Vergebung befreit
Wenn wir den Frieden wollen, müssen wir die negative Fixierung auf Menschen loslassen, die uns etwas angetan haben.
Es wird nicht allen noch bewusst sein. Aber aus christlicher Sicht befinden wir uns in einer „heiligen Woche“, der Karwoche. Was bedeutet das? Schon oft wurde der Kreuzweg als Gleichnis für unser oft mit Leiden verbundenes Leben betrachtet. Christen trösteten sich damit, dass sie gerade im Schmerz, im Erlebnis von Demütigung und Ausgeliefertsein, in der Opferrolle Jesus nahe sind. Der Religionsstifter zog seine Stärke gerade aus dem Mut, sich schwach zu zeigen. In der Coronazeit haben viele von uns einiges ertragen müssen — auch von den Pilatussen und „Kreuziget-ihn“-Rufern unserer Epoche. Wie damit umgehen? Und wie können wir am besten auf die furchtbaren Nachrichten aus der Ukraine reagieren, die viele unserer Zeitgenossen schon wieder mit einer „Auge um Auge“-Mentalität beantworten wollen? In beiden Fällen ist die Antwort: Vergebung. Dieses Wort, das uns ebenso vertraut ist, wie es uns im konkreten Fall noch immer irritiert und provoziert. Vergebung befreit uns von unserer „toxischen“ Bindung an die Täter, löst uns aus der unguten Logik von Aktion und Gegenreaktion heraus, bedeutet auch Anerkennung der eigenen Verwundbarkeit und der aus unserer Sicht so unvollkommenen Realität. Niemand „muss“ vergeben — sofern er aber den inneren und äußeren Frieden wünscht, gibt es keinen anderen Weg, sagt Pfarrer Jürgen Fliege.
Alldieweil sich viele Lämmerhirten immer noch in Schweigen hüllen oder gar einstimmen in das Geheul der Wölfe, die nach noch mehr Blut schreien, um endlich Frieden zu finden, will ich euch um den wahren Grund aller Friedenswege auf dieser Erde nicht betrügen.
Vergebung macht frei!
In der vorösterlichen Stille hören wir das Geschrei der aufgescheuchten Menschen umso lauter. Die Stille bringt es an den Tag. Die Stille zeigt uns, was nur durch die Stille geheilt werden kann: Es ist das große Geschrei nach Rache und Recht, Vergeltung und Vernichtung, nach Tod und Tod, nach Auge um Auge, nach Zahn um Zahn. Es tönt in diesem Jahr lauter denn je aus Ost und West, aus Moskau, Kiew, aus Den Haag bis Washington. Und wir, in unserem von Corona und Kriegsgeschrei aufgescheuchtem Land, sind mittendrin. Die einen schreien mit, die anderen halten sich die Ohren zu.
So will kein Frieden werden. Da schreibe ich euch ein paar Worte aus der Stille der semana santa, der heiligen Woche vor Ostern, die helfen sollen, den schweren Weg des Friedens, den Weg Jesu, den Weg voller Demütigungen und Schmerzen, den Weg des querliebenden Meisters aus Nazareth zu finden.
In der Stille wird es offenbar: Nur wer vergeben kann, ist frei. Wer nicht vergeben kann, ist nicht frei. Er ist gefangen und wird es bleiben, solange er lebt, und darüber hinaus in seinen Kindern und Kindeskindern.
Wer vergeben kann, ist stark und bleibt stark. Und seine Kinder auch. Denn er ist bei sich und nirgends sonst. Wer nicht vergeben kann, ist schwach. Und er wird durch seinen anhaltenden Kampf immer schwächer und bleibt darin gefangen.
Diese Wahrheiten sind so alt und so tief und liegen doch offen zu Tage. Aber sie werden gehandelt wie alte Geldscheine nach neu eingeführter Währung, mit denen man sich den Hintern abputzen kann. Kein Mensch will sie mehr in die Hand nehmen. Diese Wahrheiten sind so widerspenstig für alle Welt. Sie liegen quer zum Mainstream der johlenden Massen und Jagdmeuten, welcher Richtung oder Couleur auch immer. Und sie werden es immer sein. Es sind eben keine Wahrheiten für die Masse, fürs johlende Volk. Es sind Wahrheiten für die kritische Masse, die doch das Salz eines jeden Volkes sind. Die Vergebenden sind ja auch nicht das Ergebnis eines erfolgreichen Volksaufstandes gegen das Böse. Sie sind das Ergebnis eines inneren Weges, der Herz hat. Das ist ihr Sieg. Und der ist immer individuell. Und er hat die Kraft von Salz und Hefe.
