Verschärfte Gegensätze
Der Klassenkampf ist längst Geschichte — so tönte es vor der Covid-19-Pandemie, die jedoch zeigt, dass das Gegenteil der Fall ist.
Statt allgemeine Solidarität und die Angleichung der Lebensumstände im Land zu fördern, sorgt das Virus Sars-Cov-2 für verschärfte soziale Unterschiede. Die allen gemeinsame Angst vor einem Killervirus führt nicht dazu, dass sich die Gegensätze einander annähern — vielmehr werden sie noch größer. Die Folgen der Corona-Krise treffen jene am härtesten, die schon zuvor auf den unteren Stufen der gesellschaftlichen Hierarchie zu finden waren. Und die, die weiter oben schwimmen, geben ihnen noch kluge Tipps für das richtige Verhalten und bestrafen vermeintliche Verstöße dagegen. Der Autor rechnet damit ab.
Nicht wenige waren im März und April begeistert von der Situation. Zuhause bleiben, den Stress rausnehmen: Das hatte was. Der dringend empfohlene Rückzug ins eigene Refugium wurde als Entspannungskur verkauft. Via Cam forcierten nicht wenige Stubenhocker die Erbauung: Es sei doch eigentlich mal ganz schön, die heimische Ruhe zu genießen. Your Home is your Castle. Also bitte seid so gut: Stay at Home. Daheim sei es doch irgendwie immer auch am besten.
Diese sorgenvolle gute Laune kam ganz gern aus der oberen Mittelschicht, aus Eigentumshäusern oder Villen. Aus einem geräumigen Arbeitszimmer heraus verbreitete man per Livestream Durchhalteparolen in den Netzwerken. Dass alle Menschen aber nicht in so einer Geräumigkeit leben, manche mit 25 Quadratmetern auskommen müssen, noch nicht mal einen Balkon haben, unter einer erdrückenden Dachschräge wohnen: Das wurde freilich galant übersehen. Wer denkt, dass die halbe Menschheit fürstlich residiert, kann selbstverständlich leicht Empfehlungen aussprechen.
Die Enge prophylaktischer Quarantäne
Seit Jahren favorisiert die Politik eine minimalistische Wohnungspolitik, die ehemalige Umweltministerin Hendricks sprach sich zum Beispiel für kleine 30 Quadratzimmerwohnungen aus, weil moderne Lebensentwürfe ja kaum noch daheim stattfänden. Es reiche mehr oder minder aus, einen erweiterten Schlafplatz anzumieten. Gäste empfängt doch heute kaum noch jemand daheim — man gehe schließlich aus. Wohnraum sei quasi totes Kapital, die meiste Zeit würde er gar nicht gebraucht.
Der städtische Wohnungsbau hat auf die teuren Mieten längst mit Schrumpfung reagiert. Schließlich wollen sich auch Menschen mit kleinem Salär irgendwo einmieten können. Damit das möglich ist, heißt es, Raum zu reduzieren. Längst zieht man Mietskasernen mit Ein-Zimmer-Appartements hoch. Und knappe 75 Quadratmeter werden als Wohnstätte für eine vierköpfige Familie feilgeboten. Mit der Pandemie gilt das Heimische wieder als Lebensmittelpunkt. Da wird der Chic der Enge freilich zum Problem.
Jetzt rächt sich dieser liberale Elitarismus, dem es ganz egal war — und dem weiterhin gleichgültig ist —, wie Menschen zuweilen hausen müssen. Wohnungen, die einer gewissen Work-Life-Balance entsprechen, sind rar in der Preiskategorie, in der die viel beklatschten systemrelevanten Berufstätigen ihrem Lebensunterhalt nachkommen.
Auch an jene jetzt so prominente Berufsgruppe erging zuletzt die Empfehlung, sich vor dem weihnachtlichen Familientreffen in eine prophylaktische Quarantäne zu begeben, soziale Kontakte so stark wie möglich zu meiden. Bei so einem Ratschlag wird deutlich, wie sehr Politik und Wissenschaft — der Vorschlag ist schon etliche Wochen alt und stammt von Christian Drosten — den Bezug zur Lebensrealität normal arbeitender Menschen verloren haben.
Corona-Darwinismus: Verschärfung der Gegensätze
Ja, es ist schier lächerlich, Arbeitnehmern so einen Hinweis mit auf den Weg zu geben. Zumal dann, wenn sie in jenen Sparten arbeiten, denen nun besondere Bedeutung zukommt. Welche Pflegekraft kann sich denn bitte jetzt vor Weihnachten mal zwei Wochen gönnen, ohne dabei ihren Job zu riskieren? Wenn ausgerechnet der Paketbote auf die Idee käme, es so zu halten, dann fällt die Bescherung aber aus. Schon vor Corona wuchs ja jährlich die Paketmenge, die an Deutschlands Haustüren abgeliefert wurde. Was machen wir bloß, wenn uns keiner mehr unsere Bestellungen bringt, weil der Bote zwecks Großmutterbesuchs in Quarantäne geht?
