Utopien sind lebenswichtig

Der junge Autor Lino Zeddies macht eine bessere Welt lebendig und bahnt damit den gedanklichen Weg zur sozial-ökologischen Wende. Exklusivabdruck aus „Utopia 2048“.

Die Behauptung, es gäbe zu unserer Gesellschaft keine Alternativen ist eine glatte Lüge. Auf dieser Welt wimmelt es von Ideen, Plänen und ausgearbeiteten Konzepten für eine ökologische und sozial gerechte Welt. In lokalen Projekten werden viele dieser Ideen bereits praktisch umgesetzt. In seinem Buch „Utopia 2048“ sammelt Lino Zeddies eine Vielzahl solcher Konzepte und verwebt sie in seiner Zukunftswelt zu einer literarischen Realität. Und das könnte Leben retten.

Bevor etwas machbar wird, muss es gedacht worden sein, das ist die Logik menschlichen Handelns. Jeder Mensch weiß aus eigener Erfahrung, dass Veränderungen in seinem Leben oft mit Wünschen begonnen haben. Die Kraft des Wünschens wird noch viel zu sehr unterschätzt. Dabei beweist inzwischen sogar die Quantenphysik: Wunschvorstellungen können ebenso Einfluss auf künftige Entwicklungen nehmen wie Angstvorstellungen. Eigentlich erlebt das jedes Kind: Solange ich etwas unbedingt will, werde ich nach Möglichkeiten und Wegen suchen, es zu erreichen. Und irgendwann klappt es dann auch, manchmal sogar in einem Moment, wo man es am wenigsten erwartet und dann erstaunt feststellt: Das wollte ich doch schon immer!

Wer jedoch am Bestehenden festhalten will, lässt eine andere Zukunft so düster wie möglich erscheinen, nur so kann die Gegenwart als „alternativlos“ erlebt werden. Dystopien sind seit Jahrhunderten in Mode, von Dantes „Inferno“ bis Orwells „1984“. Und auch heute ist neben Krimis und Thrillern das wohl lukrativste Buch- und Film-Genre die Dystopie. Doch es ist an uns, sich zu entscheiden, wem und was wir unsere Aufmerksamkeit schenken.

Mit Utopia 2048 haben wir nun ein Buch, mit dem wir uns lesend in eine Welt begeben, in der die meisten Probleme der Menschheit gelöst sind. Das ist ganz und gar nicht langweilig, sondern macht von der ersten bis zur letzten Seite großen Spaß.

Ob Permakultur überall, erfolgreiche Friedenspolitik, gewaltfreie Kommunikation, Gemeinwohlökonomie als globales Prinzip oder soziale Geldreform — all das ist bei „Utopia 2048“ weltweit Alltag geworden. Zwei Zeitreisende, Lena und Jannis, die aus einem knapp 30-jährigen Komaschlaf erwacht sind, werden von ihrem Migrationshelfer für Zeitreisende, Damian, durch diese Welt geführt. Natürlich fragt man sich, wie wir Heutigen da überhaupt hingekommen sein sollen. Auch dafür hat Lino Zeddies sich eine jüngste Geschichte ausgedacht, die über modernste 3D-Technik von Lena und Jannis im historischen Museum in Berlin nacherlebt wird.

Wir haben uns für den Abdruck dieser Passage entschieden. Sie schildert, auf welchem Wege wir aus der Spirale von Machtpolitik und Gewalt herausgekommen sind. Um zu erfahren, wie es nach dem Sieg einer echten Demokratie in „Utopia“ weiter gegangen ist, empfehlen wir dringend die Lektüre des ganzen Romans. Gerade zur jetzigen Corona-Krise hilft dieses Buch, einen Ausweg vorzudenken, der sich vielleicht jetzt schon anbahnt. So lange wir ihn für möglich halten.

Auszug aus „Utopia 2048“ von Lino Zeddies:

Während auch Jannis sich einen Sessel aussuchte und eine Brille in Augenschein nahm, setzte Lena sich ihre Brille auf, sodass ihr Sichtfeld komplett abgedeckt war. Der Bildschirm zeigte den Reichstag mit zahlreichen Demonstranten davor. In der Bildmitte waren die Worte „2024: Deutschland am Wendepunkt: Von der Krise zur Verfassung“ eingeblendet. Darunter blinkte ein roter Button „Bitte Start drücken“.

