Verfehltes Menschsein

Die Anthroposophische Medizin unterwirft sich dem Vereinheitlichungsdiktat der WHO und verrät damit ihre eigenen geistigen Grundlagen.

Weltweit einheitliche Standards für medizinische Behandlung — das klingt nach Verlässlichkeit, nach Qualitätsgarantien, nach Gerechtigkeit gegenüber jeder Weltregion. Aber ist es wirklich ein zivilisatorischer Fortschritt, wenn Menschen, die unterschiedlicher nicht sein könnten, einander angeglichen werden und sich einer zentralen Steuerungsinstanz unterwerfen müssen? Noch dazu der WHO, die schon in der Coronafrage im negativen Sinn verhaltensauffällig geworden war. Die hat jetzt einheitliche Ausbildungsstandards für Ausübende der Anthroposophischen Medizin herausgegeben. Aber passt das zusammen — das oft als „esoterisch“ verschriene geistig orientierte Menschenbild Rudolf Steiners und die eher technokratisch agierende Gesundheitsorganisation? Und ist Menschsein nicht gerade dadurch gekennzeichnet, dass sich jeder individuell gemäß seinen inneren geistigen Anlagen entwickeln kann? Die anthroposophischen Würdenträger jedenfalls gaben sich dem Vorstoß der WHO sogleich willig hin. Sie sahen es offenbar als Aufwertung ihrer eigenen Position innerhalb des Medizinbetriebs, dass sie der Vereinheitlichungsbemühungen der Weltgesundheitsorganisation für würdig befunden wurden. Ob dies den Patienten am Ende wirklich nützen wird, muss man erst sehen.

Spätestens seit „Corona“ tritt die Frage nach der Gesundheit des Menschen in den Fokus der Erkenntniswissenschaft. Was macht uns zu „gesunden Menschen“? Was bedeutet es, wenn die Angelegenheiten der Gesundheit in eine zentrale Hand gelegt werden? Kann „Gesundheit“ zentralisiert und vereinheitlicht werden?

Vor Kurzem gab es eine Pressemitteilung der Medizinischen Sektion am Goetheanum, in der von einem „Meilenstein“ für die anthroposophische Medizin die Rede ist. Auszug:

WHO veröffentlicht erstmalig weltweit gültige Ausbildungsstandards für Anthroposophische Medizin. Berlin/Brüssel, 29. März 2023.Als Reaktion auf die weltweit steigende Nachfrage der Anthroposophischen Medizin hat die Weltgesundheitsorganisation (WHO) im März 2023 erstmalig global gültige Ausbildungsstandards — Benchmarks — für die Anthroposophische Medizin veröffentlicht. Die Benchmarks beschreiben Zugangskriterien zu den Ausbildungen, Ausbildungsinhalte und Ausbildungsdauer. Diese durch die WHO qualifizierten Standards machen die Relevanz der Anthroposophischen Medizin als eine weltweit praktizierte Medizin deutlich. Davon profitieren die Patientinnen und Patienten.Hohe Qualität für PatientInnen. ‚Wir begrüßen diese Entwicklung sehr‘, sagt Dr. Iracema Benevides, Chirurgin und Allgemeinärztin in Belo Horizonte/Brasilien und Vizepräsidentin der Internationalen Vereinigung Anthroposophischer Ärztegesellschaften (IVAA). ‚Das ist ein wichtiger Schritt für die Anthroposophische Medizin, um noch stärker in die nationalen Gesundheitssysteme integriert zu werden.‘ ‚Da immer mehr Länder Richtlinien für traditionelle, komplementäre und integrative Medizin definieren, hat die WHO die Benchmarks für Anthroposophische Medizin als Referenzpunkte entwickelt. An diesen können sich politische Entscheidungsträger, Mitarbeitende im Gesundheitswesen und Ausbildungseinrichtungen orientieren‘, sagt Dr. Kim Sungchol, Leiter der Abteilung für traditionelle, komplementäre und integrative Medizin bei der WHO.Der Veröffentlichung ging ein mehrjähriger Prozess voraus, in dem die Ausbildungsgänge für Anthroposophische Medizin von ExpertInnen nach WHO-Kriterien abgebildet und die Benchmarks in einem Peer-Review-Verfahren begutachtet wurden. ‚Wir sind mit dem Ergebnis sehr zufrieden. Die Benchmarks bilden genau das ab, was die unterschiedlichen Gesundheitsberufe brauchen, um Anthroposophische Medizin praktizieren zu können‘, ergänzt Dr. med. Matthias Girke, Facharzt für Innere Medizin und Leiter der Medizinischen Sektion am Goetheanum (Schweiz).“ Nachzulesen hier.

