Verliebt in die Fragen

Um eine lebenswerte Zukunft zu schaffen, müssen wir der Versuchung widerstehen, vorschnelle Antworten zu geben, und veraltete Denkmodelle loslassen. Exklusivabdruck aus „Regenerative Kulturen gestalten“.

Da der Klimakollaps unmittelbar bevorsteht, glauben viele, keine Zeit mehr zu haben, um verschiedene Lösungsvorschläge ausführlich zu erwägen. Erst recht fehlt die Geduld, Fragen zu entwickeln, die unsere Zukunft auf diesem Planeten betreffen. In dieser Unsicherheit werden wir von verschiedenen Richtungen mit fertigen, scheinbar schlüssigen Antworten konfrontiert. Von diesen greifen wir uns einige heraus, präsentieren sie als unsere ureigene Meinung und verteidigen sie unduldsam gegen Widerspruch. Dieses „Verfahren“ ist mitunter fatal, denn bei noch so großer Geschwindigkeit kommen wir nicht ans Ziel, wenn wir uns nicht vorher überlegt haben, welches eigentlich die richtige Richtung ist. Diese finden wir nur, wenn wir bei der Betrachtung unseres Verhältnisses zur Mitwelt in die Tiefe gehen, gegenseitige Abhängigkeit erkennen und daraus zukunftsfähige Antworten ableiten.

„Habe Geduld gegen alles Ungelöste in deinem Herzen und versuche, die Fragen selbst liebzuhaben, wie verschlossene Stuben und wie Bücher, die in einer sehr fremden Sprache geschrieben sind. Forsche jetzt nicht nach den Antworten, die dir nicht gegeben werden können, weil du sie nicht leben könntest. Und es handelt sich darum: alles zu leben. Lebe jetzt die Fragen! Vielleicht lebst du dann allmählich, ohne es zu merken, eines fernen Tages in die Antwort hinein“ (Rainer Maria Rilke, 1903).

Unsere Kultur ist besessen von schnellen Lösungen und unmittelbaren Antworten. Die Zeit ist knapp bemessen, und wir wollen sie nicht mit Fragen vergeuden. Das Credo lautet: Lasst uns praktisch bleiben und keine Zeit mit Theorie oder Philosophie verschwenden! Aber wie kann man mit der „Liebe zur Weisheit“ Zeit verschwenden? Ist es nicht die Weisheit, die uns hilft, unseren Weg in eine ungewisse und unvorhersehbare Zukunft zu finden? Brauchen wir nicht dringend Weisheit, um weise auf die vielen konvergierenden Krisen um uns herum zu reagieren? Mit Weisheit können wir diese Krisen der Heilung als Triebkräfte eines tiefgreifenden kulturellen Wandels begreifen, der bereits an vielen Orten der Welt stattfindet und sich rasch ausbreitet. Er fordert uns heraus, veraltete Denkmodelle und die uns nicht mehr dienende Erzählung darüber, wer wir sind, loszulassen.

Fragen — und nicht Antworten — sind der Weg zur kollektiven Weisheit

Indem wir die Fragen tiefer leben und lieben, können wir die Schönheit und den Reichtum um uns herum wiederentdecken, einen tiefen Sinn in der Zugehörigkeit zum Universum finden, tiefe Freude in der Pflege von Beziehungen mit allem Leben und tiefe Zufriedenheit in der Mitgestaltung eines blühenden und gesünderen Lebens für alle. Fragen sind, mehr als Antworten, der Weg zu kollektiver Weisheit. Fragen können kulturell kreative Gespräche auslösen, die unser Selbstverständnis und unsere Beziehung zur Welt verändern. Wenn wir dies bedenken, ändert sich alles sofort.

In einer Kultur, die endgültige Antworten von uns verlangt, scheinen Fragen nur eine vorübergehende Bedeutung zu haben; ihr Zweck ist es, uns zu Antworten zu führen.

Aber könnten angesichts des ständigen und schnellen Wandels und der Ungewissheit nicht eher Fragen als Antworten einen angemesseneren Kompass bieten? Unsere Geschichte liefert viele Beispiele dafür, wie die Lösungen von gestern zu den Problemen von heute wurden. Vielleicht sind Antworten daher ein vorübergehendes Mittel, uns zu helfen, bessere Fragen zu stellen. Sollten wir nicht mehr darauf achten, die richtigen Fragen zu stellen, anstatt von schnellen Lösungen besessen zu sein?

