Verrat an der Freiheit
Derselbe Geist, den die Medien 1990 noch bejubelten, wird dank Corona nun gnadenlos diffamiert.
1990 bewegte eine große Aufbruchsbewegung in Deutschland die Welt und fegte ein überlebtes Regime von der Bühne der Geschichte. Damals überschlugen sich die westlichen Medien vor Begeisterung. Heute ein ähnliches Bild: Unzufriedene Bürger kämpfen um Freiheitsrechte, die ihnen von „oben“ illegitimerweise geraubt werden. Ganz anders nun die Reaktion der Presse: die Bewegung gegen den übergriffigen Staat in Zeiten eines drohenden Corona-Totalitarismus wird mit allen Mitteln diffamiert und delegitimiert. Für den Autor, der damals Teil der Protestbewegung war und es heute erneut ist, ein Anlass, Bilanz zu ziehen. Die Erfahrungen von 1990 ermutigen ihn, dem derzeitigen Corona-Regime entgegenzutreten und gegen den Grundrechte-Abbau sein Gesicht zu zeigen.
Anfang Oktober des Jahres 1990 sitzt ein Junge in seinem Zimmer und wartet gespannt darauf, dass es Mitternacht wird. Er möchte in dieser Nacht Zeuge eines historischen Ereignisses werden, dessen schier unglaubliche Entwicklung er monatelang über die Medien, Erzählungen und im Schulunterricht mitverfolgen konnte.
Ein kleiner alter Röhrenfernseher flimmert im Raum und überträgt die Bilder aus dem fernen und formal noch geteilten Berlin. Dort haben sich Tausende von Menschen friedlich versammelt und warten sicher nicht minder gespannt auf den entscheidenden Zeitpunkt. Den Moment, der von einer so euphorischen und glücklichen Grundstimmung bestimmt wird und unendlich viel Hoffnung in sich trägt. Das Miteinander der Menschheitsfamilie, so die Gedanken des Jungen, könnte doch fortan von Frieden, Freiheit und Wohlstand geprägt sein, wie es auf der Erde vielleicht so noch nie zu verzeichnen war. Ein goldenes Zeitalter in Anlehnung an jene fast schon glorreichen westlichen Ideale, die ihm in den Medien und im Schulsystem nahegebracht wurden.
Meine Erinnerung daran wird fast genau 30 Jahre später durch die aktuellen Ereignisse wieder an die Oberfläche gespült. Wieder ist da dieses Gefühl, die innere Gewissheit, dass sich gerade etwas Historisches entwickelt, wenn auch mit dem Unterschied, dass das heutige Geschehen eine persönliche und wesentliche Unmittelbarkeit in sich birgt.
War ich doch damals nur einer von denen, die nicht in den sogenannten neuen Bundesländern vor Ort dabei sein konnten und somit abhängig von der Berichterstattung der wenigen Fernsehsender und ihrer Korrespondenten waren.
Wir „hier“ waren Beobachter, maximal Zaungäste, die aufgrund der Berichte von Montagsdemonstrationen und Friedensgottesdiensten „da drüben“ aus dem freudigen Staunen nicht mehr herauskamen. Und immer wieder sind meine Erinnerungsfragmente mit dem „Wir sind das Volk“ der Menschenmenge als Gänsehaut erzeugende Klangkulisse untermalt.
Ich wurde in die Bundesrepublik als Ausländer hineingeboren. Ein von der ersten Minute an „Reing‘schmeckter“, wie man im Schwäbischen auch zu sagen pflegt. Als Kind der Gastarbeitergeneration interessierte mich selbstverständlich, was da in Deutschland geschah. Hier wurde ich nicht nur geboren, sondern ging auch in den Kindergarten, in die Schule, fand Freundschaften und lebte dennoch die ganze Zeit quasi wie auf Abruf. In dem Wort „Gastarbeiterkind“ steckt immerhin das Wort „Gast“, somit ein Zustand, der nicht auf Dauer ausgelegt ist. Und tatsächlich war das Thema Rückkehr in das Herkunftsland der Eltern immer irgendwie präsent.
Somit ist es wohl plausibel, wenn dann weitere Erinnerungen aus dieser Zeit ebenfalls recht schnell auf dem inneren Bildschirm erscheinen, zeitlich relativ weite Rückblicke auf ein anderes geografisch nicht allzu weit entferntes Land, das damals nicht minder vor einschneidenden geschichtlichen Veränderungen stand. Es war das Land, dessen Staatsangehöriger ich seinerzeit war, das heute aber nicht mehr existiert: Jugoslawien, ein Teil der Welt, den ich in Urlaubsbesuchen bei den Verwandten kennengelernt hatte und dessen Geschichte und Geschichten mir in der wöchentlichen „Jugo-Schule“, einem zusätzlichen und freiwilligen Nachmittagsunterricht, nähergebracht wurden.
