte vor 2.500 Jahren noch keine Elementarteilchenphysik. Ihm stand kein hochauflösendes Elektronenmikroskop und kein Teilchenbeschleuniger zur Verfügung.
Allerdings war er ein Experte in der Untersuchung des Mikrokosmos innerer Wahrnehmungen. Mithilfe der hochkonzentrierten Aufmerksamkeit seines Geistes ergründete er, wie die Wahrnehmungen der Wirklichkeit beschaffen sind. Er untersuchte das Wesen von Empfindungen, Gefühlen und Gedanken, die den Eindruck von Wirklichkeit vermitteln. Eine seiner Erkenntnisse brachte er im Herzsutra auf die Formel, die heute als eine der Kernaussagen mystischer Einsicht gilt: „Leere ist Form, und Form ist Leere“.
Auch christliche Mystiker haben die fundamentale Leere der Erscheinungen entdeckt. Meister Eckhart betont in folgendem Spruch, dass die Leere sogar eine tiefere Wahrheit widerspiegelt, als unsere Annahme, die Wirklichkeit wäre überall voller fester Substanz. Er schrieb „Leer sein aller Kreaturen ist Gottes voll sein, und voll sein aller Kreaturen ist Gottes leer sein.“ Einem Elementarteilchenphysiker wird es heute leichter fallen, diesen Aussagen zuzustimmen, als es den Brahmanen fiel, solche Worte von Buddha zu hören, oder den Bischöfen von damals, sie von Meister Eckhart anzunehmen.
Unscharfe subjektive Wahrgebung
Eine weitere spannende Parallele zwischen Naturwissenschaft und Mystik zeigt sich ebenfalls in der Physik: die Heisenbergsche Unschärferelation. Sie wurde 1927 bei der Erforschung der Eigenschaften von Elektronen entdeckt. Der Quantenphysiker Werner Heisenberg fand heraus, dass es unmöglich ist, die Geschwindigkeit und den Ort eines Elektrons gleichzeitig zu messen. Denn um eine Messung vorzunehmen, muss das zu messende Objekt, das Elektron, mit einem Lichtteilchen, dem Photon, beleuchtet beziehungsweise beschossen werden. Von dieser Messung kann man dann den Ort des Elektrons ableiten, hat aber durch den Impuls des Photons die Geschwindigkeit des Elektrons bereits mit der Messung verändert. Die heisenbergsche Gesetzmäßigkeit führt auch dazu, dass Licht mal als Welle oder mal als Teilchen betrachtet werden muss, je nachdem auf welche Weise der Forscher gerade untersucht.
Erkenntnistheoretisch ist diese Tatsache von großer Bedeutung. Sie widerlegt nämlich unseren Glauben, wir könnten ein Objekt in einem vollkommen neutralen Akt des Beobachtens betrachten. Heisenberg wies nach, dass jede Beobachtung — sogar schon für die Messung von Elementarteilchen gilt das — ihr Ergebnis beeinflusst.
Entsprechendes finden wir bei der inneren Erfahrung. Aus einer mystischen ebenso wie der psychologischen Sichtweise wurde schon immer die hohe Subjektivität unserer Wahrnehmung betont. In den letzten 15 Jahren wurde das durch die moderne Hirnforschung auch objektiv bestätigt: Die von der Wissenschaft so hochgehaltene rein objektive Wahrnehmung gibt es nicht. Vielmehr konstruiert sich unser Gehirn durch die Art, wie es Informationen interpretiert, seine Wirklichkeit selbst.
Zum Beispiel sind für das Zustandekommen unseres Seheindruckes Millionen von Nervenzellen miteinander verbunden. Wir würden erwarten, dass die meisten von ihnen eine Verbindung zur Netzhaut haben. Wir glauben, das Bild, das uns bewusst wird, sei ein einigermaßen präzises Abbild der Außenwelt. Es haben jedoch nur etwa zehn Prozent dieses Nervengeflechtes tatsächlich Kontakt zu unseren Sehorganen.
