Verbrechen und Strafe
Ein berühmter Roman Fjodor Dostojewskis kann uns viel über das Scheitern des Westens im Ukrainekrieg lehren.
Dostojewski hat es in diesen Zeiten schwer. Posthum cancelt man seine Werke mancherorts, weil man ihm anlastet, aus dem gleichen Land zu stammen wie Wladimir Putin, welcher zu des Dichters Lebzeiten noch gar nicht geboren war. „Verbrechen und Strafe“, auch bekannt als „Schuld und Sühne“, ist ein Werk, dessen zeitlose Bedeutung sich in jeder Generation aufs Neue erweist. Heute gleicht vor allem der politische Westen Dostojewskis Antihelden Rodion Raskolnikow, der aus Größenwahn eine furchtbare Tat begeht und von deren Folgen unweigerlich eingeholt wird. Das „Verbrechen“ besteht im Versuch, das Riesenreich Russland in einen Krieg zu verwickeln und so zu zerstören. Die „Strafe“ ist nun, dass sich dieser Gegner als unzerstörbar erwiesen hat, dass es vielmehr der Westen selbst ist, der jetzt international ins Schlingern kommt. Fast alle Länder außerhalb des NATO-Gebiets wenden sich mit Grausen von dieser durch Heuchelei und Machtgier getriebenen Politik ab. Nicht Russland kämpft derzeit ums Überleben, sondern der Westen.
Tu es nicht, Rodja! An der Mauer stand mit Farbe: „Не убивай, Родя!“ — „Rodja, töte nicht!“ Es war im Frühjahr 2002, als ich in St. Petersburg zum ersten Mal vor dem Haus stand, in dem Rodion Raskolnikow wahrscheinlich gelebt hat: Stoliarny Per Nr. 9. Der die Graffiti malte, rief es Dostojewskis Mörder hinterher, so, als ob er den Roman aus der Vergangenheit korrigieren könnte.
In der Stoliarni Per Nr. 5 gibt es einen Durchgang zum Innenhof. Diesen Ort muss Dostojewski vor Augen gehabt haben, als er Raskolnikow im Lager eines Straßenkehrers das Beil finden lässt. Der Mörder geht weiter zur Ulitza Kaznacheyskaya, wo der Schriftsteller im Haus Nr. 7 „Verbrechen und Strafe“ schrieb. Er schickt Raskolnikow Richtung Griboedeva-Kanal.
Auf der Kokuschkin-Brücke bleibt er stehen und schaut ins Wasser, voller düsterer Gedanken. Dann wendet er sich von der Sadovaja Ulitza nach rechts in die Rimskogo Korsakova, quert den Voznesensky-Prospekt Richtung Ulitza Bolshaya Podiacheskaja und Sredniaja Podiacheskaja. Die Wohnung der Wucherin liegt zwischen Straße und Kanal, Kanala Griboedeva 104, durch den Gang zum Innenhof, Eingang Nr. 5, 3. Etage. Dort tötet er sie mit dem Beil und die zufällig erscheinende Schwester Lisaweta gleich mit. Rodja flieht die Treppe hinunter durch den Gang auf die Straße.
Mit 16 las ich „Schuld und Sühne“ wie einen Krimi. Jahrzehnte später war der Roman ein Führer für den Flaneur, dessen Spaziergänge oft an der Moika 86 endeten, im Restaurant „Idiot“, nach einem anderen Roman von Dostojewski benannt, wo wir manchmal Drehbesprechungen hatten.
Heute ist „Verbrechen und Strafe“ ein Menetekel für den Krieg in der Ukraine — vor allem für Leser aus dem globalen Süden.
Wie jene Studentin aus China, der ein Freund eine Wohnung am Newski Prospekt vermietet hat, kennen viele Intellektuelle aus Asien, Afrika und Südamerika Dostojewski. Denn viele haben in Russland studiert. Schon deshalb verweigern sie sich der Propaganda des Westens.