Was bedeutet das im konkreten Sinn? So sehr es zu begrüßen ist, dass die Anthroposophische Medizin internationalen Anklang und Bedarf findet, so schwierig ist es für mich nachzuvollziehen, was das für den individuellen Gesundheitsfall Mensch bedeutet. Allgemeine Standards bilden nicht den individuellen Blick auf den Menschen ab. Aber geht es denn nicht um diesen einen individuellen Menschen im Blick auf die Anthroposophie und auf den Bereich der Medizin? Was zur Frage führt, was uns überhaupt erst Mensch werden lässt. Rudolf Steiner formuliert es in seiner „Philosophie der Freiheit“ so:

„Wir können aber den Begriff des Menschen nicht zu Ende denken, ohne auf den freien Geist als die reinste Ausprägung der menschlichen Natur zu kommen.“ (...) Wäre der Mensch ein bloßes Naturwesen, dann wäre das Aufsuchen von Idealen, das ist von Ideen, die augenblicklich unwirksam sind, deren Verwirklichung aber gefordert wird, ein Unding. An dem Dinge der Außenwelt ist die Idee durch die Wahrnehmung bestimmt; wir haben das unserige getan, wenn wir den Zusammenhang von Idee und Wahrnehmung erkannt haben. Beim Menschen ist das nicht so. Die Summe seines Daseins ist nicht ohne ihn selbst bestimmt; sein wahrer Begriff als sittlicher Mensch (freier Geist) ist mit dem Wahrnehmungsbilde ‚Mensch‘ nicht im voraus objektiv vereinigt, um bloß nachher durch die Erkenntnis festgestellt zu werden. Der Mensch muss selbsttätig seinen Begriff mit der Wahrnehmung Mensch vereinigen. Begriff und Wahrnehmung decken sich hier nur, wenn sie der Mensch selbst zur Deckung bringt. Er kann es aber nur, wenn er den Begriff des freien Geistes, das ist seinen eigenen Begriff gefunden hat. In der objektiven Welt ist uns durch unsere Organisation ein Grenzstrich gezogen zwischen Wahrnehmung und Begriff; das Erkennen überwindet diese Grenze. In der subjektiven Natur ist diese Grenze nicht minder vorhanden; der Mensch überwindet sie im Laufe seiner Entwicklung, indem er in seiner Erscheinung seinen Begriff zur Ausgestaltung bringt“ (1).

Der Mensch macht sich selbst zu seinem Menschen, in dem er sein eigenes geistiges Wesen zum Ein- und Ausdruck bringt.

Doch wie kann gewährleistet werden, dass sich dies zukünftig weiterhin vollziehen kann, wenn es Absicht der WHO ist, die Gesundheit des Menschen zu vereinheitlichen, zu zentralisieren und nach ihren Standards hin zu „behandeln“? Hat die WHO nicht in den letzten drei Jahren deutlich gezeigt, wie sie arbeitet, wenn der Fall einer „Weltkrankheit“ in Erscheinung tritt? Wie schnell der Individualmensch dann in einem zentralen Regelwerk verschwindet, indem er sich diesem unterwirft? Dazu braucht es bald keine Masken mehr, um den Menschen als solchen zur Unkenntlichkeit zu führen.