Die übrigen neunzig Prozent der Nervenzellen sind nur untereinander verschaltet. Sie bearbeiten und interpretieren die vom Auge kommenden Impulse, bis wir schließlich ein Bild in unserem Bewusstsein wahrnehmen. Locker ausgedrückt: Neunzig Prozent blinde Nervenzellen halten ein Schwätzchen darüber, wie das Material von den zehn Prozent sehenden Zellen zu interpretieren ist. Obwohl die neunzig Prozent noch nie einen Lichtstrahl zu Gesicht bekommen haben, bestimmen sie mit erdrückender Neun-zu-eins-Mehrheit, was wir zu sehen glauben.
Der Hypnotherapeut Gunther Schmidt vertritt daher die Auffassung, wir sollten statt dem Begriff „Wahrnehmung“ besser das Wort „Wahrgebung“ verwenden. In seinen Vorträgen scherzt er mit seinen Zuhörern: „Wie Sie für mich aussehen, bestimme immer noch ich beziehungsweise die Verarbeitungsprozesse in meinem Gehirn. Sie können noch so schön sein, wenn mein Gehirn es will, sehe ich Sie hässlich. Sie können noch so hässlich sein, mein Gehirn kann Sie locker schönsehen.“
Ungetrenntes Wahrnehmen
Der konstruktivistische Charakter unserer „Wahrgebungen“ wurde von allen ernsthaften mystischen Ausrichtungen seit mehr als 2.000 Jahren hervorgehoben. Dieser Begriff würde bei Mystikern aber auch noch aufgrund eines weiteren Aspektes auf Zustimmung treffen. So wird zum Beispiel in der Weisheitslehre des Advaita — der Nicht-Zweiheit — durch Innenschau erkannt, dass die Trennung in Beobachter und beobachtetes Objekt illusorisch ist.
Die direkte Erfahrung meditativer Versenkung offenbart nämlich die untrennbare Einheit von Wahrnehmendem, Wahrnehmung und Wahrgenommenem. „Hörender, Hören und Gehörtes sind eins. Ich bin der Klang.“ Oder: „In reinem Sehen fallen Gesehenes, Sehen und Sehender zusammen“. Solche oder ähnliche Beschreibungen innerer Erfahrung sind mystisch erlebenden Menschen sehr vertraut. Für einen Quantenphysiker, der um die Heisenbergsche Unschärferelation weiß, könnten solche Aussagen recht vertraut klingen, obwohl sie durch eine ganz andere Erkenntnisweise gewonnen wurden.
Ehrfurcht vor der Weite
Auch bei der Betrachtung des Makrokosmos eröffnen sich in Wissenschaft und Mystik ähnliche Erkenntnisse. Gemeinsam ist ihnen ein Staunen über die unendlichen Weiten des Kosmos.
Aus wissenschaftlicher Sicht zeigen sich hier ganz ähnliche Dimensionen von leerem Raum wie innerhalb des Mikrokosmos der Elementarteilchen. Schon in unserem Sonnensystem sind die Abstände zwischen den Planeten gigantisch. Es hört sich schon schnell an, wenn wir sagen, ein Sonnenstrahl braucht von der Sonne zur Erde nur 8 Licht-Minuten. Berücksichtigen wir aber die Lichtgeschwindigkeit von 300.000 Kilometern pro Sekunde ist das eine Entfernung von etwa 150 Millionen Kilometern. Würden wir diese Strecke mit dem Auto Tag und Nacht abfahren, wären wir bei einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 100 Kilometern pro Stunde schlappe 160 Jahre unterwegs. Für das Licht sind es nur 8 Minuten. Der nächstgelegene Stern in unserer Galaxie ist jedoch schon circa 4 Licht-Jahre entfernt. Wir ersparen uns an dieser Stelle die Umrechnung in die Dauer einer Autofahrt.
Und wie viele Sonnensysteme gibt es in unserer 100.000 Lichtjahre breiten Galaxis? Astronomen vermuten bis zu 300 Milliarden. Und wie viele Galaxien gibt es im ganzen Universum? Etwa 100 Milliarden, die jeweils für sich hunderte Milliarden von Sonnensystemen beherbergen. Solche Zahlen lassen uns schwindelig werden. Sie sprengen unsere Vorstellungskraft, und genau dieser Effekt ist sowohl für Wissenschaftler als auch für Mystiker faszinierend. Angesichts dieser Dimensionen von Weite können wir nur schweigen und staunen, und dieses Staunen ist schon die Eröffnung einer mystischen Erfahrung. Der Begriff Mystik kommt nämlich vom griechischen „mystikós“. Das bedeutet sowas wie unbeschreiblich, unaussprechlich, geheimnisvoll. Angesichts der unfassbaren Größe des Universums ist es ganz natürlich, uns ehrfürchtig die Nichtigkeit der eignen menschlichen Person einzugestehen.