Lena tippte mit dem Finger auf das Bedienfeld an der Seite des Brillenbügels. Daraufhin blendete sich das Startbild aus und ein Tagesschau-Sprecher erschien in ihrem Sichtfeld.

„Guten Abend meine Damen und Herren. Heute Vormittag hat die Deutsche Commerz Insolvenz angemeldet. Durch die Veröffentlichungen der Euroleaks war die Deutsche Commerz zuletzt zunehmend unter Druck geraten. Die gestern angekündigten Strafzahlungen für die publik gewordenen Steuerhinterziehungen und Geldwäschegeschäfte wurden ihr nun zum Verhängnis. Gegenwärtig steht die Geschäftsführung der Bank in Verhandlungen mit dem Finanzministerium über die Zukunft des Instituts. Nach den Bank-Insolvenzen in Italien und Großbritannien markieren diese Entwicklungen eine weitere europäische Großbank, die in Zahlungsschwierigkeiten gerät. Vom Kanzler und der Finanzministerin heißt es, Sparer brauchen sich keine Sorgen zu machen. Die Guthaben seien sicher und von der staatlichen Einlagensicherung garantiert.“

Im Hintergrund erschien dabei ein kleines Video zweier ernst dreinblickender Politiker vor einer Reihe Fernseh-Mikrofone.

Cut. Gezeigt sind Szenen der Frankfurter Bankenlandschaft. Dann erscheint die Kulisse aufgeregter Börsenhändler mit einem hektischen Journalisten davor:

„Nach der Insolvenz der Deutschen Bank am letzten Donnerstag sind die Finanzmärkte schwer beunruhigt. Der DAX erlitt heute einen Kursverlust von sieben Prozent und die Zinsen im Interbankenmarkt schießen weiter nach oben. Experten sprechen von einem Vertrauensverlust der Banken untereinander. Die EZB hat eine Senkung des Leitzinses um fünfzehn Basispunkte auf minus zwei Prozent angekündigt.“

Cut. Mehrere Personen im dunklen Anzug sitzen mit ernstem Blick auf einem Podium hinter einem langen, schwarzen Tisch. Ein großes Banner im Hintergrund verkündet „Bundesministerium der Finanzen — Pressekonferenz“. Eine schlanke Frau mittleren Alters spricht in ein Tischmikrofon.

„Nach reiflicher Überlegung und intensiven Verhandlungen hat das Finanzministerium entschieden, Garantien im Umfang von fünfzehn Milliarden Euro für die Deutsche Commerz bereitzustellen.“

Es erklingen aufgeregte Stimmen aus dem Publikum, die Frau wirkt leicht verunsichert und spricht lauter, um sich Gehör zu verschaffen.

„Wir glauben, dass diese Summe ausreichend ist, um das Institut zu stabilisieren und Schaden für Gläubiger und andere Banken abzuwenden. Das Finanzministerium wird weiterhin alles dafür tun, die Finanzmärkte zu stabilisieren und die deutsche Wirtschaft zu stärken.“

Jemand brüllt: „Schweine!“ und ein Farbbeutel verfehlt die Frau nur knapp und zerplatzt in einer roten Explosion an der Wand hinter ihr. Sicherheitskräfte sprinten aufs Podium.

Cut. Diesmal eine neue Tagesschausprecherin:

„Es scheint, dass mittlerweile ganz Europa von einer Bankenkrise erfasst ist. Zahlreiche Finanzinstitute leiden unter Zahlungsschwierigkeiten und haben bereits Notfallkredite von der Europäischen Zentralbank in Anspruch genommen. Die EZB hat angekündigt, alles Notwendige zu tun, um die Stabilität des Finanzsystems aufrechtzuerhalten.“

Cut. Lena findet sich inmitten einer großen Demonstration vor dem Reichstag. Ihre Sicht ist diesmal dreidimensional und sie kann frei umherschauen. Sie ist umringt von einer bunten Menschenmenge. Die meisten gucken in Richtung eines aus Holzbrettern zusammengezimmerten Podiums, auf dem ein älterer Mann mit Kurzhaarschnitt steht und mit hektischer Gestik und bebender Stimme in ein Megaphon ruft:

„Wieder stehen wir am Ausbruch einer Finanzkrise, wieder reißt uns die Bankenwelt in den Abgrund und wieder werfen die Politiker den Banken Milliarden in den Rachen. Das dürfen wir nicht zulassen.“

Er streckt eine Faust zum Himmel „Nieder mit dem System!“ Zur Antwort hallt es aus der Menge:

„NIEDER MIT DEM SYSTEM!“

Das Bild verblasst.

