Vatermangel und Muttergift

Der Lilith-Mythos zeigt einen Weg der Versöhnung zwischen Mann und Frau. Exklusivauszug aus „Die wilde Göttin“.

Lilith: Als schwarze Muse ist sie uns bekannt, als Verführerin der Männer, Schutzgöttin der Dirnen, Albtraum der Wöchnerinnen, Inbegriff der emanzipierten Frau. Sie gilt als die dunkle Seite des Mondes, das, was in uns verborgen ist. Im patriarchalen Weltbild wurde nur der helle Mond beibehalten und seine dunkle Seite verteufelt und ausgegrenzt. Was ursprünglich zusammengehörte, wurde zerteilt. Seitdem gilt die Frau als passiv und dunkel und der Mann als aktiv und hell. Lilith jedoch ist eine astronomische Besonderheit. Sie ist ein sensitiver Punkt auf der Mondbahn, der nicht der Abhängigkeit von der Sonne und somit dem männlichen Prinzip unterliegt. Lilith ist frei, autonom, unabhängig. In Zeiten tiefster Spaltung taucht sie am Himmel auf, um uns zu helfen, uns in unserer Komplexität und Widersprüchlichkeit zu verstehen und um unserer Sehnsucht nach Versöhnung und der Überwindung von Gegensätzen Ausdruck zu verleihen.

Das Patriarchat hat nicht nur die Rolle der Mütter degradiert und die Menschen in oft komplett überforderte Kleinfamilien gesperrt. Es hat den Kindern die Väter genommen. Die biologischen Väter zeichnen sich oft durch eines aus: Abwesenheit. Auf Schlachtfeldern sind sie gefallen, auf dem Arbeitsmarkt lassen sie sich ausbeuten. Sie sind auf Geschäftsreise, sitzen vor dem Fernseher, am Computer, hinter der Zeitung, im Keller, in der Garage, im Garten, auf dem Sportplatz, in der Kneipe oder im Verein.

Auch wenn sich die Vaterrolle in den vergangenen Jahrzehnten geändert hat und manche Männer ein intensiveres Verhältnis zu ihren Kindern haben: An der Orientierungslosigkeit vieler junger Menschen und an der Zeit, die sie hinter Bildschirmen regelrecht verwahrlosen, wird deutlich, wie viele Väter sich auch heute nur selten mit ihrem Nachwuchs beschäftigen. Sie flüchten sich in die Arbeit, ins Hobby oder in soziale Verpflichtungen. Nach außen hin mögen sie als aufopferungsvolle Familienväter erscheinen. Nach innen lassen sie oft ihre Familie allein, so wie auch sie von ihren Vätern alleingelassen wurden.

Was die Familienväter nicht geben können, hat Vater Staat übernommen. In allen Bereichen des Lebens sieht er nach dem Rechten. Wo der eigentliche Vater abwesend ist, fühlen viele sich doch zumindest vom Vater Staat behütet und versorgt. Er ist da, wenn wir krank werden, wenn wir unsere Arbeit verlieren, wenn wir einen Unfall haben und im Alter versorgt werden müssen. Er gibt das Kindergeld, die Unterhaltsvorschüsse und das Erziehungsgeld. Wo die leiblichen Väter oft fehlen, können wir uns doch immerhin auf Vater Staat verlassen.

Der Staat ist der Ersatz für Eltern geworden, die ihre Kinder hinter Smartphones alleinlassen. Er ist es, von dem wir uns das erhoffen, was wir brauchen: Schutz und Anerkennung. Mit ihm fühlen wir uns sicher. Als Gegenleistung geben wir ihm unseren Gehorsam und machen um den Baum der Erkenntnis, dessen Früchte uns damals wie heute verboten sind, einen großen Bogen.

Wie groß das Defizit in väterlicher Anerkennung und Unterstützung ist, hat sich in den vergangenen Jahren an der Folgsamkeit vieler Menschen gezeigt. Während Mütterlichkeit horizontal orientiert ist, ist der Vater für die Vertikalität des heranwachsenden Kindes verantwortlich. Sein Einfluss ist es, der entscheidend dafür ist, ob das Kind zu einem selbstständigen und eigenverantwortlichen Menschen wird. Viele jedoch haben kein eigenes Rückgrat entwickeln können. Sie lassen sich vorschreiben, wie sie sich zu verhalten oder wen sie zu mögen und zu hassen haben, und schrecken selbst davor nicht zurück, die Hoheit über den eigenen Körper abzugeben.