Der freie Geist kann sich selbst nicht hervorbringen, wenn die Begriffe des seelisch-geistigen Menschen entfernt und nur noch der physisch sichtbare Leib des Menschen übrig bleibt und „behandelt“ wird. Es ist doch gerade das seelisch-geistige Menschenwesen, das den physischen Leib lebendig macht und zur Entfaltung des Menschen hinbegleitet. Die WHO nimmt keine Rücksicht auf dieses seelisch-geistige Wesen, sondern reduziert und normt es in seine selbst geschaffenen Standards, die nur den materiellen Blick gelten lassen — unter anderem die Meinung, dass Viren und andere Kleinstwesen Verursacher von Krankheiten sind und pandemisch ausgelöscht gehören. Daher ist es fraglich, ob es ein tatsächlicher Meilenstein für die Anthroposophische Medizin ist, wenn sie sich in dieses unbestreitbar materialistisch dominierte Gesundheitssystem integrieren lässt.

Wenn auf das World Economic Forum (WEF) gesehen wird, so tritt eine transhumanistische Idee in Erscheinung: die Idee, den Menschen in einen Hightech-Menschen zu verwandeln. Unsere Körper werden so hightech sein, dass man zwischen künstlich und natürlich nicht mehr unterscheiden können wird. So ein aktueller Beitrag des World Economic Forums. Da WEF und WHO eng miteinander arbeiten, ist es äußerst bedenklich, wenn der „natürliche“ Mensch so unkenntlich gemacht werden soll. Ein weiterer Gedanke ist der von Yuval Harari, der den Tod als lebensfeindlich einstuft und somit zum Gegner des Menschseins erklärt und die Idee entwickelt hat, Krankheiten und den Tod selbst auszulöschen aus dem Konstrukt „Mensch“.

Bedenkt das Herr Girke, einer der Leiter der Medizinischen Sektion am Goetheanum, wenn er zufrieden ist, von der WHO ins Regelwerk des Transhumanismus aufgenommen zu werden? Was geschieht, wenn der Hightech-Mensch nicht mehr vom seelisch-geistigen Menschen erfüllt werden kann? Denn wenn diese Idee sich realisiert, ist kein Platz mehr für den eigentlichen, frei geistigen Menschen im Maschinenwerk, auf den es letztendlich abzielt, wenn man die Werbevideos des WEF ansieht und versteht. Da ist kein Raum für die Anthroposophie.

Anthroposophie ist ein Erkenntnisweg, der das Geistige im Menschenwesen zum Geistigen im Weltenall führen möchte. Welches Wesen kann dann noch zum Geistigen im Weltenall geführt werden? Was will die Anthroposophische Medizin noch behandeln, wenn es nichts mehr gibt, was außer dem physischen Menschen behandelt werden kann?

Schwarzmalerisch? Nein. Es wird uns schmackhaft gemacht. Die Züchtung des neuen Menschen als Hightech-Mensch. Präpariert durch mRNA-„Impfungen“, deren biosynthetische Proteine direkt auf das Blut einwirken — Stichwort: „Blut ist ein ganz besonderer Saft“.