Cut. Ein Reporter steht vor den eingeworfenen Scheiben der Filiale einer Deutschen Commerz.

„Viele Bürger sind wütend auf die Banken. Szenen der Gewalt wie diese häufen sich. Gestern hat ein wütender Mob zwei Mitarbeiter der Postbank zusammengeschlagen, die daraufhin ins Krankenhaus eingeliefert wurden. Die Gewaltbereitschaft nimmt bedenklich zu. Das Bundesinnenministerium empfiehlt den Menschen, in den nächsten Tagen zuhause zu bleiben. Derweil rufen mehr und mehr zivilgesellschaftliche Organisationen die Regierung zum Rücktritt auf.“

Cut. Lena findet sich in der vordersten Reihe eines Demonstrationsmarsches wieder. Um sie herum wütend dreinblickende Menschen mit bunten Schildern und Transparenten:

„Politik für die Menschen!“, „Schluss mit der Gier!“, „Umweltschutz statt Bankenrettung“.

Lena erkennt den Potsdamer Platz. Sie marschieren gen Norden in Richtung Reichstag und passieren ein ausgebranntes Autowrack. Ein Polizeihubschrauber kreist lautstark über ihnen. Der Demonstrationszug passiert das Holocaust-Denkmal und steuert auf eine Polizeisperre an der Ecke der amerikanischen Botschaft zu. Dort wartet eine dichte Reihe schwer gepanzerter Polizisten mit Schlagstöcken und Schilden. Die Masse ruft wütende Parolen und schiebt sich ungebremst vorwärts. Aus einem Polizeiauto ertönt eine Lautsprecheransage:

„Ich fordere Sie auf, diese illegale Versammlung sofort abzubrechen. Wenn Sie dieser Anordnung nicht nachkommen, werden wir die Demonstration notfalls unter Anwendung von Gewalt auflösen.“

Jemand wirft eine brennende Flasche auf die Polizisten und diese zersplittert Funken stiebend an einem der Plastikschilde. Auch mehrere Steine fliegen und die Polizisten ducken sich hinter ihre Schilde. Ein Wasserwerfer kommt aus der Seitenstraße angefahren. Hier wird es gleich eskalieren. Das visuelle Erlebnis ist so real, dass Lena Unruhe verspürt und ihr Puls sich beschleunigt. Sie schaut zur Seite. Neben ihr läuft ein schwarz vermummter Mann mit Sturmhaube und entzündet einen Gegenstand in seiner Hand, aus dem daraufhin dichter blauer Rauch schießt. Eine Rauchgranate. Sie bewegen sich weiter auf die Straßensperre zu und sind nur noch wenige Meter entfernt. Einer der Polizisten vor ihr hebt eine Pfefferspray-Dose und verschießt einen Strahl direkt in ihre Richtung. Lena schreckt zurück und das Bild verblasst.

Cut. Wieder der Tagesschausprecher:

„Seit über einer Woche halten die Demonstrationen und Krawalle in Deutschland bereits an. In den heutigen Unruhen in Berlin kamen drei Demonstranten und ein Polizist zu Tode. Auch in Hamburg und Düsseldorf kam es zu schweren Ausschreitungen. Für Berlin und Hamburg wurden Ausgangssperren verhängt. Der Bundesinnenminister hat angekündigt, das Polizeiaufgebot in den deutschen Großstädten zu verstärken, um die öffentliche Ordnung wiederherzustellen und prüft den Einsatz der Bundeswehr im Inneren.“

Cut. Ein alter Mann sitzt an einem edlen, hölzernen Schreibtisch und schaut entschlossen in die Kamera. Hinter ihm prangt an einer Flagge der Bundesadler.

„Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, ich will nichts schönreden: Turbulente Zeiten liegen vor uns. Das Finanzsystem ist in der Krise und die Regierung steht vor der Mammutaufgabe, uns durch diesen Sturm zu navigieren und schlimmere Verwerfungen für die Wirtschaft abzuwenden. Viele Menschen sind unzufrieden, dass sich eine solche Krise nach der großen Bankenkrise vor über 10 Jahren noch einmal wiederholt. Es wurde versäumt, das Finanzsystem angemessen zu regulieren und die Zeit für die Aufarbeitung dieser Fehler wird kommen. Doch gegenwärtig müssen wir nach vorne blicken und zusammenhalten. Die Gewalt der letzten Wochen gegen Polizei, Regierungsbeamte und Mitbürger ist zu verurteilen. Ich rufe daher mit Dringlichkeit zu Besonnenheit und Frieden auf.“

Cut. Eine Frau mittleren Alters mit langen blonden Haaren steht auf einem Podium, lauter bunte Logos zivilgesellschaftlicher Organisationen prangen am Rednerpult.

„Der erneute Ausbruch einer Finanzkrise hat die Instabilität und Ungerechtigkeit des herrschenden Systems offengelegt. Die Eliten in Politik und Wirtschaft haben versagt. Damit wir die kollektive Krise unserer Gesellschaft überwinden und dem Klimawandel angemessen begegnen können, braucht es einen Neuanfang. Es braucht eine umfassende Demokratisierung unserer Gesellschaft und unserer Wirtschaft. Wir, das Bündnis Verfassungswende, mit zahlreichen zivilgesellschaftlichen Organisationen hinter uns, rufen die deutsche Bevölkerung heute daher dazu auf, in einer Urwahl über eine neue Verfassung abzustimmen. Das Grundgesetz sieht eine solche Verfassungswahl durch die Bürger ausdrücklich vor. Heute ist der Tag gekommen, diese Möglichkeit zu ergreifen. Wir schlagen vor, Volksabstimmungen und Bürgerräte als direktdemokratische Elemente in die neue Verfassung aufzunehmen und damit unsere Gesellschaftsordnung auf den neusten Stand zu bringen.“

Die Frau holt tief Luft und schaut in den Himmel.

„Wie ein Phönix können wir aus der Asche des alten Systems steigen und unsere Gesellschaft zu neuem Glanz erheben. Lasst uns unsere Macht zurückholen und ein noch schöneres Land aufbauen. Lasst uns diesen historischen Moment für eine demokratische Wende nutzen!“

Lauter Jubel und Sprechgesänge erheben sich.

Lena drückt auf Pause und schiebt ihre VR-Brille vom Kopf. Sie atmet tief durch, schüttelt sich und schaut dann Damian durchdringend an.

„Heilige Scheiße! Das ist ja mal richtig abgegangen.“

Damian nickt ernst.

„Die letzten Jahrzehnte waren kein Ponyritt.“

„Aber ich komme nicht mehr mit. Was soll das denn mit der Verfassungswahl? Mit dem Grundgesetz hatten wir doch eine Verfassung.“

„Prinzipiell ja, aber aufgrund der speziellen deutschen Geschichte gab es eine Besonderheit. Das Grundgesetz wurde nach dem zweiten Weltkrieg nämlich nur als Übergangs-Provisorium bis zur Vereinigung Deutschlands konzipiert. Daher räumte der letzte Artikel im Grundgesetz explizit die Möglichkeit ein, dass das deutsche Volk irgendwann eine neue Verfassung beschließt und das Grundgesetz damit ablöst. Einen Moment.“ Er hantiert an seinem Armband und liest dann vor: „Grundgesetz, Artikel 146: Dieses Grundgesetz, das nach Vollendung der Einheit und Freiheit Deutschlands für das gesamte deutsche Volk gilt, verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist.“

„Meine Fresse! Das ist ja die ultimative Hintertür!“

„Genial, oder?“

Lena nickt nachdenklich.

„Langsam verstehe ich. Und als die Gesellschaft in die Finanzkrise schlitterte und das alte System in der Legitimationskrise versank, ergriffen ein paar kluge Menschen diese Chance dann also beim Schopf.“

„Ganz genau. Einige schlaue Köpfe hatten sich auf diesen Moment vorbereitet und auf den richtigen Zeitpunkt gewartet. Als die Krise kam, hat dann ein Bündnis aus Umweltorganisationen, Gewerkschaften, Kirche und so weiter zur Urwahl aufgerufen. Aber schau vielleicht einfach das Video weiter.“

Lena lässt diese Informationen noch einen Moment sacken, setzt dann wieder die VR-Brille auf und tippt auf „Weiter“.