Wer sich dieser Demut ganz hingeben kann, dem eröffnet sich eine Dimension der Wahrnehmung, die die egozentrische Vorstellung des kleinen Ichs wie eine Seifenblase platzen lässt. Das Bewusstsein löst sich dabei von all den kleingeistigen Geschichten des alltäglichen Lebens. Das Seinsgefühl dehnt sich in die Weite allumfassenden Bewusstseins aus. Diese Weite ist dann nicht mehr nur eine theoretische Zahl von Lichtjahren, sondern sie zeigt sich als eine äußerst lebendige Erfahrung, die bis in den Alltag hinein die Grenzen von innen und außen sprengt.
Solche mystischen Öffnungen können sich durchaus „kosmisch“ anfühlen. Aussagen wie „Das Universum findet in mir statt“ oder „Ich bin der Raum, in dem alle Welten geschehen“ sind Ausdruck solcher inneren Erfahrung von äußerer Weite. Das mag sich paradox und abgehoben anhören, doch für einen mystisch erlebenden Menschen wird diese befreiende Einsicht genauso lebendig erfahrbar, wie wenn ein Wissenschaftler, noch ganz benommen von seinen schwindelerregenden Berechnungen, die Tür seines Labors öffnet, frische Luft einatmet und eine Runde im Universitätspark spazieren geht.
Mystisch angehauchte Wissenschaftler
Schauen wir genau hin, dann entdecken wir, dass auch die kühlsten und kühnsten Köpfe der reinen Naturwissenschaft einem mystischen Erleben oft näher stehen, als viele offensichtlich religiöse Menschen. Albert Einstein schrieb: „Das tiefste und erhabenste Gefühl, dessen wir fähig sind, ist das Erlebnis des Mystischen. Aus ihm allein keimt wahre Wissenschaft. Wem dieses Gefühl fremd ist, wer sich nicht mehr wundern und in Ehrfurcht verlieren kann, der ist seelisch bereits tot.“
Der deutsche Physiker und Wissenschafts-Philosoph Carl Friedrich von Weizsäcker beschreibt in berührenden Worten eine mystische Öffnungserfahrung, als er den Ashram und das Grab des bekannten indischen Advaita-Weisen Sri Ramana Maharshi besuchte:
„Als ich die Schuhe ausgezogen hatte und im Ashram vor das Grab des Maharshi trat, wusste ich im Blitz: ‚Ja, das ist es.‘ Eigentlich waren schon alle Fragen beantwortet. … Das Wissen war da, und in einer halben Stunde war alles geschehen. Ich nahm die Umwelt noch wahr, den harten Sitz, die surrenden Moskitos, das Licht auf den Steinen. Aber im Flug waren die Schichten, die Zwiebelschalen durchstoßen, die durch Worte nur anzudeuten sind: ‚Du‘-‚Ich‘-‚Ja‘. Tränen der Seligkeit. Seligkeit ohne Tränen.
Ganz behutsam ließ die Erfahrung mich zur Erde zurück. Ich wusste nun, welche Liebe der Sinn der irdischen Liebe ist. Ich wusste alle Gefahren, alle Schrecken, aber in dieser Erfahrung waren sie keine Schrecken. … Ich war jetzt ein völlig anderer geworden: der, der ich immer gewesen war. … mein (indischer) Freund begleitete mich am (nächsten) Morgen bei einem Gang zu einer Höhle im Berg unter großen Bäumen, wo der Maharshi Jahre gewohnt und manchmal die Kriege der Affenkönige oben im Laub geschlichtet hatte. Dann reisten wir weiter. Mit unendlicher Sanftheit verließ mich langsam die Erfahrung in den kommenden Tagen und Wochen. Ihre Substanz ist immer bei mir“ (1).