Wenn wir der Praxis den Vorzug vor der Theorie geben, zeigen wir damit nicht auch, wie blind wir für die Tatsache geworden sind, dass jede praktische Handlung auf unseren Ideen und Überzeugungen über die Welt beruht, ob wir uns dessen bewusst sind oder nicht? Die Trennung von Theorie und Praxis ist falsch; sie sind keine Gegensätze, sondern zwei Seiten ein und derselben Medaille. Wir können nicht klug handeln, ohne der Welt einen Sinn zu geben, und den Sinn der Welt zu geben ist an sich schon eine zutiefst praktische Handlung, die bestimmt, wie wir die Realität erleben, wie wir handeln und welche Beziehungen wir eingehen. Wenn wir unsere Weltanschauung und die Erzählungen, die unsere Kultur geprägt haben, nicht infrage stellen, werden wir dann nicht immer wieder die gleichen Fehler machen?

Praktisch alle Strukturen und Institutionen um uns herum bedürfen der Innovation, Neugestaltung und Umgestaltung. Auf lokaler, regionaler, nationaler und globaler Ebene brauchen wir einen transformativen Wandel im Bildungswesen, in der Verwaltung, in der Industrie, im Verkehr, in der Infrastruktur, in den Energiesystemen, in der Wasserwirtschaft, in der Land- und Ernährungswirtschaft, in den Gesundheitssystemen sowie in den Sozialsystemen. Damit die transformative Innovation ihre kreativen Potenziale entfalten kann, müssen wir das Finanz- und Wirtschaftssystem auf allen Ebenen — von der lokalen bis zur globalen Ebene — neu gestalten. Der wichtigste Wandel, der stattfinden muss, bevor wir uns überhaupt daran machen können, ‚das menschliche Dasein auf der Erde neu zu gestalten‘, besteht jedoch darin, unsere Denkweise, unsere Weltanschauung und unser Wertesystem grundlegend zu hinterfragen. Solche primären Veränderungen unserer mentalen Modelle, Grundüberzeugungen und Annahmen über die Natur der Realität werden sich darauf auswirken, wie, was und warum wir gestalten, welche Bedürfnisse wir wahrnehmen, welche Fragen wir stellen, und damit auch, welche Lösungen oder Antworten wir vorschlagen.

Ich glaube, dass ein tiefgreifender kultureller Wandel bereits voll im Gange ist. Die Menschheit wird sich der Komplexität der vor ihr liegenden Herausforderungen bewusst. Eine neue Art individueller und kollektiver Führung entsteht in der Wirtschaft, der Zivilgesellschaft und der Politik. Nachdem wir jahrhundertelang überall Knappheit und Wettbewerb beobachtet haben, werden wir uns nun des Reichtums gewahr, der sich durch Zusammenarbeit und Teilen offenbart. Im Laufe dieses Buches werden wir untersuchen, auf welche Art und Weise viele Menschen auf der ganzen Welt bereits an technologischen, sozialen, wirtschaftlichen und ökologischen Lösungen arbeiten, die der gesamten Menschheit dienen und geschädigte Ökosysteme wiederherstellen.

Auf einem übervölkerten Planeten, der von einem unkontrollierten Klimawandel und der Erschöpfung vieler nicht erneuerbarer Ressourcen, von denen wir derzeit abhängig sind, bedroht ist, werden wir uns zunehmend unserer gegenseitigen Abhängigkeit bewusst.

Damit unsere Spezies nicht nur überleben, sondern auch gedeihen kann, sind wir aufeinander und auf das Lebenserhaltungssystem des Planeten angewiesen. Während die meisten unserer derzeitigen wirtschaftlichen und politischen Systeme auf der Grundlage einer Win-lose-Mentalität (Nullsummenprinzip) konzipiert wurden, beginnen wir zu verstehen, dass wir mittel- bis langfristig alle verlieren werden, wenn wir nicht das gesunde Funktionieren der Ökosysteme aufrechterhalten und regenerieren, die überall herrschende krasse Ungerechtigkeit verringern und den sozialen Zusammenhalt und die internationale Solidarität durch Kulturen der Zusammenarbeit fördern.