Wieder erscheint ein Tagesschausprecher:

„Ein breites Bündnis zivilgesellschaftlicher Organisationen hat heute dazu aufgerufen, per Smartphone-App bei der Verfassungs-Urwahl abzustimmen. Dabei soll das Grundgesetz durch eine neue Verfassung ersetzt werden, welche Volksabstimmungen und sogenannte Bürgerräte ermöglicht. Bundeskanzler Robert-Friedrich Hamerz hat den Aufruf jedoch scharf kritisiert. Man rufe zu Anarchie auf und untergrabe bewährte demokratische Institutionen.“

Cut. Lena ist in einer Menschenmasse auf der Straße des 17. Juni im Berliner Tiergarten. Die Goldelse auf der Siegessäule glitzert im Sonnenlicht. Vor ihr steht die blonde Frau von dem Verfassungs-Bündnis vor dem Pult in einem geöffneten Truck. Mit bebender Stimme spricht sie in ein Mikrofon:

„Heute ist ein Feiertag für die Demokratie. Eine überwältigende Mehrheit von 74 Prozent der Bürger hat FÜR die vorgeschlagene neue deutsche Verfassung gestimmt. Wir fordern die umgehende Akzeptanz dieser Entscheidung durch die staatlichen Institutionen und den Rücktritt der Bundesregierung, um den Weg für Neuwahlen frei zu machen.“

Ein so gewaltiger Jubel bricht los, dass Lena meint, die Bäume des Tiergartens würden davon schwanken.

Cut. Zusammen mit Tausenden Menschen findet Lena sich in vorderster Reihe vor dem Metallzaun des Kanzleramts wieder. Es herrscht große Unruhe. Ein Mann versucht, über den Zaun zu klettern und wird von einer Reihe vermummter Polizisten auf der anderen Seite mit Schlagstöcken zurück gedrückt. Von irgendwoher zieht beißender Rauch in die Menge. „WIR HABEN GEWÄHLT! WEG MIT EUCH!“, brüllt die Menge wieder und wieder. Über ihnen kreist mit Getöse ein Polizeihubschrauber. Die Stimmung ist aufgeheizt und aggressiv. Die Polizisten wirken nervös. Lena blickt einem der Beamten hinter dem Zaun in die freiliegenden Augen. Was sie sieht, ist nackte Angst. Weitere Menschen drängen an den Zaun und versuchen, ihn zu erklimmen. Ein Mann schafft es hinüber und wird von drei Polizisten zu Boden gerungen und mit Schlagstöcken verprügelt. Vom Gebäude des Kanzleramts kommt ein Polizei-Verstärkungstrupp mit Maschinenpistolen im Anschlag angerannt. Das ganze Setting ist ein einziges Pulverfass.

Da vernimmt Lena in all dem Lärm ein anderes, sanfteres Geräusch. Sie schaut umher und erblickt mehrere junge Mädchen, die mit geschlossenen Augen dastehen und singen. Aufgrund des Krawalls kann Lena das Lied zuerst nicht erkennen, aber sie sieht weitere Menschen, die es den Mädchen gleichtun, die Augen schließen und mitsingen. Der Stimmenchor schwillt an und die Melodie kommt ihr bekannt vor. Als sie John Lennons Song schließlich erkennt, bekommt sie Gänsehaut.

„Imagine all the people
Living life in peace
You, you may say I’m a dreamer
But I’m not the only one
I hope someday you will join us
And the world will be as one“

Während mehr und mehr Menschen einstimmen und der Gesang immer lauter wird, kommt das Geschehen um sie herum zum Erliegen. Einige schauen neugierig und verwirrt. In ihrer Nähe erscheint eine kleine Gruppe, in deren Mitte ein Mann eine große weiße Fahne schwenkt. Auch die anderen wedeln mit kleinen weißen Tüchern und tragen weiße Armbinden. Die Neuankömmlinge mischen sich unter die Demonstranten, während immer mehr Stimmen den Friedenssong aufgreifen. Auch zu Lena kommt eine junge Frau mit Brille. Auf ihrem T-Shirt prangt ein grünes Logo, das Erde, Menschen und Bäume zeigt und darunter den Schriftzug „Earthland“. „Hallo“, die Frau wendet sich an zwei schwarz gekleidete und vermummte Männer neben Lena.