Gekrümmter Raum, gestauchte Zeit, ewiges Jetzt
Zurück zu Albert Einstein. Seine Forschungen zur Struktur von Raum und Zeit sowie dem Wesen der Gravitation veränderten maßgeblich das physikalische Weltbild. 100 führende Physiker wählten ihn deshalb 1999 zum größten Physiker aller Zeiten. Was Einstein herausfand, rüttelt an den Grundfesten unserer gewohnheitsmäßigen Wahrnehmung von Raum und Zeit. Nach seiner längst bestätigten Relativitätstheorie verhalten sich Raum und Zeit keineswegs als voneinander unabhängige und beständige Größen. Beide Dimensionen können sich dehnen oder strecken, sie sind keineswegs absolute Größen, sondern voneinander abhängig, und werden zusätzlich beeinflusst vom jeweiligen Gravitationsfeld.
Das klassische Zwillings-Paradoxon erläutert es: Würde ein Zwillingsbruder in eine Rakete steigen und 15 Jahre mit beinah Lichtgeschwindigkeit umherfliegen, würde das Brüderpaar bei seiner Rückkehr eine Überraschung erleben: Bei Ankunft wäre der daheim gebliebene Bruder 80 Jahre, der Raumfahrer aber nur 15 Jahre gealtert. Auch bizarre Auswirkungen durch Verzerrungen der Raum-Zeit in Folge von Gravitationskräften gehören zu Einsteins unterhaltsamen Erkenntnissen. Bei schwarzen Löchern im All wird durch einen massereichen Stern die Raumzeit derart stark gekrümmt, dass kein Lichtstrahl mehr dieses Gebilde verlassen kann. Würde man eine Uhr beobachten, die in ein schwarzes Loch hinein fiele, sähe man die Zeit immer langsamer ablaufen, bis sie schließlich ganz stehen bliebe.
Und dann gibt es da noch die Frage nach der Entstehung des Universums und vor allem danach, was davor war. Die Antwort der Wissenschaftler lautet schlicht: Nichts. Nicht mal Raum, nicht mal Zeit. Einfach nichts.
Mystische Erfahrung
Für unser gewohntes Denken hören sich solche Erläuterungen über Raum und Zeit verunsichernd an. Doch es handelt sich um reine Wissenschaft. Menschen, denen schon mal ein mystisches Erlebnis zuteilwurde, haben damit kein Problem. Jeder, der schon einmal tiefe meditative Zustände erlebt hat, weiß, dass das Erleben von Zeit und Raum Schwankungen unterworfen ist. Die Wahrnehmung des eigenen Körpers kann sich mal klein, mal riesengroß anfühlen, sich verformen oder sogar ganz auflösen. Ausdehnung bis ins Unendliche, Zusammenziehung zu einem winzigen Punkt, in dem auch noch das letzte Raumgefühl verschwindet, machen einem Mystiker keine Angst. Er oder sie betrachtet solche Phänomene schlicht als Offenbarungen tieferer Wirklichkeit.
Normalerweise glauben wir, uns als Person in einem berechenbaren Zeitstrom zu bewegen. Dieser scheint stetig von der Vergangenheit über die Gegenwart zur Zukunft zu fließen. Mystische Erfahrung eröffnet uns ganz Anderes. Sie kennzeichnet sich durch die Gewissheit einer Dimension, der sowohl der Geschmack der Ewigkeit als auch der nie vergehenden Gegenwart anhaftet. Benennungen dieses Erlebens bleiben paradox: ewiges Jetzt; Gleichzeitigkeit aller Zeiten; Zeitlosigkeit.
Auch Jesus verkündete mystische Zeitwahrnehmungen: „Ehe Abraham wurde, bin ich“. Dabei meinte er mit „Abraham“ den Anfang aller Welten, so wie er damals verstanden wurde. Lebte Jesus heute, hätte er es so ausgedrückt: „Ehe der Urknall geschah, bin ich“, und vielleicht hätte er noch hinzugefügt: „Nachdem der Kosmos erloschen sein wird, bin ich immer noch.“ Mit diesem Ich meinte er nicht seine Person, wie es uns wortgläubige Religion weismachen will, sondern sein und unser aller innerstes und transpersonales Wesen.