Der Übergang von einer Nullsummenkultur (win-lose) zu einer Nicht-Nullsummenkultur (win-win) erfordert eine umfassende Zusammenarbeit, um sicherzustellen, dass auch die Natur gewinnt (win-win-win), und zwar als Erstes. Denn sie liefert den Reichtum, von dem wir abhängen. Nur wenn wir zusammenarbeiten, um einen gesünderen, vielfältigeren, lebendigeren und bioproduktiveren Planeten zu schaffen, werden wir in der Lage sein, regenerative Kulturen zu schaffen, in denen niemand zurückgelassen wird und alle gewinnen.

Win-win-win-Kulturen sorgen dafür, dass sich das Leben weiter in Richtung zunehmender Vielfalt, Komplexität, Bioproduktivität und Widerstandsfähigkeit entwickeln kann. Wir können uns die drei Zugewinne regenerativer Kulturen als individuelle, kollektive und planetare Gewinne vorstellen, die durch systemische Lösungen entstehen, die die soziale, ökologische und wirtschaftliche Gesundheit und das Wohlbefinden fördern.

Die Menschheit beginnt, den fruchtbaren Boden der Schaffung von Win-win-win-Lösungen zu erkunden, die die kulturelle, ökologische und wirtschaftliche Regeneration vorantreiben. Bei der Entwicklung innovativer, integrativer Lösungen für die Gestaltung ganzer Systeme geht es um die Schaffung gemeinsamen Reichtums durch gemeinschaftliche Vorteile. Solche Innovationen optimieren das System als Ganzes, anstatt kurzfristige wirtschaftliche Gewinne für einige wenige zum wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Nachteil vieler anderer zu maximieren.

Der Klimawandel ist nur eine der konvergierenden Krisen, die eine global koordinierte Antwort erfordern, die nichts weniger als eine zivilisatorische Transformation darstellt. Die Menschheit steht vor noch nie dagewesenen Herausforderungen und beispiellosen Chancen. „Business as usual“ ist nicht länger eine Option. Wandel und Transformation sind unvermeidlich.

Die Menschheit steht vor wichtigen Fragen: Werden wir in der Lage sein, in kreativer Weise durch diese Zeit des kulturellen Wandels zu steuern? Wird es uns gelingen, gemeinsam eine lebenserhaltende und regenerative menschliche Zivilisation zu schaffen, die sich in einer lebendigen Vielfalt lokal angepasster und global kooperierender Kulturen ausdrückt? Die Antworten auf diese Fragen werden noch jahrzehntelang unbekannt bleiben, doch sie werden die Zukunft der Menschheit und die Zukunft des Lebens auf der Erde bestimmen. Ja, wir brauchen Antworten, und wir müssen weiter mit möglichen Lösungen experimentieren. Beide Fragen sind hervorragende Möglichkeiten, um aus unseren Fehlern zu lernen und bessere Fragen zu stellen. Dennoch beruhen viele der Fragen und Lösungen, an denen wir arbeiten, auf falschen Annahmen über unsere wirklichen Prioritäten und wahren Bedürfnisse.

Wir täten gut daran, Einsteins Rat zu befolgen und uns mehr Zeit zu nehmen, um sicherzustellen, dass wir die richtigen Fragen stellen, bevor wir vorschnell Lösungen anbieten, die nur den Prozess des „Business as usual“ verlängern oder nur die Symptome eines Systems flicken, das auf falschen Annahmen beruht und weiter versagen wird, bis wir tiefgreifende Veränderungen einleiten, indem wir tiefer gehende Fragen stellen.

Die Fragen tiefer zu leben ist das kulturelle Leitsystem, das uns dabei helfen wird, die Kraft der transformativen sozialen und technologischen Innovation während des Übergangs zu regenerativen Kulturen freizusetzen. Fragen sind Einladungen zu Gesprächen in den Vorstandsetagen von Unternehmen, in gesellschaftlichen Gruppen und in Regierungsinstitutionen. Fragen sind Wege, um Brücken zwischen diesen verschiedenen Sektoren und zwischen den verschiedenen Disziplinen zu bauen, die unser Wissen zergliedern. Fragen — und die Gespräche, die sie auslösen — können die kollektive Intelligenz freisetzen und uns helfen, verschiedene Perspektiven schätzen zu lernen.