Wer auf Vater Staat nichts kommen lässt, wer keine Kritik an ihm zulässt, wer nur dann demonstrieren geht, wenn es erlaubt ist oder vom Staat gefordert wird, der zeigt damit, wie sehr es ihm an einem Vater mangelt, der ihm Aufrichtigkeit und Selbstbewusstsein vermittelt hat.

In seiner langjährigen Praxis hat der Psychoanalytiker Hans-Joachim Maaz nicht nur das Fehlen der Väter beobachtet. Auch wenn es die Mütter sind, die sich überwiegend um die Kinder kümmern: Viele sind nicht wirklich da oder von ihrer Aufgabe überfordert. Wir leben, so Maaz, in einer regelrecht mutterlosen Gesellschaft. Die Feststellung überrascht nicht. Eva, die Mutter unserer Zivilisation, hatte selber keine Mutter. Sie hat keine Fürsorge bekommen. Niemand hat sie in den Armen gehalten und ihr das Gefühl gegeben, willkommen zu sein. Von Anfang an hat man ihr gesagt, sie sei fehlerhaft und minderwertig. Keine Mutter hat sie liebevoll in ihrer Entwicklung begleitet, niemand sie geschützt, wo sie es brauchte, und losgelassen, wo es an der Zeit war. Niemand war da, um ihr zuzuhören, niemand hat sie in die Geheimnisse der weiblichen Sexualität eingeweiht. Eva war allein.

Seitdem sind viele Generationen herangewachsen, die nicht erfahren haben, was es heißt, Mutterliebe zu empfangen. Mit der Figur Marias wurde Mütterlichkeit in metaphysische Höhen ohne konkreten Lebensbezug entrückt. Von den Nazis wurde Muttersein in verbrecherischer Weise missbraucht. Teile der Frauenbewegung haben Mütterlichkeit so weit abgewertet, dass sie es geradezu als Strafe empfinden, Kinder zu bekommen.

Viele Frauen sind, wenn sie Kinder bekommen, mit einem negativen Mutterbild belastet. Viele reiben sich zwischen Beruf und Familie auf und versuchen vergeblich, gleichzeitig erfolgreich und eine gute Mutter, Geliebte und Partnerin zu sein. Zerrissen zwischen den verschiedenen Lebensbereichen tragen sie schwer an dem Schuldgefühl, keiner Aufgabe wirklich gerecht zu werden und es keinem recht machen zu können, vor allem nicht sich selbst.

Drei Aspekte der Frau, so Hans-Joachim Maaz, werden heute unterdrückt, geleugnet, vernachlässigt, verfolgt oder tabuisiert: die gleichwertige Frau, die sexuell aktive Frau und die Frau, die die Mutterschaft ablehnt, weil sie ungebunden und frei sein will. Die Unterdrückung dieser Aspekte ist daran zu erkennen, wie ungern Frauen auch heute ihre gesellschaftliche Bedeutung, ihre Lust und ihre wirkliche Freiheit zugestanden werden. Das Nichtausleben dieser drei Aspekte nennt Maaz den Lilith-Komplex.

Die Frauen müssen sich gewissermaßen zwischen Lilith und Eva entscheiden: entweder Hausfrau und Mutter oder Erfolgsfrau. Lilith und Eva verkörpern in der patriarchalen Gesellschaft zwei entgegengesetzte weibliche Prinzipien, die nicht miteinander versöhnt sind und sich gegenseitig auszuschließen scheinen.

Wir sind entweder das eine oder das andere: entweder rebellisch oder folgsam, entweder angepasst oder frei, entweder mütterlich oder erotisch.

Nur wenige Mütter wagen es, sich offen zu den Grenzen ihrer Mütterlichkeit zu bekennen. Angeheizt durch die sozialen Netzwerke und ein paar in der Öffentlichkeit stehende Frauen, die Muttersein und Beruf hervorragend geregelt zu bekommen scheinen und dabei auch noch eine tolle Figur haben, präsentieren viele ein Bild, das nicht der Realität entspricht. Um Bestätigung zu finden, verheimlichen viele, dass sie sich überfordert fühlen, und fürchten, ihrer Mutterrolle nicht gerecht zu werden. Mit einer ausschließlich positiven Selbstdarstellung lügen viele sich selbst und andere an und stehen nicht zu ihren Gefühlen: ihrer Angst, es nicht gut genug zu machen, ihrer Wut, sich durch die Kinder eingeengt zu fühlen, ihrem Frust, nicht das Leben zu leben, was sie gewollt hätten, ihrer Trauer, einen Vater für ihre Kinder geheiratet zu haben und nicht den Mann ihrer Träume.