Die Formel vom „unprovozierten Angriffskrieg“ ist für die akademische Schicht des globalen Südens reiner Selbstbetrug der NATO; eher sehen sie im Ukrainekrieg einen defensiven Präventivschlag Russlands, ganz nach Nicolo Machiavelli:
„Nicht wer als Erster die Waffe ergreift, ist Anstifter des Unheils, sondern wer dazu nötigt.“
Auch das kann man bei Dostojewski lesen: Die Bluttat hat eine Vorgeschichte. Dem Studenten Raskolnikow eignet eine Mischung aus Armut und Dünkel. Er hält sich für moralisch überlegen. So erwächst in ihm die Idee eines „erlaubten Mordes“, die Vorstellung „von den ‚außergewöhnlichen‘ Menschen, die im Sinne des allgemein-menschlichen Fortschritts natürliche Vorrechte genießen,“ was aber der tatsächlichen Lebenslage nicht entspricht. Größenwahn und Realitätsverlust — das attestieren Beobachter im globalen Süden auch der NATO. Die Intellektuellen des globalen Südens machen die NATO-Staaten für eine ganze Reihe schwerster politischer Verbrechen verantwortlich.
Man rechnet dem Westen zahlreiche völkerrechtswidrige Angriffskriege vor: Die Bombardierung von Serbien 1999, um die Abspaltung des Kosovo zu erzwingen — ein völkerrechtswidriger Angriffskrieg, so Jahre später Altbundeskanzler Gerhard Schröder. Der völkerrechtswidrige Angriffskrieg gegen Afghanistan mit hunderttausenden von Toten, an dessen Ende USA und ISAF geschlagen aus Kabul geflohen sind und der mit dem Zustand endete, den man angeblich beseitigen wollte: der Herrschaft der Taliban. Der völkerrechtswidrige Angriffskrieg gegen den Irak 2003 und die Ausradierung ganzer Städte wie Raffa oder Falludscha mit hunderttausenden Toten vor allem auch unter der Zivilbevölkerung. Die völkerrechtswidrige Regimewechsel-Operation der USA in Syrien ab 2011, weil sich Staatschef Assad dem Vorhaben verweigerte, eine Gaspipeline von Katar nach Europa zu bauen und so Gazprom Konkurrenz zu machen. Die Bombardierung Libyens 2011, die der heutige US-Sicherheitsberater Jake Sullivan orchestriert hat. Zusammen mit Hillary Clinton hatte er bereits den Putsch in Honduras 2008 geplant.
Der Satz des früheren deutschen Spitzendiplomaten Christian von Schulenburg, dass die NATO für die meisten politischen Morde seit 1991 verantwortlich ist, findet in Afrika, Südamerika und weiten Teilen Eurasiens Zustimmung. Seine Schlussfolgerung wird im globalen Süden geteilt: Es gibt kein Völkerrecht mehr; die NATO hat es zerstört und durch das Faustrecht ersetzt, genannt „regelbasierte Ordnung“. Ein größenwahnsinniger Hegemon; doch ein großer Teil der Welt spielt nicht mehr mit.
Jeder Taxifahrer in Neu-Delhi oder Colombo versteht, dass die Ost-Erweiterung der NATO entgegen anderslautenden Zusagen und das Vorrücken des westlichen Bündnisses an die russischen Grenzen in Moskau als Bedrohung wahrgenommen werden, wie es Washington auch nicht akzeptieren würde, wenn sich Kanada oder Mexiko einem feindlichen Militärbündnis anschlössen.
Dem steht allein schon die Monroe-Doktrin im Wege. Nur die Kinder des gehobenen Bürgertums in deutschen Redaktionen wollen das nicht begreifen, weil sie zu transatlantischen Satrapen degeneriert sind.
Der Putsch auf dem Maidan in Kiew 2014, bei dem mit westlicher Hilfe und US-Unterstützung ein gewählter Präsident aus dem Amt gejagt wurde, und die tödlichen Schüsse, die nachweislich aus Gebäuden des Rechten Sektors abgegeben wurden, der Einsatz von drei georgischen Scharfschützen und eines US-amerikanischen Instrukteurs namens Bryan Christopher Boyenger, die enge Zusammenarbeit von EU und USA mit ukrainischen Faschisten — all das ist trotz der Lügen in westlichen Medien im globalen Süden nicht vergessen.
Man erinnert sich auch gut an den Bürgerkrieg im Donbass 2014 bis 2022, wo faschistische Milizen und ukrainische Armee teilweise unter US-Anleitung die russischstämmige Bevölkerung mit Granaten, Bomben, Minen und Raketen terrorisiert haben — nach Angaben der OSZE mit mehr als 14.000 Toten, darunter 3.400 Zivilisten; nach russischen Angaben mehr als 6.000 getötete und mehr als 13.500 verwundete Zivilisten. Dies ist nur in Europa ein vergessener Krieg.