Die Fragen zu leben, tiefgründig zuzuhören und von verschiedenen Wissensformen zu lernen — all dies sind Wege, das Bewusstsein zu verändern und dadurch kulturelle und verhaltensbezogene Veränderungen zu bewirken. Die Fragen tiefer zu erfahren kann uns zu einer regenerativen Kultur der Gleichheit, Nachhaltigkeit und Gerechtigkeit führen. Dieses Buch ist eine Einladung zu einem Gespräch und ein Aufruf, die Fragen tiefer zu erfahren. Es wirft viele Fragen auf; wo es Antworten und Lösungen anbietet, verstehen Sie diese bitte als Aufforderung, ihre Bedeutung für den Übergang zu regenerativen Kulturen zu hinterfragen.

Eine erste Reaktion auf die Einladung, „die Fragen zu leben“, könnte sein: Wir haben angesichts der Dringlichkeit der Klimakrise und vieler anderer Entwicklungen, die jetzt Veränderungen erfordern, dafür jetzt keine Zeit! Aber gerade wegen dieser Dringlichkeit müssen wir die Fragen, die wir uns stellen, tiefer untersuchen. Das Falsche einfach nur zu verbessern, reicht nicht mehr aus. Wir müssen grundlegende Annahmen, Weltanschauungen und Wertesysteme infrage stellen und darauf achten, was der Menschheit und dem Leben dient und was nicht.

Wenn der Zusammenbruch und die Notwendigkeit von Veränderungen, die wir um uns herum erkennen, das direkte Ergebnis einer unangemessenen Art und Weise ist, uns selbst zu betrachten — die Geschichten, die wir darüber erzählen, wer wir sind, und die Bedeutung, die wir unserer Existenz verleihen —, dann muss der kulturelle Wandel zunächst mit der Art und Weise beginnen, wie wir denken und beobachten. Wir müssen unsere kulturelle Erzählung ändern, und das können wir durch kulturell kreative Gespräche erreichen, die durch das Stellen tiefer gehender Fragen angeregt werden. Indem wir die Fragen leben, werden wir beginnen, anders zu sehen, zu denken und zu leben; und indem wir anders leben, können wir eine andere Welt hervorbringen. Wir sind in der Lage, ein regeneratives menschliches Dasein auf der Erde mitzugestalten.

Eine junge Spezies wächst heran

Ein neues kulturelles Narrativ, eine neue Erzählung, ist im Entstehen begriffen — eines, das die Menschheit in ihrer wechselseitigen Abhängigkeit mit der größeren Gemeinschaft des Lebens vereint. Diese neue und auch uralte Geschichte des gemeinsamen Seins mit dem Leben und als Leben treibt Menschen und Gemeinschaften auf der ganzen Welt dazu an, in globaler Zusammenarbeit vielfältige, lokal angepasste, blühende Kulturen zu erschaffen. Regenerative kulturelle Muster beginnen sich als „Ausdruck des Lebens, das dabei ist, sich selbst zu transformieren“, herauszubilden. Václav Havel erkannte die Notwendigkeit eines solchen gesellschaftlichen Wandels, als er in „The Power of the Powerless“ schrieb:

„Ein echter, tiefgreifender und dauerhafter Wandel zum Besseren (...) kann nicht mehr aus dem Sieg (...) irgendeiner bestimmten traditionellen politischen Konzeption resultieren, die letztlich nur äußerlich, das heißt eine strukturelle oder systemische Verstellung sein kann.
Mehr als je zuvor muss ein solcher Wandel von der menschlichen Existenz ausgehen, von der grundlegenden Neugestaltung der Position der Menschen in der Welt, seiner Beziehungen zueinander und zum Universum. Wenn ein besseres wirtschaftliches und politisches Modell geschaffen werden soll, dann muss es vielleicht (...) aus tiefgreifenden existenziellen und moralischen Veränderungen in der Gesellschaft hervorgehen. Das ist nicht etwas, das man wie ein neues Auto entwerfen und einführen kann. Wenn es mehr sein soll als nur eine neue Variante der alten Degeneration, dann muss es vor allem ein Ausdruck des Lebens sein, das im Begriff ist, sich zu verändern. Ein besseres System wird nicht automatisch ein besseres Leben gewährleisten. Das Gegenteil ist der Fall: Nur durch die Schaffung eines besseren Lebens kann ein besseres System entwickelt werden.“

Die Menschheit wird erwachsen und braucht eine „neue Geschichte“, die kraftvoll und aussagekräftig genug ist, um eine globale Zusammenarbeit in Gang zu setzen und eine kollektive Antwort auf die sich zuspitzenden Krisen zu geben, mit denen wir konfrontiert sind. Transformationelle Antworten auf persönlicher und kollektiver Ebene sind durchaus möglich, wenn wir tief verwurzelte Seins- und Sichtweisen in Frage stellen und dabei beginnen, uns selbst neu zu erfinden. Dadurch verändern wir auch die Art und Weise, wie wir die Kultur durch unsere Interaktion mit der Welt um uns herum mitgestalten.