Der jugoslawische Staat hatte mit Unterstützung der hiesigen Behörden in fast jeder größeren deutschen Stadt die Möglichkeit geschaffen, uns Gastarbeiterkinder weitestgehend rückkehrtauglich zu machen, und daher war mein Interesse an den Ereignissen dort nicht unerheblich. Auch in der Zusatzschule wurde versucht, mir Ideale zu vermitteln.
All die Errungenschaften aus dem Partisanenkampf gegen den Faschismus in einer Region, die schon seit einer gefühlten Ewigkeit unter der Herrschaft von fremden Mächten stand, die ihre Prägung hinterließen. Das Nebeneinander verschiedener Religionen und Volksgruppen, ein Sozialismus mit einem gewissen Alleinstellungsmerkmal, wirtschaftliche Selbstverwaltung, Blockfreiheit (also weder Ost noch West) und vieles mehr, alles unter dem einprägsamen Slogan „Brüderlichkeit und Einheit“ zusammengefasst. Das staatliche Marketing für die inländische Bevölkerung und die Diaspora funktionierte, jedoch nicht auf Dauer.
Warum, mag sich nun die Frage aufdrängen, kommen genau diese Erinnerungen im globalpandemischen Frühling 2020 wieder empor? Weder geht es doch heute um den entscheidenden Sieg des einen politisch-wirtschaftlichen Systems über das andere, noch geht es um eine Herausforderung in diesem Land, die derart von Rezession und Inflation geprägt ist und daraus soziale, religiöse oder ethnische Spannungen bis hin zu kriegerischen Auseinandersetzungen drohen.
Die meisten Menschen haben im Verlauf der Jahre so etwas wie eine interessierte Gleichgültigkeitshaltung gegenüber Krisen jeglicher Art entwickelt. Eine geistige Hornhaut, unter der gut eingebettet ein Stachel sitzt, der sich je nach Druck bemerkbar macht, aber nicht weiter schlimm ist.
Schließlich wurde doch jede Krise seit Ende des Zweiten Weltkriegs in den einschlägigen Entscheidungszentren mehr oder minder gut gemeistert. Dieses Mal scheint es allerdings eine schwer einzuordnende und weltweite Minderheit zu geben, bei der sich der Stachel früh bemerkbar gemacht hat und der als immer unangenehmer empfunden wird.
Ich erlebte vor 30 Jahren eine Zeit mit völlig diametral verlaufenden Entwicklungen, die mir unvereinbar und verwirrend erschienen. Allerdings fügen sie sich heute zu einer wesentlichen und prägenden Erfahrung zusammen, die meine Handlungen, Entscheidungen und Sichtweisen mitbestimmt. Es sind neben Erkenntnissen und Lehren insbesondere die Emotionen, die damit einhergehen. Ich habe mich 1989 mit den demonstrierenden Mengen in Leipzig und den vielen anderen Städten sehr verbunden gefühlt. Es war nicht nur ihre Auflehnung gegen so manch geschriebenes oder ungeschriebenes Gesetz, an dem sich diese Menschen nicht mehr orientieren wollten. Vielmehr konnte und kann ich den tief innewohnenden Drang mitfühlen, vieles tun und lassen zu können, wonach einem der Sinn steht.
Lebendigkeit jenseits von sperrigen Einzäunungen erfahren zu können, ohne im Gegenzug andere Menschen benachteiligen oder gar schädigen zu wollen. Im Gegenteil, in diesem Sehnen ist der Wunsch nach Kooperation, nach Austausch, Vertrauen und Teilhabe verankert und vor allem der nach Freiheit, in einer viel umfassenderen Bedeutung und Wirkung, als ein Lexikon den Begriff zu beschreiben vermag.
Auf der anderen Seite sind da eben auch Erinnerungen an das, was fehlte. Zu wenige sind, wie sich herausstellen sollte, im später blutig zerfallenden Jugoslawien auf die Straßen und Plätze gegangen, um gegen Spaltungen unterschiedlichster Machart Gesicht zu zeigen. Zu wenige waren es leider, die damals als „Spinner“ oder „Panikmacher“ galten und die auf die Gefahr eines Krieges hinwiesen. Waschechte Verschwörungstheoretiker. So wären sie heute von den Massenmedien sicherlich bezeichnet worden, doch wurden sie von den jugoslawischen Meinungsmachern überwiegend nicht einmal für erwähnenswert erachtet.
Medial völlig im Hintertreffen, hatten diese „Verwirrten“ viel zu wenige Möglichkeiten, um sich Gehör zu verschaffen oder gar eine breitere Zuhörerschaft zu erreichen. Selbst im Familienkreis waren sie die krassen Außenseiter. Zu abstrus und unglaublich waren die Thesen dieser Menschen über die Machenschaften im Verborgenen, die sich im Nachhinein viel zu oft bewahrheiteten und plötzlich plausibel wurden. Ich durfte also doppelt erleben, wie das Undenkbare in kurzer Zeit Wirklichkeit geworden war. Wie nah Euphorie und Entsetzen, Hoffnung und Desillusionierung, Frieden und Gewalt doch sein können. All dies kreuzte meinen Lebenslauf und hinterließ Spuren.