Sonnenstaubstrahlen
Doch die Mystiker sprechen nicht nur von Zeitlosigkeit und Leere. Ihre Aussagen behandeln auch Einheit und Fülle. „Wir sind alle dasselbe Bewusstsein“ — „Es gibt keine Trennung. Unser Wesen ist alles verbindende, strahlende Liebe“. Das sind mystische Aussagen über innere Entdeckungen, zu denen wir auch äußere Äquivalente in wissenschaftlichen Erkenntnissen finden können.
Wissenschaftler sprechen nur selten über Liebe, aber durchaus über das Einssein, das alles Existierende miteinander verbindet. Es klingt romantisch, ist aber wissenschaftlich völlig korrekt, wenn Professor Roman Schnabel vom Max-Planck-Institut für Gravitationsphysik in Hannover sagt: „Ja, wir sind in der Tat alle aus Sternenstaub gemacht“.
Die Begründung dafür ist einfach. Kurz nach der Entstehung unseres Universums gab es nur zwei chemische Elemente, die durch den Urknall erzeugt wurden: Wasserstoff und Helium. Alle anderen uns heute bekannten Atome entstanden erst, nachdem sich im Laufe der Zeit durch Gravitation aus Wasserstoff und Helium riesige Gaswolken bildeten. Einige von ihnen fielen immer stärker in sich zusammen. Druck und Temperaturen stiegen in diesen dichten Bereichen enorm an, sodass Kernfusionsprozesse begannen. Strahlende Sonnen entstanden. Erst in ihrer Hitze konnten neuartige und komplexere Atome „gebrannt“ werden. Irgendwann explodierten diese Sonnen dann als Supernovae ins Weltall. Durch die Energie dieser Explosionen entstanden noch mehr neue Elemente. Das Sammelsurium völlig neuer Stoffe wurde ins Weltall geschleudert, wo es sich neu formieren konnte — und sich irgendwann zu unseren menschlichen Körpern formte.
Das Kalzium in unseren Knochen, der Kohlenstoff in unseren Muskeln, das Eisen in unseren Blutzellen und die vielen anderen Elemente, aus denen unser Körper besteht, konnten erst durch unzählige Sonnenexplosionen entstehen. Berechnungen zufolge ist jedes Atom in unserem Körper durchschnittlich durch vier oder fünf Sonnexplosionen gegangen, bevor es in unserem Körper landete. Ist es dieses alles verbindende Strahlen der Sonnen, das die Mystiker als Liebe im Inneren erspüren?
Wissen jenseits von Logik
Schauen wir uns zuletzt eine der ältesten Wissenschaften an: die Mathematik. Hier müsste doch nun wirklich alles mit rechten Dingen zugehen. Mathematik ist strukturiert, rational und analytisch. Hier geht es um Zahlen, Gleichungen, Definitionen. Logische Beweise führen zu nachvollziehbaren, unanzweifelbaren Schlussfolgerungen. 1 = 1 und 2 = 2. Wenn uns die Physik schon Raum und Zeit durch die Finger rinnen lässt, können wir uns doch wenigstens hier an der Eindeutigkeit festhalten. Wenigstens die Logik und die Mathematik scheinen verlässlich zu sein.
Wo sollte da Platz für die mystische Dimension des Lebens sein? Vage Aussagen oder gar Unaussprechliches? Nein, hier müsste alles berechenbar sein. Der österreichische Mathematiker Kurt Gödel jedoch würde dem entgegnen: Vorsicht, dem ist nicht so! 1931 stellte er sein berühmtes „Unvollständigkeitstheorem“ auf. Es besagt: Jedes komplexe, formal-logische System weist in sich selbst Einschränkungen auf. Es gibt immer einen Bereich von Aussagen, die durch die Regeln des Systems weder bewiesen noch widerlegt werden können. Quasi eine Grauzone, wo selbst die beste Logik versagt, mit den Schultern zucken und „Ähh, weiß ich nicht …“ sagen muss.