„Das Blut ist so der Stoff, der den menschlichen Leib auferbaut. Es stellt sich hier ein Vorgang uns vor Augen, durch den das Blut das Höchste aufnimmt, was es der Umwelt entnehmen kann, den Sauerstoff, nämlich dasjenige, was das Blut stets wieder erneuert, mit neuem Leben versorgt. Dadurch wird das Blut veranlasst, sich der Außenwelt zu öffnen. Damit haben wir den Weg verfolgt von der Außenwelt zur Innenwelt und wieder zurück vom Innern zum Äußern. Nun ist ein Zweifaches möglich. Wir sehen, dass die Entstehung des Blutes da liegt, wo der Mensch als selbstständiges Wesen der Außenwelt entgegentritt, wo er aus den Empfindungen, zu denen die Außenwelt geworden ist, selbstständig wiederum Gestalten und Bilder schafft, wo er schöpferisch wird, wo also das Ich, der Eigenwille aufleben kann. Kein Wesen, in dem dieser Vorgang noch nicht stattgefunden hat, könnte aus sich selbst heraus ‚Ich‘ sagen. Im Blute liegt das Prinzip für die Ich-Werdung. Ein Ich kann nur da zum Ausdrucke kommen, wo ein Wesen die Bilder, die es von der Außenwelt erzeugt, in sich selbst zu gestalten vermag. Ein Ich-Wesen muss fähig sein, die Außenwelt in sich aufzunehmen und innerhalb seiner selbst wieder zu erzeugen. Hätte der Mensch bloß Gehirn, so könnte er nur Bilder der Außenwelt in sich erzeugen und in sich erleben; er würde dann zu sich nur sagen können: Die Außenwelt ist in mir als Spiegelbild noch einmal wiederholt; kann er aber diese Wiederholung der Außenwelt zu einer neuen Gestalt aufbauen, dann ist diese Gestalt nicht mehr bloß die Außenwelt: Sie ist ‚Ich‘“ (2).

Auch die gedankenlose Verwendung künstlich hergestellter Ersatzteile für den Menschen ist im Blick auf die transhumanistische Idee bedenklich. Wer oder was sieht durch ein künstliches Auge? Was geschieht mit der eigenen Wahrnehmung? Wie wirkt sich diese dann auf das Seelenleben aus? Wird nicht somit am dreigliedrigen und ich-begabten Menschenwesen vorbei ein neuer steuerbarer Mensch geschaffen und soll es so möglich machen, den Tod aus dem Lebensplan zu streichen?

Dabei sollten zumindest Anthroposophen doch wissen, was dies dann als endgültige Konsequenz für uns als Geistwesen bedeutet, auch wenn es bis dahin noch eine Zeitlang dauert. Aber in Hinblick auf die Schöpfungsgeschichte Mensch ist es ein Quantensprung in Sachen Selbstzerstörung des Inkarnationsweges unter anthroposophischem Beifall, wenn nicht die Themata des Sinns von Krankheit und Tod in den Bereich der Erkenntniswissenschaft gerückt werden. Ohne die reinigende Kraft der Krankheiten als Entwicklungshilfe und den Tod als Übergang in die leibbefreite Lebensform als rein geistig-seelisches Menschenwesen wird es keine Zukunft für das Menschwerden geben. Und das ist es doch, wozu uns die Anthroposophie verhelfen will: überhaupt Mensch zu werden, denn nichts im geistigen Plan ist bereits „fertig“.

Und Yuval Harari verleugnet sein eigenes Menschenwesen, wenn er sagt, dass die Menschheit keine Zukunft außer die der Hightech-Menschheit hat. Wir tun uns keinen Gefallen, wenn die Gesundheitsfrage damit beantwortet wird, zum Maschinenmenschen umgeformt und vom Erdentod befreit zu werden.

Der Wunsch danach, das Paradies im irdischen Werk zu materialisieren und zu manifestieren und weithin Angst vor dem nachtodlichen „Nichts“ zu fördern und Kleinstwesen als Krankheitsursache zu suchen und zu vermarkten, ist letztlich eine Absage an den individuellen Menschen. Von daher ist ein offener Dialog zum Menschen im Menschen wesentlich von Bedeutung und wünschenswert. In diesem Sinne lade ich mit diesem offenen Brief dazu ein, sich selbst ins Erkenntnisbild zu rücken und danach zu streben, der transhumanistischen Idee das Ideal des Menschen selbst entgegenzuhalten und sich selbst dadurch ein Stück weit zum Weltenall hinzuführen.


Quellen und Anmerkungen:

(1) Rudolf Steiner: Die Philosophie der Freiheit. Rudolf Steiner Verlag, Basel, Taschenbuchausgabe, 11. Auflage 2016, Seite 140

(2) Rudolf Steiner: „Blut ist ein ganz besonderer Saft“. Öffentlicher Vortrag, Berlin, 1906