2020, nach Monaten des maskierten „1,5-meter-social-distanced-curve-flattening-whilst-homeofficing“, gehen wieder Menschen auf die Straße. Auch sie verspüren diesen Drang, sich nicht an hastig durchgepeitschten Verordnungen, geplanten und teils schon verabschiedeten Gesetzen und Widersprüchen zu orientieren. Dieses Mal bin ich einer von ihnen. Darf einer von denen sein, die dieses gewisse Bauchgefühl haben, dass etwas gewaltig nicht in Ordnung ist. Jemand, der Willkür, Unverhältnismäßigkeit und ja, Unrecht und Ungerechtigkeit nicht als neue Normalität definiert bekommen möchte. Weder für mich selbst noch für meine Kinder und alle nachfolgenden Generationen. In mir bäumt sich jedenfalls ein „Wir sind das Volk“ oder viel treffender ausgedrückt „Wir sind auch das Volk“ auf.
Doch was während der Wende damals von den westlichen Leitmedien als Ausdruck und Gefühl des unbändigen Freiheitswillens gepriesen wurde, wird heute teils von denselben Redakteuren und Korrespondenten in eine allzu schmuddelige, dunkle Ecke geschoben. Der zugegebenermaßen oft überstrapazierte Slogan passt anscheinend nicht in diese Epoche, in diese so schnelllebige Zeit, in der eine ernsthafte inhaltliche Auseinandersetzung von der selbsternannt „vertrauenswürdigen“ Seite der Meinung nicht einmal ansatzweise in Erwägung gezogen wird. Zu sehr wurde das Urteilsvermögen der modernen Medienkonsumenten auf immer höhere Geschwindigkeit getrimmt, was im Satz eines blaugesträhnten Online-Beeinflussers gipfelte, als er sagte: „Da gibt es nur eine legitime Meinung!“
Wir erleben ein Verordnungsregime, das jene, die dennoch von den "alternativlosen" Vorgaben abweichen, etikettiert, einfärbt und willkürlich kategorisiert. So lange, bis der eigentliche und wesentliche Inhalt als gefährlich, verdorben oder im besten Fall als uninteressant gilt und sich so ein seriöser innerer Diskurs bei vielen — auch nur scheinbar selbstlegitimiert — erübrigen darf.
Ich habe mir in diesen bewegten Tagen die Frage gestellt, was ich mir selbst für die kommende Zeit wünsche. Zwischen die vielen Wünsche, für die ich einstehe und seit vielen Samstagen Präsenz zeige, hat sich ein ungewöhnlicher Wunsch gemogelt: Dass ich mit meinen sachlichen Einschätzungen und emotionalen Vergleichen zu Ereignissen in der Vergangenheit falsch liege. Dass mir etwas Entscheidendes entgangen ist und ich aufgrund unvollständiger oder falscher Informationen voreilige Schlüsse gezogen habe. Dass ich mit vielen tausend Menschen in dieser Zeit den gesellschaftlichen Alarmknopf zu früh gedrückt habe und meine anderen Mitmenschen dieses nervige Geräusch ertragen mussten. Noch sehe ich allerdings keine Anzeichen, dass sich dieser Wunsch so schnell erfüllt und ich für den Fehlalarm um Verzeihung bitten muss. Ich wünsche mir auch, dass mein Bauchgefühl mich hier und da täuschen mag, doch da stehen die Chancen erfahrungsgemäß schlecht.
Meine Kinder und ihre ganze Generation sollten auf die heutige Zeit und deren Geschichten, die dann Teil ihrer eigenen sein werden, überwiegend positiv und humorvoll zurückblicken können. Vor einigen Jahren hat mich das Schicksal einer bosnischen Mutter erschüttert, die die Gräber ihrer beiden Söhne auf zwei unterschiedlichen, nur wenige Meter voneinander entfernten Friedhöfen besuchen muss, da jeder ihrer Söhne sein Leben für ein Ideal gelassen hat, das mit dem des anderen jeweils unvereinbar war.
Umso mehr wünsche ich mir, dass sich die Gräben heute schneller wieder schließen, als sie sich aufgetan und vertieft haben. Ich wünsche mir, dass sich in der postcoronalen Zeit wieder eine offene Gesprächs-, Diskussions- und Streitkultur einfindet und sozusagen eine mentale Blockfreiheit einkehrt. Künftige Generationen sollten den Begriff „alternativlos“ in einem Lexikon nachschlagen müssen, während sie das Potenzial unzähliger Möglichkeiten in höchstem Maße selbstverantwortlich und frei ausschöpfen dürfen.
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