Jede Mutter kommt zwangsläufig an ihre Grenzen und fühlt sich durch ihre Kinder getriggert und überfordert. Auch wenn sie das zu verheimlichen sucht: Kinder spüren ganz genau, wo die Mutter ihnen versteckte Ungeduld, Gereiztheit, innere Abneigung und Vorwürfe entgegenbringt. Eine Mutter, die ihre unangenehmen Gefühle nicht verarbeitet und bewusst lenkt, wird sie unbewusst an ihre Kinder weitergeben. Früh spürt das Kind sie als Ablehnung. Mit feinen Antennen empfängt es die Gefühle der Mutter und bezieht sie auf sich. Verhält sich die Mutter ihm gegenüber nicht gut, fühlt es sich schuldig und wird alles tun, um die Liebe der Mutter zu bekommen. Es kann ja nicht leben ohne sie. So lernt das Kind schnell, sich so zu verdrehen, dass es bei der Mutter möglichst kein ablehnendes, zurückweisendes, demütigendes oder ungerechtes Verhalten provoziert.

Ein Kind kann nicht erkennen, dass die Mutter mangelhaft ist oder sogar böse und destruktiv handeln kann. Egal, was sie tut — Mama hat mich doch lieb, eine Mutter liebt doch ihr Kind! Also muss etwas mit mir nicht in Ordnung sein. Viele Menschen verbringen ihr ganzes Leben damit, sich zu verfälschen und der Mutterliebe hinterherzulaufen. Bis ins hohe Alter versucht manche Tochter, es der Mutter recht zu machen. Sie ergreift den Beruf, den sie sich für sie vorgestellt hat, heiratet den Mann, der ihr genehm ist, richtet ihr Haus so ein, dass sie sich darin wohlfühlt, und kleidet sich in der Art, wie es Mutter gefällt. Gelingt es ihr nicht, die mütterlichen Erwartungen zu befriedigen, stellen sich Schuldgefühle ein.

Oft versuchen wir ein ganzes Leben lang, das in der Kindheit Erlittene wiedergutzumachen und die Defizite zu kompensieren. Wir werden geradezu süchtig nach Anerkennung und werden dabei niemals satt. Denn nichts kann die Liebe und Zuneigung ersetzen, die wir in frühester Kindheit nicht von der Mutter bekommen haben. Um den Schmerz nicht zu spüren, von der Mutter nicht gewollt oder nicht so gewollt zu sein, fliehen wir in Arbeit, Mode, Konsum oder Süchte. Wir verschließen uns, um uns vor der Berührung mit der frühkindlichen Verletzung zu schützen. Da die Mutter nicht die Böse sein kann, nicht die Böse sein darf, suchen wir uns Feindbilder, um den Schmerz der eigenen Defizite zu betäuben.

Um uns von der Mutter geliebt zu fühlen, suchen wir die Bösen in der weiteren Familie, in der Nachbarschaft, auf der Arbeit, in bestimmten Kreisen oder hinter den Landesgrenzen.

Wenn heute ganze Völker erneut kriegsbereit sind, dann stehen dahinter die tiefen Verletzungen der eigenen Kindheit. Wer es nicht akzeptieren kann, dass die eigene Mutter einen vielleicht nicht geliebt hat oder nicht so, wie man ist, der, so Hans Joachim Maaz, ist potenziell bereit, in einen äußeren Krieg zu ziehen, um die eigentlichen Verletzungen nicht zu spüren.

Durch den körperlichen Schmerz wird der innere Gefühlsstau abreagiert. Wenn wir dann am Ende vertrieben sind, verletzt, ausgebombt, gedemütigt, verloren, dann hat die frühe seelische Verletzung einen Grund, und Mutter mit ihren Schnittchen und Cupcakes und dem, was sie auch für uns getan hat, kann die Gute bleiben.

Wie viele Mütter es nicht gelernt haben, ihren Kindern gegenüber ehrlich zu sein, sehen wir an der aktuellen Kriegsbereitschaft. Kein Mensch, der in seiner frühen Kindheit echte Mütterlichkeit erlebt hat, ist ohne wirkliche Not und Gefahr zu Gewalt bereit. Ohne frühe seelische Verletzung hat der Mensch ein gesundes Interesse an Beziehung, Austausch und Verbundenheit — und nicht an radikaler Distanzierung und vernichtender Abwertung. Nur der innere Kriegsschauplatz lässt im Außen Kriegslust entstehen.