„Ich möchte euch bitten, friedlich zu bleiben. Ich weiß, dass ihr wütend seid und kann das total verstehen. Aber wenn wir dieser angestauten Wut blind nachgeben, verlieren wir die Oberhand. Wir sind vollkommen im Recht, die ganze Öffentlichkeit weiß das. Aber mit Gewalt werden wir nicht gewinnen. Bitte bleibt ruhig und vertraut auf die Kraft von gewaltfreiem Widerstand.“

„Aber das bringt doch alles nichts“, ruft einer der beiden mit rot angelaufenem Gesicht.

„Die müssen mal ihre eigene Medizin zu spüren bekommen.“

„Ich verstehe ja, dass du sauer bist. Ich habe genauso viel Wut wie du. Aber die Polizisten da drüben und die Politiker sind auch nur in den Rollen, die ihnen das alte System vorgibt. Doch die Glaubwürdigkeit dieses alten Systems ist massiv am Bröckeln und ich glaube, wir stehen kurz vor dem Durchbruch. Wir müssen nur abwarten und den Druck aufrechterhalten. Dann werden wir gewinnen.“

„Aber wenn wir jetzt das Kanzleramt besetzen und die alte Garde raus schmeißen, dann haben wir schon gewonnen.“

„Bist du sicher, dass das funktioniert? Guck dir die Polizisten da drüben an. Selbst wenn wir da durchkommen, wird auf dem Weg ins Kanzleramt Blut fließen. Aber ich will keine blutige Revolution. Wenn wir eine neue Welt aufbauen wollen, dann müssen wir diese von Anfang an leben. Gandhi hat gesagt, es gibt keinen Weg zum Frieden — Frieden ist der Weg.“

Der Mann wirkt weniger entschlossen.

„Du hast ja Recht, aber es ist so eine Scheiße! Ich habe keinen Bock mehr auf diese Machtspiele und wie wir Bürger verarscht werden.“

„Das kann ich gut verstehen. Ich würde dir gerne helfen, deine Wut aufzufangen. Okay?“

„Wie stellst du dir das vor?“, fragt er gereizt.

„Dafür wäre es gut, wenn wir an einen ruhigeren Ort gehen.“

Sie deutet in Richtung Tiergarten.

„Möchtest du mitkommen?“

Die beiden Demonstranten schauen unschlüssig, aber lassen sich dann von ihr wegführen.

Inzwischen haben sich weitere der Ankömmlinge unter die Demonstranten gemischt, schwenken weiße Fahnen und stimmen in den Imagine-Song ein. Lena schaut zum Kanzleramtszaun hinüber. Keiner versucht mehr, über den Zaun zu klettern und die Polizisten wirken wieder entspannter, wenn auch verwirrt. Einige der Neuen scheinen durch den Zaun auch mit Polizisten zu sprechen.

„Was passiert hier gerade?“, murmelt ein Mann neben Lena.

Cut. Wieder der Tagesschausprecher:

„Nach den anfänglichen Ausbrüchen der Gewalt, sind die Demonstrationen zur Anerkennung der Verfassung in der letzten Woche friedlich geblieben. Immer mehr Organisationen und prominente Menschen des öffentlichen Lebens schließen sich dem Verfassungsbündnis an und fordern den Rücktritt der Bundesregierung. Viele Gewerkschaften haben zum Generalstreik aufgerufen und große Teile der Industrie und Wirtschaft lahm gelegt. Auch Teile der Polizei und Feuerwehr haben sich den Protesten angeschlossen.“

Derweil erscheinen im Hintergrund verschiedene Bilder, die Demonstrationen vor dem Kölner Dom, in der Münchener Innenstadt und auf dem Hamburger Stephansplatz zeigen.

Cut. Lena findet sich vor einem großen Gebäude und entdeckt die Aufschrift „Bundesministerium der Wirtschaft“. Am Eingang des Gebäudes ist ein großer Erdring angehäuft. Zahlreiche Menschen laufen mit Eimern und Säcken herbei und schütten weitere Erde dazu. Andere hieven Steine heran und schütten mit Schubkarren Kies dazu. Ein paar Polizisten versuchen, das Treiben zu unterbinden, aber sie sind in dem Durcheinander und angesichts ihrer Unterzahl überfordert. Ein kleiner Junge klettert auf den Erdring und steckt eine große Sonnenblume in die Spitze des Walls. Lena blickt umher und entdeckt einen weiteren Eingang zum Ministerium, der ähnlich zugebaut ist. „Wenn die uns nicht rein lassen, dann sollen sie auch nicht rauskommen“, ruft eine ältere Frau neben Lena heiter.