In den BRICS+-Staaten ist auch nicht vergessen, dass die ehemalige Bundeskanzlerin Angela Merkel und der ehemalige französische Präsident Francois Hollande erklärt haben, man habe mit dem Abkommen Minsk II nur der Ukraine Zeit zur Aufrüstung verschaffen wollen — womit man ein durch die UN-Resolution 2202 völkerrechtlich gültiges Abkommen unterlaufen und Moskau in die Irre geführt hat.
Sehr genau registriert wurde im globalen Süden, was NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg am 7. September 2023 vor dem Europäischen Parlament erklärt hat. Stoltenberg sagte, dass Putin ihm im Herbst 2021, also Monate vor Beginn des völkerrechtswidrigen Angriffs, einen Deal vorgeschlagen habe: Wenn die NATO auf eine Aufnahme der Ukraine verzichte, verzichte er auf einen Einmarsch. Darauf, so Stoltenberg, habe man sich aber nicht eingelassen. Ganz nebenbei erwähnt er, dass der Ukrainekrieg bereits 2014 begonnen habe.
Der geopolitische Analyst der Asia Times, Pepe Escobar, hat wie auch die OSZE darauf hingewiesen, dass die ukrainische Armee im Februar 2022 ihre Truppen an der Demarkationslinie zu den Volksrepubliken Luhansk und Donezk massiert und den Beschuss der Zivilbevölkerung massiv gesteigert hat, offensichtlich, um eine militärische Invasion vorzubereiten. Beobachter in den BRICS+-Staaten sehen den russischen Einmarsch deshalb als einen Präventivschlag zur Verhinderung einer humanitären Katastrophe. So hat Putin den Einmarsch auch begründet: Schutz der russischstämmigen Bevölkerung im Donbass; Entnazifizierung der Ukraine und Erzwingung eines neutralen Status.
Auch, wenn in Deutschland die NATO-Meinungsmacher in Redaktionen dies hartnäckig abstreiten: Die leitende Mitarbeiterin der Brookings-Institution und Beraterin dreier US-Präsidenten Fiona Hill, das regierungsnahe US-Magazin Foreign Affairs, der ehemalige israelische Ministerpräsident Naftali Bennet, Altbundeskanzler Gerhard Schröder, der türkische Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu, der Fraktionschef der Selenskyj-Partei Dawyd Arachamija, der russische Präsident Wladimir Putin und damit alle Beteiligten haben bestätigt, dass der Westen die Friedensverhandlungen im Frühjahr 2022 in Istanbul blockiert hat.
Am 9. April reiste der damalige britische Premier Boris Johnson nach Kiew und drängte im Auftrag der USA die ukrainische Führung, die weit fortgeschrittenen Friedensverhandlungen aufzugeben und weiterzukämpfen. Der Westen hat die Friedensbemühungen der ukrainischen Führung im Februar, März und August 2022 torpediert. Damit ist die NATO mitverantwortlich für hunderttausende Tote im Ukrainekrieg. All dies ist hinreichend belegt.
Es gibt kein Szenario, in dem die Ukraine diesen Krieg gewinnt. Im Frühjahr 2022 sahen die bereits paraphierten Verhandlungsergebnisse vor, dass die Ukraine den Donbass behält, Kiew seine Neutralität erklärt und Obergrenzen für die Streitkräfte detailliert festgelegt werden. Inzwischen sind die russischen Truppen im Vorteil.
Der Friedensvorschlag von Putin vom Juni 2024 stellt wesentlich härtere Bedingungen: Die Gebiete Luhansk, Donezk, Cherson und Saporischschja sollen vollständig zur Russischen Föderation kommen; er verlangt die Neutralität der Ukraine, eine Sicherheitszone und Gesetze gegen Rechtsextremismus und Faschismus. Die NATO ging darauf nicht ein. Damit ist sie erneut für die Verlängerung des Krieges verantwortlich. Der Analyst des Magazins Responsable Statecraft, Anatol Lieven, geht inzwischen davon aus, dass die Ukraine geteilt wird, und spricht von einem „Zypern-Status“.
Im globalen Süden macht man den Westen für die Zerstörung der Ukraine verantwortlich. Es wird genau wahrgenommen, wie die Menschen in der Ukraine buchstäblich verheizt werden.