Gödels Satz weist der Mathematik prinzipielle Grenzen: Die Idee von der totalen Entscheidbarkeit wird aufgehoben. Dasselbe bewirken auch die logischen Antinomien, die im 19. Jahrhundert wieder auftauchten als unlösbare Widersprüche in den Grundlagen der Wissenschaften, obwohl schon die Griechen sie kannten, etwa in der Aussage des Menschen von Kreta, der da sagt, dass alle Kreter lügen. Wenn diese Aussage wahr ist, dann lässt sich daraus ableiten, dass sie falsch ist, und — etwas ungenauer — umgekehrt. Mathematiker wie Gottlob Frege und Bertrand Russel waren schwer beunruhigt, und viele mit und nach ihnen. Diese Antinomien ebenso wie Gödels Unvollständigkeitstheorem geben Hinweise auf das, was Mystiker nicht müde werden, uns seit Jahrtausenden immer wieder zu sagen: Unser rein rationales Verstehen, so wertvoll es auch auf vielen Gebieten sein mag, ist begrenzt!
Das Transzendieren der Vernunft
Mystische Sichtweisen stellen die Überbetonung der Vernunft schon lange in Frage und verweisen über sie hinaus. Sie betonen immer wieder, dass höhere Erkenntnisse und Einsichten oft erst in der Hingabe des Wissens und Verstehens aufleuchten. Die Bezeichnungen dafür variieren: leeres Bewusstsein, stille Intelligenz, Anfänger-Geist, Nicht-Wissen, No-Mind. Immer geht es dabei um ein Wahrnehmen, das die Ratio — zumindest zeitweise — hinter sich lässt und überschreitet.
Dieses Transzendieren der Vernunft bedeutet keineswegs, dumm zu werden. Im Gegenteil. Ein stiller Geist stellt ein um ein Vielfaches erweitertes Potential für geistige Klarheit und Einsicht zur Verfügung. Das integrale Modell beschreibt eine Entwicklungsabfolge des menschlichen Denkvermögens: Im kindlichen Bewusstsein ist das logische Denken noch wenig entwickelt. Das nennt Wilber die „prä-rationale“ Stufe. Im Jugendlichen und Erwachsenen blüht die Vernunft auf. Der Mensch denkt logisch. Er erhebt sich auf die rationale Ebene.
Doch damit hört die Entwicklung nicht auf. Es gibt noch eine trans-rationale (trans = darüber hinaus) Entwicklungsstufe, in der Weisheit durchdringt. Auf dieser Stufe offenbaren sich auch mystische Erfahrungen. Diese trans-rationale Erkenntnisfähigkeit gibt sich dem Nicht-Wissen hin, kann alte Kenntnisse und Standpunkte loslassen und dann mit völlig neuen Perspektiven aufwarten. Logische Widersprüche und Begrenztheiten können nun von einer höheren Warte aus überblickt und integriert werden. Durch sie sind frische Eingebungen möglich, die zuvor in der Beschränkung der Rationalität undenkbar schienen.
Hört sich das esoterisch abgehoben an? Gerhard Roth, einer der bekanntesten deutschen Hirnforscher, schrieb 2008 in der „Zeit“: „Von großen Wissenschaftlern ist bekannt, dass sie ihre bahnbrechenden Einfälle intuitiv haben — meist nach Unterbrechung langen und quälenden Nachdenkens —, sie aber in den anschließend geschriebenen Lehrbüchern oder Autobiografien dann als Ergebnis rationalen Suchens darstellen.“
Die Leerheit der Materie. Die Weite des Weltalls. Die Relativität von Zeit und Raum. Die Verbundenheit allen Seins. Das Überschreiten der Logik. Das alles sind spannende Themen. Wir können sie von außen und von innen her beleuchten. Werden Wissenschaftler zu Mystikern oder bewahren sich Mystiker einen wissenschaftlichen Geist, könnten wir uns irgendwann darauf einigen, dass wir alle dieselbe Realität erkunden und es lieben, ihre Unfassbarkeit zu bestaunen. Quod erat unio mystica.
Quellen & Anmerkungen
(1) Aus: Carl Friedrich von Weizsäcker „Der Garten des Menschlichen“, München: Hanser 1977; darin „Selbstdarstellung“, S. 594ff
Bücher:
Torsten Brügge, Besser als Glück – Wege zu einem erfüllten Leben, Verlag der Ideen, 2012
Padma Wolff, Satsang und Psychotherapie: Ein Vergleich, Akademiker Verlag, (2007) 2012
Dieser Artikel erschien zuerst in der Zeitschrift „Connection“ im November 2012,