Wie aber kommt man denn in so unruhigen Zeiten in eine ruhende Position des Herzens und der Liebe, dass man frei ist und vergeben kann? Wie wird man zum Salz der Welt? Als ob man eine Art Nelson Mandela wäre, der nach 28 Jahren Haft ohne Groll und Hass und ohne großes Geschrei nach Gerechtigkeit und Rache und Sühne vor die Menschheit treten konnte? Und alle hielten den Atem an und spürten, dass da ein Freier vor ihnen stand, ein ungebrochener Mensch, der während der vielen Jahre im Gefängnis auf Robben Island immer schon frei war, die ganze Zeit frei blieb und immer auch frei sein würde über seinen Tod hinaus.
Wie und wo findet man mitten im Sturm der Zeiten diese Stille in sich, diese innere Ruhe, wenn alle Welt um einen herum nur noch schreit: „Auge und Auge, Zahn um Zahn!“ Leben um Leben! Niemals, niemals werden wir vergeben! Zu groß die Wunden! Zu groß der Schmerz! Was da geschehen ist an mir, meinen Liebsten, an den Kindern und den Alten, an den Brüdern und Schwestern, an Tieren und Pflanzen, an der Gesellschaft und der ganzen Schöpfung muss gesühnt werden! Das muss gerächt werden. Das Leben verlangt Ausgleich. Und wer das Leben anderer verletzt hat oder gar ausgelöscht hat, warum auch immer, bezahlt mit gleicher Münze. Es geht nicht anders!
Das klingt gut. Das hat auf den ersten Ton auch etwas Beruhigendes, etwas Frieden Stiftendes: Ausgleich! Es hat auch scheinbar etwas von einer göttlichen beziehungsweise natürlichen Gesetzmäßigkeit. Es steht ja auch so im Alten Testament, stimmt! Aber es ist dort auch nur ein erster uralter Versuch unserer Kulturen, der himmelschreienden Lust auf archaische Rachegelüste und Macht über Andere Einhalt zu gebieten. Und die verfärben blutrot und -rünstig die reine Seele, damit diese den Schmerz der Wunden und Verluste nicht mehr wahrnehmen muss.
Der Schrei nach Rache hat etwas Narkotisierendes. Er ist ein den unmittelbaren oder auch anhaltenden Schmerz verdrängendes Therapeutikum. Er schreit aber in der Tiefe nur nach der mütterlichen Gemeinschaft, die alles gut werden lassen soll, und nimmt nicht wahr, dass die Gemeinschaft keinen Toten auferstehen lassen und kein Leid ungeschehen machen kann. Die Gemeinschaft hat allerdings etwas Tröstliches. Und Trost ist das wahre Therapeutikum im Leben der Menschen. Trost, damit die Leidenden und in ihrem Schmerz Einsamen bei Trost bleiben und nicht verrückt werden angesichts dessen, was sie da hinnehmen müssen.
Rache und Recht sind also nicht maßlos wie dein Schmerz. Sie haben beide ein Maß vor Augen: Auge um Auge, Zahn um Zahn. Mehr nicht! Ganz gleich, was du fühlst. Von diesem über 3000 Jahre alten und bewährten Rechtssatz bis zur tiefen, fast göttlichen Einsicht eines jungen Rabbi und spirituellen Meisters aus dem Dorf Nazareth, der dem Bösen nicht mit dem Bösen begegnen will und der auch seine zweite Wange noch anbietet, während die erste schon vor Schmerz rot wird, und seinen Leuten ansagt, die Fischermesser wieder einzustecken, ist es ein weiter Weg.