Aus einer langfristigen Perspektive betrachtet, durchlaufen wir als relativ junge Spezies auf diesem Planeten kollektiv einen Reifungsprozess, der von uns verlangt, dass wir unser Verhältnis zum übrigen Leben auf der Erde neu definieren.

Wir werden dabei vor die Wahl gestellt, entweder unterzugehen oder uns tiefgreifend zu verändern. Die grundlegende Geschichte, die wir über die Menschheit erzählen — wer wir sind, wozu wir hier sind und wohin wir gehen —, dient uns dabei nicht länger als moralischer Kompass.

So wie Teenager, die erwachsen werden, lernen müssen, dass sie nicht nur von der Familie und der Gesellschaft fordern, sondern auch einen sinnvollen Beitrag leisten müssen, kann die Menschheit nicht länger die natürlichen Kapitalvorräte der Erde abbauen. Wir müssen lernen, innerhalb der Grenzen der bioproduktiven Kapazität der Erde zu leben und zum Beispiel das aktuelle Sonnenlicht anstelle des alten Sonnenlichts — das in der Erdkruste als Öl, Gas und Kohle gespeichert ist — zu nutzen, um uns Energie zu liefern. Wenn wir aus unserer jugendlichen — und manchmal rücksichtslosen und selbstsüchtigen — Phase als junge Spezies dann in eine reife Mitgliedschaft der Lebensgemeinschaft auf der Erde eintreten, sind wir aufgerufen, produktive Mitglieder dieser Gemeinschaft zu werden und zu ihrer Gesundheit und ihrem Wohlergehen beizutragen.

Eine reife Mitgliedschaft in der Gemeinschaft bedeutet einen Wandel hin zu einer Form von aufgeklärtem Selbstinteresse, das so weit geht, dass die Vorstellung eines separaten und isolierten Selbst in seinem Kern infrage gestellt wird.

In dem grundlegend vernetzten und voneinander abhängigen planetaren System, an dem wir teilhaben, besteht der beste Weg, für sich selbst und die Menschen, die einem am nächsten stehen, zu sorgen, darin, sich mehr um das Wohl des Kollektivs, allen Lebens, zu kümmern. Metaphorisch gesprochen sitzen wir alle im selben Boot, unserem planetaren Lebenserhaltungssystem oder in Buckminster Fullers Worten: im „Raumschiff Erde“. Das „Sie gegen uns“-Denken, das allzu lange die Politik zwischen Nationen, Unternehmen und Menschen bestimmt hat, ist zutiefst anachronistisch.

Die Menschheit als ein Ganzes steht vor einem drohenden Klimachaos und dem Zusammenbruch von Ökosystemfunktionen, die für das Überleben unserer und vieler anderer Arten lebenswichtig sind. Wir werden keine Lösungen für diese Probleme finden, wenn wir weiterhin von denselben falschen Annahmen über die Natur des Selbst und der Welt ausgehen, die diese Probleme überhaupt erst geschaffen haben. Wir brauchen eine neue Denkweise, ein neues Bewusstsein, eine neue kulturelle Geschichte; nur dann werden wir in der Lage sein, die richtigen Fragen zu stellen und klarer zu erkennen, welche grundlegenden Bedürfnisse erfüllt werden müssen. Wenn wir ohne ein tieferes Hinterfragen sofort handeln, werden wir wahrscheinlich eher die Symptome als die Ursachen behandeln. Dies wird die Krise verlängern und vertiefen, anstatt sie zu lösen.