Cut. Lenas Sicht zeigt die Vogelperspektive über dem Platz der Republik in der abendlichen Dämmerung. Eine mehrfache Menschenkette umschließt den Reichstag und schaukelt zur Melodie eines Chorgesangs. Lena schaut umher. Die Eingänge vom Paul-Löbe-Haus und vom Kanzleramt sind mit gewaltigen Erdhaufen zugeschüttet. Auf diesen sind sogar vereinzelte Bäume gepflanzt und leuchtende Kerzen aufgestellt.

Cut. Kanzler Robert-Friedrich Hamerz am Stehpult des Reichstagsplenarsaals:

„Meine lieben Mitbürger und Mitbürgerinnen. Es herrschen außergewöhnliche Zeiten.“

Er macht eine Pause und lässt die Worte wirken. Es ist vollkommen still im Saal.

„Außergewöhnliche Zeiten verlangen manchmal nach außergewöhnlichen Schritten. Auf Initiative des zivilgesellschaftlichen Bündnisses Verfassungswende hat das deutsche Volk sich vergangene Woche eine neue Verfassung gegeben. Dieser Vorgang ist vom Grundgesetz ausdrücklich vorgesehen. Die Bundesregierung erkennt diese Wahl der deutschen Bürger und die neue Verfassung daher an.“

Er schaut ernst in die Kamera und wartet den tobenden Applaus ab, der sich nach seiner Ankündigung erhebt.

„Gleichzeitig ist einzugestehen, dass diese Regierung den großen Herausforderungen unserer Zeit nicht immer gewachsen war. Es ist daher Zeit für neuen Wind in der Politik. Um den Weg für Neuwahlen frei zu machen, habe ich mein Rücktrittsgesuch beim Bundespräsidenten eingereicht. Dieses Gesuch wurde soeben angenommen. Die Bundesregierung ist damit aufgelöst. Es war mir eine Ehre, in dieser historischen Zeit als Kanzler gedient zu haben.“

Er macht eine weitere Pause und schaut nachdenklich in die Kamera.

„Wir leben in besonderen Zeiten. Die Finanzkrise und die Klimakrise haben das Fundament unserer bisherigen Gesellschaftsordnung grundlegend erschüttert. Viele Menschen sind verunsichert.“

Er hebt die Stimme.

„Doch gleichzeitig ist jede Krise eine Chance. Eine Chance für das Neue. Mögen wir in diesen Zeiten mutig und visionär vorangehen. Mögen wir uns von Solidarität, Freiheit und Gerechtigkeit leiten lassen. Hoffen wir auf das Beste für unser Land, unsere Zukunft und alle Menschen dieser Welt.“

Während lauter Applaus anschwillt, blendet das Bild bereits aus.

Als nächstes findet sich Lena inmitten jubelnder Menschen vor dem Brandenburger Tor. Ein Demonstrant und eine Polizistin umarmen sich neben ihr. Tränen schimmern in den Augen der Frau. Jubelgesänge und Hupkonzerte durchdringen die Atmosphäre. Ein Korken knallt in der Nähe. Jemand prostet ihr zu. Es wird getanzt und gelacht. Lena wird an Szenen vom Mauerfall erinnert, die sie nur von Dokumentationen kennt. Was für eine unglaubliche Atmosphäre, denkt sie.

Dann wird das Bild langsam schwarz.



Weitere Infos zum Buch finden Sie hier.

Lino Zeddies, geboren 1990 in Hannover, betätigt sich als selbstständiger Aktivist für gesellschaftlichen Wandel. Nach einem VWL- Studium engagierte er sich im Netzwerk Plurale Ökonomik e.V., bei Monetative e.V. und im International Movement for Monetary Reform für eine Erneuerung des Wirtschafts-, Geld- und Finanzsystems. In weiteren Lebensstationen als Organisationsberater, Coach und Heilpraktiker für Psychotherapie setzte er sich intensiv mit progressiven Formen der Zusammenarbeit und des inneren Wandels auseinander. Während der Beschäftigung mit diesen zahlreichen kleinen und großen Lösungen für eine schönere Welt entstand die Idee für das Buch „Utopia 2048“, das er im April 2020 veröffentlichte.