Das Problem ist hierbei nicht das, was wir in der Kindheit erlebt haben. Daran können wir nichts mehr ändern. Etwas Geschehens kann nicht rückgängig gemacht werden. Das Problem ist, dass wir es verdrängen und damit die Heilung verunmöglichen. Nur was wir aus dem Dunkel ins Licht holen, kann genesen. Was wir fliehen und bekämpfen, holt uns immer wieder ein. Was wir jedoch anerkennen, kann sich auflösen. „Ja, so war es. Das hat meine Mutter mit mir gemacht. So hat sich mein Vater mir gegenüber verhalten. So habe ich es damals empfunden.“ Hierbei geht es nicht darum, Schuldige zu finden und im Selbstmitleid zu versinken, sondern erwachsen zu werden, sozusagen sich selbst eine gute Mutter, ein guter Vater zu sein und sich um die eigenen Verletzungen zu kümmern.

Heilung bedeutet nicht, Betäubungsmittel zu nehmen, sondern zu lernen, mit einer Verletzung umzugehen.

Wie verhalten wir uns? Tun wir so, als sei da nie etwas passiert? Oder erkennen wir die Verletzung an — und damit auch das verletzende Verhalten der eigenen Eltern? Wagen wir es, in die Gefühle der Kindheit zu tauchen, sie noch einmal zu erleben und ihnen damit die Möglichkeit zu geben, sich endlich aufzulösen? Nehmen wir unser inneres Kind in die Arme oder lassen wir es allein im Regen stehen? Sind wir als Erwachsene bereit, uns dem Schmerz zu stellen, keine oder nicht genug Liebe bekommen zu haben? Sind wir bereit, die Eltern nicht zu idealisieren, sondern sie als Menschen mit Fehlern, Schwächen und Begrenzungen zu sehen?

Nur wer diese Ehrlichkeit sich selbst gegenüber aufbringen kann, hat eine Chance auf Heilung. Nur wer Mutter und Vater von dem perfekten Bild befreit, das er sich von ihnen gemacht hat, wird seine Wunden nicht an die eigenen Kinder weitergeben und an ihnen selbst zur Täterin oder zum Täter werden. Denn das ist es, was immer wieder passiert: Aus den einstigen Opfern werden Täter, die genau das unbewusst fortsetzen und reinszenieren, was ihnen selbst einmal angetan worden ist.

Gelingt es uns nicht, Lilith zu integrieren, so Hans-Joachim Maaz, werden also die eigenen Schmerzen, Begrenzungen, Fehler und Schwächen verdrängt, wird aus kleinen Jungen ein Adam, der nur eine schwache Eva erträgt und die Frau unterdrücken muss. Aus kleinen Mädchen wird eine Eva, die ihren Selbstwert verleugnen muss, um in einer Beziehung geduldet zu sein.

Aus beiden werden Eltern, die ihre Kinder in ihrer Lebendigkeit behindern. Wird Lilith nicht integriert, werden Frauen zu verlogenen Müttern und Männer zu infantilen, frustrierten, fliehenden Vätern, die aus Rivalität ihre Kinder einschüchtern oder missbrauchen, die ihre Frauen angreifen und sich in die Arbeit, zu Prostituierten, in den Alkohol oder in Machtkämpfe flüchten.

Hier liegt die Wurzel des Übels begraben, das die Kriminalstatistiken in die Höhe schnellen lässt. An den Vergewaltigungen und Misshandlungen, die Menschen in unserer Gesellschaft sich und ihren Kindern antun, ist kein Gewaltherrscher irgendwo auf der Welt schuld. Wir sind die Verantwortlichen. Wir, die wir wider besseres Wissen immer noch nach außen projizieren, was wir innen nicht sehen wollen.

Hier steht uns Lilith zur Seite. Sie, die wie keine andere ihre dunklen Seiten integriert hat, fordert uns dazu auf, endlich abzulassen von den äußeren Feindbildern, welchen Namen wir ihnen auch geben. Ein einziger Name entscheidet darüber, ob wir individuell und auch kollektiv gesund werden oder nicht: unser eigener. Wenn wir nicht ein Volk aus leistungssüchtigen Produzenten, gierigen Konsumenten, folgsamen Untertanen und willfährigen Soldaten sein wollen, dann gibt es nur eines: uns unseren eigenen Verletzungen zuzuwenden.


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