Der ehemalige mexikanische Präsident Andrés Manuel López Obrador: „Wir liefern die Waffen, ihr liefert die Leichen. Das ist unmoralisch.“ Auch der ukrainische Botschafter in Deutschland, Oleksii Makeiev, spricht von einem „Stellvertreterkrieg“. In diesem Stellvertreterkrieg sind die Ukrainer lediglich Kanonenfutter der NATO. Der Militär-Analyst Jacques Baud schreibt: „Sie werden behandelt wie Untermenschen.“
Für Rodion Raskolnikow ist das Opfer, die alte Pfandleiherin Aljona Iwanowna, nur eine „Laus“, nur ein wertloser Untermensch, auf dessen Leben es nicht ankommt, wenn es darum geht, die eigene Größe und Überlegenheit zu zeigen. Wie sich die Hybris gleicht!
Die Intellektuellen der BRICS+-Staaten lasten dem Westen die Verantwortung für all diese Verbrechen an und hoffen auf Strafe. In ihren Augen wird der Westen künftig in fünf Bereichen abgestraft: finanziell, wirtschaftlich, politisch, sozial und kulturell.
Finanziell:
Der Ausschluss Russlands aus dem Finanz-Transaktionssystem SWIFT hat das russische Finanzsystem nicht in die Knie gezwungen. Mit dem digitalen, bargeldlosen Zahlungssystem MIR hat Russland in kürzester Zeit eine Alternative geschaffen, die beispielsweise auch in Kasachstan anerkannt wird. Die russische Wirtschaft wendet sich von Europa ab und Asien zu. Dadurch werden China und Indien zu den wichtigsten Abnehmern für Öl und Gas. Mit bald fünf atomgetriebenen Eisbrechern macht Russland die Nordroute ganzjährig für Tankerkonvois befahrbar.
Der Handel wird zunehmend weniger über Dollar, sondern in Landeswährungen abgerechnet. Der Prozess der Entdollarisierung wird auch durch die Shanghaier Entwicklungsbank Fahrt aufnehmen. Es ist zu vermuten, dass die weltweite Nachfrage nach Dollar sinken wird und dadurch die USA die Möglichkeit verlieren, über die Notenpresse ihre Kriege zu finanzieren. Die Kosten des Krieges werden Europa finanziell ruinieren.
Der Versuch, eingefrorene russische Auslandsvermögen widerrechtlich der Ukraine zuzuführen, führt zum Abzug von Geldanlagen der Drittstaaten und damit zur Schwächung des westlichen Bankensystems. Die Schuldenlast der Staaten wird die Inflation antreiben. Das Problem des tendenziellen Falls der Profitrate wird aber dennoch nicht gelöst. Denn es ist einfach zu viel Kapital in den Händen großer Finanzinvestoren wie BlackRock oder Vanguard, als dass es sich noch rentierlich anlegen lässt. Inzwischen haben BlackRock und JP Morgan das Schulden-Management der Ukraine übernommen. Damit fällt das Land in die Hände von Finanz-Investoren. Doch der Kollaps des Finanzsystems ist eine Frage der Zeit.
Ökonomisch:
Schon wenige Monate nach Kriegsbeginn haben indische Ökonomen darauf hingewiesen, dass der Westen den Wirtschaftskrieg mit Russland verlieren wird. Weitere Studien haben dies inzwischen bestätigt. Die russische Wirtschaft zeigt sich erstaunlich widerstandsfähig, vor allem aus zwei Gründen: Sie hatte seit Beginn des Sanktionsregimes 2014 genug Zeit, auf Autarkie hinzuarbeiten.
Die Staaten des globalen Südens folgen den Sanktionen des Westens gegen Russland mehrheitlich nicht. Darunter sind Indien, Brasilien, China, Argentinien, Indonesien, Südafrika, Mexiko, Kuba, Venezuela, Chile, Uruguay, Guatemala, Panama, Puerto Rico, die Philippinen, Thailand, Vietnam, Kambodscha, Laos, Pakistan, Bangladesch, Sri Lanka, Israel, Ägypten, Saudi-Arabien, Katar, die Vereinigten Arabischen Emirate, Oman, die Türkei und der gesamte afrikanische Kontinent. Sie vertreten mehr als drei Viertel der Weltbevölkerung. Der European Council on Foreign Relations fand dafür die Formel: “United West, divided from the rest.” Der Westen ist isoliert, nicht Russland.
Der Krieg in der Ukraine beschleunigt tektonische Verschiebungen in der Geopolitik zugunsten der BRICS+-Staaten. Der Westen führt einen Überlebenskampf, nicht Russland.