Es ist der innere Entwicklungsweg eines einsichtigen Herzens. Das weiß irgendwann: Der, der vergibt, ist stark. Der, der verzeiht, ist der Starke! Der, der überlebt und überlebt hat, ist lebendig geblieben. Wer aber nicht vergeben und verzeihen kann, bleibt ein Gefangener seiner eigenen Wunden. Sein Leben lang.
Die eigenen Wunden werden sich angesichts der Wunden der anderen nicht schließen. Schlimmer noch: Sie werden, weil ungeheilt, immer nur nach neuen Adressaten suchen für ihren ungelöschten Schmerz.
Welche Schalter des Bewusstseins müssen denn von wem und wie auch immer im eigenen Herzen umgelegt werden, damit jemand wie Dietrich Bonhoeffer in seiner Konzentrationslagerzelle schreiben kann, er hege keinen Groll gegen seine Wärter? Wie bekommt man so eine Ausstrahlung, dass die Wächter sagten, Bonhoeffer wirke auf sie wie ein König, der frei in seiner Zelle lebt? Warum grollt ein Dalai Lama den Chinesen nicht, die wohl Hunderttausende seiner Landsleute auf dem Gewissen haben?
Und wie ging – pardon, dass ich diese großen Namen in kleine Münzen wechsle – in einem anderen Maßstab ein Michael Ballweg in seiner engen Stammheimer Zelle auf und ab? Ist die Zelle dort auch zu einer Klause geworden? Wird dort eine Verhaftung ungewollt zu einer Klausur in der Stille? Dämmerte dem anscheinend Gefangenen, dass er in etwas Großem involviert ist, das ihn frei machen wird? Erwachte in ihm die Idee, dass er dort etwas unter Beweis stellen kann: dass nämlich sein öffentliches Bekenntnis zu bedingungsloser Gewaltlosigkeit eines Volkes, das sich sein Grundgesetz nicht nehmen lassen will, mehr ist als nur ein leeres Wort? Werden sie ihn in Handschellen vorführen. Und wie wird er sie tragen? Gott segnet ihn!
Die spirituellen Meister aller Kulturen haben den Frieden in der Welt immer auf diesen einen Punkt gebracht: Vergeben! Was damit gemeint war, hatte unterschiedliche Namen: vergeben, verzeihen, annehmen, nicht richten, Zeuge sein. Nach dem Großen Ausschau halten, das in jeder Tat und Bewegung verborgen ist, auch wenn nicht immer eine sinnvolle Antwort auf den Fuß folgt, kaum dass jemand die Klage gen Himmel schreit. Aber es war immer ein- und dieselbe Antwort der Meister: Der Friede wächst aus dem Verstehen und dem ihm folgenden Verzeihen. Ob und wie das gelingt, daran aber haben die Mörder, Täter, Verleumder, Ausspucker und Denunzianten keinen Anteil. Das ist der große Irrtum des Herzens, den der Feind zu nutzen weiß. Wir brauchen keine zu Kreuze kriechenden Russen, Amerikaner, Großfinanziers, Strippenzieher und deren Lakaien jedweder Couleur. Wir brauchen keine betreuten Sühner und tätigen Sünder. Wir brauchen keine faden Bereuer für den Weg des Friedens. Wir sind nicht auf sie angewiesen, zu lange müssten wir außerdem auf sie warten. Wir sind frei davon.
Der Weg beginnt in uns selbst. Wir sind der erste Schritt.
Was passiert denn beim Verzeihen? Die Sprache weiß es. Wir zeigen und zeihen mit dem Zeigefinger auf den vermeintlich Schuldigen. Und es dauert, bis wir wahrnehmen, dass dieses Zeihen nichts bewegt. Vor allem im Schuldigen nicht. Bei dem nehmen der Druck und die Angst und die Gewalt eher zu. Und auch nicht bei denen, die uns beim Richten und Rechten zuhören oder zuschauen. Nichts passiert, was dem Frieden dient. Es sei denn, bei uns selbst. Dann zeigen wir mit den drei gekrümmten Fingern auf uns und erkennen, dass wir noch leben. Erstaunlich! Bei dem, was man uns, unseren Liebsten und Fernsten angetan hat. Wir waren gedrückt, aber nicht unterdrückt. Wie Auferstandene laufen wir herum, die doch vor Monaten noch totgeweiht waren. Unser Leben ist uns geblieben, und die demütige Erkenntnis ist gewachsen, dass wir das nicht nur unseren eigenen Anstrengungen verdanken, sondern ebenso dem Mysterium des Lebens. Wir sind nicht so arrogant, uns den Sieg selber zuzuschreiben. Es hätte viel, viel schlimmer kommen können. Statt Arroganz hat Demut in uns Platz genommen.