Die Millennials scheinen den Laden an sich gerissen zu haben. Diese meist in höheren Einkommensschichten und der Kreativbranche angesiedelte Bevölkerungskohorte nahm halt dann und wann ein Sabbatical, als wäre nichts dabei. Als Vorschlag für alle ist dergleichen aber ein Hirngespinst.
Systemrelevante Berufe sind derzeit zu Knechten der Aufrechterhaltung degradiert. Homeoffice gibt es für sie nicht. Sie haben Präsenzpflicht. Neulich hat eine junge Managerin in der Zeitschrift „Business Punk“ erklärt, dass Acht-Stunden-Tage nicht mehr in die Zeit passen. Sie gehe davon aus, dass dieses Konzept im Zuge der Pandemie verschwinden werde. Das sind Ansichten aus der elitären Warte. Genau jene nämlich, die jetzt das System am Laufen halten, könnten mehr, immer noch mehr arbeiten. Sie müssen physisch da sein, digital reicht da nicht.
Außerdem fangen sie den Personalmangel auf oder arbeiten die erhöhte Auftragslage ab. Für sie gibt es keine Dienstzeit auf dem Sofa; für sie gibt es Überstunden. Das geht so weit, dass selbst positiv getestete Pflegekräfte zum Dienst rekrutiert werden können, um den Personalmangel auszugleichen. Privat haben sie sich als positiv Getestete zu separieren. Sie dürfen allerdings die öffentlichen Verkehrsmittel benutzen, um zur Arbeit zu kommen. Systemrelevante kriegen mit Glück etwas Applaus — aber eine Vorzugsbehandlung und ein bisschen Schongang ganz sicher nicht.
Systemrelevante Knechte
Auch die Arbeitskräfte im Supermarkt werden nicht behutsam behandelt. Für sie steht der letzte, garantiert freie Tag der Woche auf dem Spiel. Immer häufiger ertönen jetzt Forderungen, wonach man die Öffnungszeiten strecken sollte — speziell im Hinblick auf die Menschenmassen und das Weihnachtsgeschäft. Da wäre es doch sinnvoll, die Kundschaft auch sonntags in den Laden zu lassen.
Man kann gewissermaßen festhalten, dass die systemrelevanten Berufsgruppen nun über Gebühr strapaziert werden. Sie werden verheizt und als Ressource verjuxt. Ja, sie müssen unter erschwerten Bedingungen mehr arbeiten. Das geht schon damit los, dass sie den ganzen Arbeitstag lang Maske tragen müssen. Zu bezahlten Pausenzeiten, die man den Arbeitgebern auferlegt, konnten sich Gesundheits- und Arbeitsministerium aber nicht durchringen. Üblicherweise ist die Einhaltung solcher Pausen beim Einsatz in Maske Angelegenheit des Arbeitsschutzes.
Aber der ist in weiten Teilen abgemeldet. In den Betrieben wird die Ausnahmesituation dazu benutzt, um hier und da über die Stränge zu schlagen. Da empfiehlt der Chef dann neuerdings, sich privat an alle Regeln zu halten, fordert in Einzelfällen den Einsatz der Corona-Warn-App — und wie man betriebsintern Druck aufbauen wird, um Impfskeptiker auf die Spur zu bringen, bleibt sorgenvoll abzuwarten. Der Datenschutz wird zudem ausgehöhlt, Diagnosen wüsste das Unternehmen dann schon gerne, wenn jemand nicht zur Arbeit kann. Nur um ganz sicher zu gehen, versteht sich.
Nie zuvor in der Geschichte wurde eine Knechtschaft mit so viel Jubel und Applaus eingeläutet. Das System, das die Arbeitskraft relevanter Berufsgruppen braucht, um nicht einzubrechen, hat es nie gut mit ihnen gemeint. Es hat schon vorher prekäre Verhältnisse geschaffen und reibt aktuell dieses Prekariat neuerlich auf. Und wenn die bis zur Erschöpfung Belasteten dann in einigen Wochen mit der Familie zusammensitzen, ernten sie gar noch Schelte von solchen, die seit Monaten im Homeoffice sitzen und die Situation noch halbwegs in Ordnung finden. Und jetzt erzähle uns noch jemand was von klassenloser Gesellschaft …