Dem globalen Süden erscheint der Ukrainekrieg als ein Luxusproblem des Nordens. In dieser Perspektive ist die Ukraine kein Land der Befreiungskämpfer, sondern ein weiterer Ausbeuter. Der offene Rassismus europäischer Kreise in der Ungleichbehandlung von ukrainischen, weißen und afrikanischen, schwarzen Flüchtlingen treibt dem Vielvölkerstaat Russland Sympathien zu.
Dazu kommen handfeste Interessen: Russland engagiert sich verstärkt in Afrika. Die Ernährung Afrikas hängt an Russland. Von dort beziehen afrikanische Staaten Getreide und Düngemittel. Die Sanktionen des Westens beeinträchtigen die Lieferketten und verteuern Getreide um mindestens 30 Prozent. Durch die Maßnahmen sind Hungerkrisen programmiert. Der Westen will Russland schwächen und produziert einen Berg afrikanischer Leichen.
Russland ist ein Energie- und Ressourcen-autarkes Land. China braucht afrikanische Bodenschätze, Russland kaum. Was Russland braucht, sind westliche Technologien für seine Industrie, auch, um seine Ressourcen besser auszubeuten. Afrikanische Länder werden so Zwischenhändler bei der Umgehung von Sanktionen. China ist zum Hauptlieferanten bei Digitaltechnik geworden. Der Krieg des Nordens stärkt den Süden wirtschaftlich und machtpolitisch. Die Chancen einer Demokratisierung wachsen allerdings nicht.
Mit dem Terroranschlag auf die Nordstream-Pipeline, den US-Präsident Biden angekündigt hat und für den auch ehemalige CIA-Mitarbeiter die USA verantwortlich machen, ist für Deutschland die transatlantische Energiefalle zugeschnappt.
Die Sanktionen führen dazu, dass Europa ein Vielfaches der ursprünglichen Beträge für Rohstoffe ausgeben muss. Auch in den USA sind neben Gas angereichertes Uran, Titan für den Flugzeugbau, Seltene Erden und Edelgase für die Halbleiter-Herstellung dringend erforderlich. Die hohen Energie- und Rohstoffkosten führen dazu, dass die Wettbewerbsfähigkeit abnimmt, die Industrie schrumpft, die De-Industrialisierung sich beschleunigt. Konzerne wandern ab nach den USA, China, Usbekistan, Kasachstan. Deutschland und Europa werden von einem bevorzugten Industrie-Standort zu einem Industrie-Museum.
Richard Sakwa hat schon 2015, also vor dem Krieg, vom „Selbstmord Europas“ gesprochen. Die Infrastruktur — auch die militärische — wird weiter zerfallen. Olaf Scholz ist der Kanzler des Niedergangs. Sein Kabinett ein Alptraum für Arbeitnehmer. Für die USA dagegen ist dies ein perfekter Krieg: Er ist weit weg, und die Rüstungsindustrie verdient Milliarden. Dennoch wird das Land daran zerbrechen, denn von diesen Milliarden kommt bei der Mehrzahl der Amerikaner nichts an.
Politisch:
Schon heute haben wir es zu tun mit einer politischen Klasse im Niedergang: Heute werden wir in allen westlichen Industrieländern geführt von transatlantisch korrumpierten Eliten. Aber bei Präsident Biden gibt es begründete Zweifel an seiner geistigen Leistungsfähigkeit. Politisches Spitzenpersonal in Deutschland scheint stehengeblieben auf dem Niveau kindlichen Spracherwerbs. Die deutsche Botschafterin in Kiew postet ein Selfie mit einem Plüsch-Panzer und schreibt: „Mein liebstes Spielzeug!“ Solche Infantilisierung von Politik und Diplomatie wird weltweit belächelt und führt dazu, dass deutsche Politiker bei Auslandsreisen den Lieferanteneingang nehmen müssen.
Die jüngsten Wahlergebnisse und Umfragen — europaweit — zeigen, dass diese politische Klasse immer unpopulärer wird. Sie vertritt auch nicht die Interessen der Menschen, sondern handelt wie die Vertreter einer Besatzungsmacht, im Konsens mit ihren amerikanischen Freunden, die ihnen ja auch in den Sattel geholfen haben.
Diese Elite wird bröckeln und schließlich ersetzt durch ordinäre Demagogen wie Trump, die wiederum ersetzt werden durch Scharlatane, die durch Verbrecher und Mafiosi und schließlich durch Monster. Bürgerliche Postdemokraten werden den Rechtsextremisten und Anarcho-Kapitalisten den Weg bahnen.