Es ist eben auch — wir mögen Gott dafür danken oder nicht – ein Geschenk, dass wir überlebt und das Leben wieder gewonnen haben. Was denn sonst! Wir haben so viel von dem in unserem Herzen bewahrt oder gewonnen, was die anderen nicht oder nicht mehr haben. Uns wurde eine natürliche Immunität gegen Chemie und Stahlgewitter geschenkt. Jetzt können wir teilen und geben, abgeben, vergeben. Die arrogante Annahme, dass alles an „mir“ hinge, mit „mir“ stehe und fiele, ist einer neuen Demut gewichen. Aus dieser spirituellen Perspektive des erwachenden Menschen ist es erst möglich, das Schwere, das wir getragen und ertragen haben, vorsichtig und in aller Stille beiseite zu stellen. Es steht jetzt nicht mehr zwischen Täter und Opfer. Die Positionen haben sich, oh Wunder, vertauscht. Fragt Mandela, fragt den Dalai Lama, fragt Joshua, den mit der anderen Wange! Fragt sie, wie frei sie waren und sind!
Es ist ein inneres Wachsen aus tiefsten Einsichten in die Gesetze des Lebens, der Liebe und des Friedens heraus. Es ist das letztendliche Erkennen, dass der Schrei nach Gerechtigkeit nur ein Ausdruck unbewältigter Trauer ist, die erst spät in der Stille wieder einen Weg zum eigenen Herzen findet.
Es ist das erwachte spirituelle Bewusstsein, dass dieses Suchen nach Schuld und Schuldigen nichts weiter ist als die Verdrängung und Nichtanerkennung der eigenen Verwundbarkeit, Angst und Abhängigkeit. Es ist die tiefe Erkenntnis des weisen Salomo, Buddha und Jesus, dass alles seine Zeit hat und man nicht in die Speichen des Rades greifen muss, damit die Dinge sich ändern. Sie ändern sich durch Bewusstsein. Und dieses Bewusstsein lebt aus einem schier endlosen, ewigen Vertrauen ins Leben, das wir gerne Gottvertrauen nennen.
In dieser vorösterlichen Zeit wird dieser Weg des Herzens, dieser nicht enden wollende Weg, diese via dolorosa, die die Rache nicht kennt und auch schmerzlich gelernt hat, die irdische Gerechtigkeit zu hinterfragen, von den Mystikern unter uns immer wieder neu gegangen. Sie gehen ihn, indem sie die Meister imitieren. Manchmal nur einen Schritt. Manchmal eine ganze Wegstecke. Und da und dort auch ein Leben lang. Diese Imitation nennt man Liebe. Es ist das urteilslose Sich-Anschmiegen an die Realität hinter dem Schmerz. Es ist das Annehmen der schmerzhaften Geburt der Realität in unserem Bewusstsein und Herzen.
Dieser innere Weg zum Auferstehungsfest hat immer die gleichen sieben oder auch weit mehr Stationen. Angst, Ausgrenzung, Verachtung, Gewalt, Missbrauch, zum Schweigen bringen, Töten. Und der, der alles vergibt, trägt zu allen Zeiten zum Verspotten und Verhöhnen eine schmucke Dornenkrone. Würde er heute leben, stünde er vermutlich unter Antisemitismusverdacht. Ist das alles nun witzig oder ein letzter Versuch des Himmels, unser angsterfülltes versteinertes Herz wieder zum Schlagen zu bringen? Gott lob, es gibt eine Auferstehung des Herzens? Spott oder Nichtspott? Egal! Es stört nicht mehr wirklich. Vergebung ist der Weg! Einen anderen Weg, der zum Frieden führt, haben wir nicht. Wir haben es unter Schmerzen gelernt und sind nun frei es auch zu tun.