Selbst subtile Unterschiede im Sprachgebrauch wirken sich darauf aus, wie wir gemeinsam eine Kultur erschaffen. So ist es beispielsweise eine nützliche Strategie, die natürlichen Prozesse der Wasserreinigung, der Umwandlung von Sonnenlicht und Kohlendioxid in Biomasse, des Aufbaus fruchtbarer Böden, des Erosionsschutzes oder der Klimaregulierung als „Ökosystemleistungen“ zu bezeichnen (zum Beispiel Costanza et al., 2013), um sicherzustellen, dass diese Leistungen in unsere Wirtschaftsrechnung einfließen und als wichtigste Quelle der Wertschöpfung in der globalen Wirtschaft anerkannt werden. Andererseits impliziert der Begriff „Ökosystemleistungen“ eine utilitaristische Haltung gegenüber der Natur, als ob diese Prozesse nur so lange wertvoll wären, wie sie der Menschheit Nutzen bringen. Die Verwendung des Begriffs „Ökosystemfunktionen“ erkennt an, dass es sich um lebenswichtige Funktionen handelt, die die weitere Entwicklung des Lebens als Ganzes ermöglichen. Weltanschauungen entstehen und wandeln sich, wenn wir darauf achten, wie wir Erfahrungen gestalten und Perspektiven durch die Worte und Metaphern, die wir verwenden, verstärken.

Die Menschheit erlebt die unabwendbare Krise eines überholten Weltbildes. Diese Krise manifestiert sich in vielerlei Hinsicht, zum Beispiel als ein Wirtschafts- und Währungssystem, das auf einem übervölkerten Planeten mit schwindenden, nicht erneuerbaren Ressourcen keinen Sinn mehr ergibt. Überall auf der Welt sind wir Zeugen des sozialen Zusammenbruchs als Folge zunehmender Ungleichheit und des Kults des wettbewerbsorientierten Individualismus. Wir stehen vor einer Krise der Regierungsführung, da viele der größten Volkswirtschaften der Welt nicht mehr durch eine nationale oder kulturelle Identität definiert sind, sondern zu Unternehmen geworden sind, die versuchen, kurzfristige Gewinne zu maximieren, indem sie Kollateralschäden externalisieren. Wir werden weiterhin durch eine Krise des religiösen Extremismus und des Krieges herausgefordert, da wir dazu neigen, unseren Unterschieden mehr Aufmerksamkeit zu schenken als unserer gemeinsamen Menschlichkeit und unserem gemeinsamen Schicksal auf einem Planeten in der Krise.

Wir werden neu definieren müssen, wie wir uns selbst und unsere Beziehungen zueinander und zu allen anderen Lebensgemeinschaften auf der Erde sehen. Nur wenn wir unser kulturelles Narrativ ändern, können wir unsere Vision von der Zukunft verändern und unsere Beziehung zum Leben als Ganzes heilen.

Wie ein Fieber, das seinen Höhepunkt erreicht und kurz vor der Genesung des Patienten wieder abbricht, müssen die vielfältigen Krisen nicht als etwas völlig Negatives betrachtet werden. Wir können sie als eine „gute Krise“ (Pigem, 2009) umgestalten, wenn wir die deutlichen Anzeichen dafür beachten, dass Wandel und Transformation jetzt unvermeidlich und bereits auf dem Weg sind, und wenn wir die konvergierenden Krisen als kreative Herausforderungen sehen, um erwachsen zu werden und uns zu einem planetaren Bewusstsein zu entwickeln.

Die Vorstellung von unserer Getrenntheit ändern

Ich bin der festen Überzeugung, dass die vielfältigen Krisen, mit denen wir konfrontiert sind, Symptome unserer pathologischen Gewohnheit sind, uns als getrennt von der Natur, voneinander und von der Gemeinschaft des Lebens zu verstehen und zu erleben. Die gleichen Krisen sind jedoch auch ein Anzeichen dafür, dass der Heilungsprozess bereits im Gange ist. In „Blessed Unrest“ beschreibt Paul Hawken (2007), wie überall auf der Welt Zehntausende, möglicherweise Hunderttausende von zivilgesellschaftlichen Organisationen, Gemeinschaftsgruppen, Aktivistennetzwerken, Unternehmern und sozialen Innovatoren auf eine gerechtere, ausgewogenere und nachhaltigere Zukunft hinarbeiten, in der die Menschheit gedeihen kann und die Kultur eine regenerative und keine zerstörerische Kraft ist. Er bezeichnet diese sich entwickelnde und wachsende globale Bewegung treffend als die Immunantwort unseres Planeten.