Sozial:
Die horrenden Rüstungsausgaben werden vor allem in Deutschland zu massiven Kürzungen bei den Sozialleistungen führen. Dies führt die Gesellschaft in eine Zerreißprobe. Die Bevölkerungen des Westens spalten sich weiter, in eine Mehrheit, die ihre Existenzängste dadurch kompensiert, dass sie Schutz sucht beim Staat und beim großen Bruder USA, die sich anschickt, die Realität zu verdrängen und Fakten wegzulügen, wie schon in der Corona-Krise, eine Mehrheit, die den immer neuen Lügen der Politiker folgt und die den ödipalen Konflikt nicht mehr auszutragen gewillt ist, Autoritäten bedingungslos vertraut und damit sozialpsychologisch die Demokratie zerstört — denn Demokratie gründet in der Kritik und Kontrolle politischer Macht. Und in eine Minderheit, welche die Lügengebäude nicht mehr erträgt und sich auflehnt.
Die sozialen Konflikte werden zunehmen. Ein unterschwelliger Bürgerkrieg wird in periodischen Abständen aufflammen zu massiven tätlichen Auseinandersetzungen, in Straßen, U-Bahnen, Fußballstadien. Dies wird überlagert von zunehmenden Verteilungskonflikten in zerfallenden Sozialstaaten, die sich längst zu Rüstungs- und Militär-Staaten gewandelt haben. Die passende Dystopie ist der Film „Mad Max“, dessen Remake die Kinos erreicht hat: Bewaffnete Banden ziehen durch eine zerstörte Industrielandschaft und bekämpfen sich gegenseitig. 2004 erschien in Foreign Affairs der Artikel „Adressing State Failure“. Seine Schlussfolgerung: Gescheiterte Staaten ermöglichen es Washington, leichter von außen Einfluss zu nehmen.
Kulturell:
Die gesamte westliche Kultur wird in der Perspektive des globalen Südens betrachtet als übersteigert individualistisch, transhumanistisch, pervers und unnatürlich. Von russischen Sozialphilosophen wie Sergey Karaganov und Dimitri Trenin wird dies als Degeneration und Zerfall bewertet. Die westliche Kultur wird zunehmend wahrgenommen als toxisch und gefährlich.
Die südliche Hemisphäre wendet sich traditionellen Orientierungspunkten, „Werten“ zu, wie Familie, Gemeinschaft, Staat. Dies wird insbesondere von jenen Staaten finanziell und propagandistisch gefördert, die sich vom Westen abgrenzen wollen, wie Russland oder China. Der westlichen Kultur steht ein Zeitalter der Idiotie bevor, der Zerstörung der Vernunft, woran das marode Bildungssystem einen entscheidenden Anteil hat. Die Denkfähigkeit lässt nach und wird durch identitäre Haltungen ersetzt, die auf Bekenntnis, nicht auf Erkenntnis beruhen.
Hegel sagt dazu in der Logik: Identität ist „der Ausdruck der leeren Tautologie“. Wenn ein Autor wie Serhij Zhadan den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels bekommt, der die Russen als „Tiere“ und „Schweine“ bezeichnet, wenn eine NATO-Propagandistin namens Florence Gaub bei Lanz unwidersprochen sagen darf, die Russen seien „keine Europäer, also im kulturellen Sinne“, die „ein anderes Verhältnis zu Gewalt, zum Tod haben“, dann ist dieser kulturelle Tiefpunkt erreicht. Das ist die rassistische Sprache des Faschismus.
Wir sind angekommen im Stadium der Gegenaufklärung. Die westliche Kultur wird sich weltweit isolieren und als dekadente Schwundstufe angesehen.
Dostojewski veröffentlicht „Verbrechen und Strafe“ 1866 in 12 Fortsetzungen in dem Monatsblatt Russki Westnik. Raskolnikow findet nach seinem Mord keine Ruhe mehr. Er scheitert am eigenen Größenwahn. Vom Ermittlungsrichter wird Raskolnikow als Mörder erkannt, doch der Beweis fehlt. Am Ende, von Gewissensbissen geplagt, auf Rat der Prostituierten Sonja, stellt er sich. Er wird verurteilt und für acht Jahre ins Arbeitslager geschickt.
Die NATO und ihre Befehlshaber in Washington — das haben wir beim NATO-Gipfel im Juni 2024 wieder erlebt — plagen keine Gewissensbisse. Hier weicht die Realität von Dostojewskis Roman ab.
Wer sich aber an stürzende Imperien klammert, wird mit in die Tiefe gerissen. Das ist die Strafe für die Verbrechen des Westens.
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