„(...) wir stehen an einer Schwelle der menschlichen Existenz, an einem grundlegenden Wandel im Verständnis unserer Beziehung zur Natur und zueinander. Wir bewegen uns von einer Welt, die durch Begünstigungen und Sonderrechte geschaffen wurde, zu einer Welt, die durch Gemeinschaft geschaffen wird. Die gegenwärtige Stoßrichtung der Geschichte ist noch zu biegsam, um mit einem Etikett versehen zu werden, aber es zeichnen sich globale Themen ab, die als Reaktion auf kaskadenartige ökologische Krisen und menschliches Leiden verstanden werden können. Zu diesen Ideen gehören die Notwendigkeit eines radikalen sozialen Wandels, die Neuerfindung der Marktwirtschaft, die Ermächtigung der Frauen, Aktivismus auf allen Ebenen und die Notwendigkeit einer lokalisierten wirtschaftlichen Kontrolle. Es gibt eindringliche Rufe nach Autonomie, Appelle für eine neue Ressourcenethik, die auf der Tradition der Allmende beruht, Forderungen nach der Wiederherstellung des kulturellen Primats gegenüber der Hegemonie der Unternehmen und eine steigende Nachfrage nach radikaler Transparenz in Politik und Unternehmensentscheidungen.“

All diese Trends zeigen, dass in einer Welt, die von mehreren konvergierenden Krisen heimgesucht wird, die sich schnell verschlimmern, etwas Neues und Wunderbares geboren werden will. Wie Arundhati Roy so treffend sagte: „Eine andere Welt ist nicht nur möglich, sie ist bereits im Entstehen begriffen. An ruhigen Tagen kann ich sie atmen hören.“ Wenn wir uns die Zeit nehmen, die Fragen richtig zu stellen und sie individuell und kollektiv tiefer zu leben, werden wir nicht nur in der Lage sein, diese neue Welt atmen zu hören, sondern wir werden erkennen, dass wir mit jedem Atemzug Teil des Beziehungsnetzes sind, das diese Welt hervorbringt.

Charles Eisenstein hat in seinem Buch „The More Beautiful World Our Hearts Know is Possible“ (2013) viele Aspekte der entstehenden „neuen Geschichte“, die wir über uns selbst zu erzählen beginnen, anschaulich dargelegt. Er stellt die „Geschichte des Getrenntseins“ (Seite 1), die dazu führt, dass wir uns isoliert, entfremdet und unzureichend fühlen und daher miteinander konkurrieren und das Leben für unsere Zwecke dominieren, der „Geschichte des Interbeing“ (Seite 15) gegenüber, die unsere relationale Natur und gegenseitige Abhängigkeit anerkennt.

Da die Grenzen der Perspektive des Getrenntseins immer offensichtlicher werden und wir von Beispielen des Zusammenbruchs, der Verzweiflung und des Leids umgeben sind, die ihre kulturelle Dominanz hervorruft, beginnen wir nach gangbaren Alternativen zu suchen, nach anderen Wegen des In-der-Welt-Seins.

Wir treten ein in die „Geschichte des Interbeing“. Diese Geschichte lädt uns ein, tiefere Fragen zu stellen: Wer bin ich? Was lässt mich voll und ganz lebendig werden? Welches sind die tieferen Bedürfnisse, die meinen wahrgenommenen Bedürfnissen zugrunde liegen? Welche Geschichte wähle ich, um darin zu stehen? Wer ist meine Gemeinschaft? Was ist meine Rolle? Wie kann ich zu einer freudvolleren, kokreativen und bedeutungsvolleren Welt beitragen?

„Inmitten all der düsteren Ermahnungen, unsere Lebensweise zu ändern, sollten wir uns daran erinnern, dass wir danach streben, eine schönere Welt zu schaffen und nicht die gegenwärtige mit wachsenden Opfern aufrechtzuerhalten. Wir versuchen nicht nur zu überleben. Wir stehen nicht nur vor dem Untergang, sondern vor einer glorreichen Möglichkeit. Wir bieten den Menschen nicht eine Welt des Weniger, nicht eine Welt der Opfer, nicht eine Welt, in der man einfach weniger genießen und mehr leiden muss — nein, wir bieten eine Welt von mehr Schönheit, mehr Freude, mehr Verbundenheit, mehr Liebe, mehr Erfüllung, mehr Überschwang, mehr Freizeit, mehr Musik, mehr Tanz und mehr Fest. Die inspirierendsten Einblicke, die Sie je in das Leben hatten — das ist es, was wir anbieten“ (Charles Eisenstein, 2013).


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