Ursula die Große

Weil sie eine „Streiterin für Europa“ sei, soll Ursula von der Leyen diesjährig den Karlspreis erhalten. Der Preis sollte ursprünglich Menschen für ihre Verdienste um die europäische Einigkeit auszeichnen — und nicht deren Zerstörung.

Vor zwei Jahren fiel dem Aachener Karlspreisdirektorium ein, die Einigkeit Europas auf ganz besondere Art zu würdigen: indem man den Präsidenten eines Landes mit jenem Preis auszeichnet, der den Namen des großen Frankenkaisers Karl trägt. Das passte nicht ganz zur eigentlichen Intention, mit der man in der Stadt der alten Kaiserresidenz angetreten war, um für Europa verdienstvolle Zeitgenossen zu prämieren. Damals ging der Preis an Wolodymyr Selenskyj, den Präsidenten der Ukraine. Zur Übergabe kam er selbst. Er trug zu diesem Anlass seinen adrettesten Militärpullover und rief die versammelte deutsche Elite dazu auf, mit ihm zu siegen. Die Laudatio hielt seinerzeit Olaf Scholz. Auch mit von der Partie, Selenskyj zur Seite gestellt, war Ursula von der Leyen, die Präsidentin der Europäischen Kommission. Ihre Skandale, speziell jener um die Impfstoffe und die Kungelei mit Pharmaunternehmen, wurden damals schon galant übergangen. Bis heute hat sich das nicht geändert. Im Grunde konnte sie sich ausrechnen, früher oder später in Aachen nicht nur Staffage sein zu müssen, sondern selbst im Mittelpunkt zu stehen. 2025 ist es nun so weit. Das Karlspreisdirektorium zeichnet die Deutsche aus. Sie habe sich, so wie es sein muss bei diesem Preis, um die EU verdient gemacht.

Der Preis eines Kriegers

Der Karlspreis birgt ursprünglich ein edles Motiv: 1950 beschlossen einige Aachener Köpfe — auf Initiative eines Kaufmannes namens Kurt Pfeiffer —, einen Preis zu erschaffen, der Persönlichkeiten übergeben werden soll, die sich um Europa und ganz speziell um die europäische Einigkeit verdient gemacht haben. Den Namen ihrer Honorierung leiteten sie von jenem Karl ab, den man bis zum heutigen Tag den Großen nennt. Und das nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa – womit man schon eine Idee davon bekommt, wie prägend jener Frankenkönig, der den Aufstieg zum Kaiser schaffte, für den europäischen Kontinent war. Dieser Karl hat Europa — nach den Römern — erstmals wieder vereint, wenigstens so halbwegs.

So sehr das nun auch mit der Einigkeit stimmt, die der Karlspreis zitiert – so wenig friedlich vollzog sich der Einigungsprozess, der unter seiner Regentschaft vollzogen wurde. Karl war ein Kriegsherr; die Sachsen wissen Lieder darüber zu singen. Zimperlich war der Frankenkaiser freilich nicht.

In Verden sollen auf seinen Befehl hin 4.500 Sachsen hingerichtet worden sein. Und für sächsische Heiden sah der christliche Regent drakonische Strafen vor — ein bisschen so, wie es sich heute mancher Westdeutsche wünscht, wenn irgendein Sachse mal wieder nicht pariert oder falsch wählt.

Damals war keiner zimperlich. Wer die Vergangenheit nach den heutigen Standards liest, wird Geschichte nie begreifen können. Als Karl regierte, war Krieg ein probates Mittel politischer Ranküne — heute ist Krieg geächtet. Oder war er das und ist es nicht mehr? Dennoch passt es irgendwie ins Bild, dass dieser Preis eines Kriegsfürsten im Jahr 2023 an einen Kriegsfürsten ausgehändigt wurde und zwei Jahre später an die Handlangerin dieses Kriegsherrn aus der Ukraine. Eines ist aber eindeutig: Karl mag eine zuweilen brutale Politik betrieben und Krieg geführt haben, aber ihn trieb die Vision eines einigen Reiches voran — von Ursula von der Leyen kann das jedoch niemand so eindeutig behaupten.

Europa unter von der Leyen

Die Europäische Union befand sich in der Krise. Vielleicht erinnert sich noch mancher daran. Das war vor dem Jahr 2020. Die Briten trieb es aus der Union, die deutschen Alleingänge waren maßgebliche Ursache für das britische Unwohlsein. Die Polen und Ungarn fremdelten mit der EU. Immer wieder kam die Frage auf, ob nach dem Brexit möglicherweise noch ein weiteres Land eine Exit-Strategie suchen würde. Viele hatten den Eindruck, dass das „europäische Haus“, wie man das Projekt eines politisch geeinten Europas in anderen Zeiten nannte, keine Lobby mehr hatte. Dann kam die erste Krise: Vermutlich ein chinesischer Laborunfall. Die Auflösungserscheinungen stoppten für einen Augenblick — andere Themen füllten die Agenda und das Handy der Kommissionspräsidentin. Die Kurznachrichten löschte sie hernach aus dem Speicher. Als die Laborkrise nichts mehr hergab, folgte unversehens der Ukrainekrieg.

Dieser Krieg gegen einen äußeren Feind, der anders als jener aus dem Labor, auch zu personifizieren war, hatte das Zeug für eine Überbrückungshilfe, die die voranschreitende Erosion der europäischen Einheit aufzuhalten vermochte.

Es ist Wladimir Putins Verdienst — nicht unmittelbar, nicht beabsichtigt —, Europas Auflösung Einhalt geboten zu haben. Der russische Einmarsch in die Ukraine war der letzte gemeinsame Nenner, der Europa nun noch blieb.

Und auch die NATO hat ihren Teil dazu beigetragen, den auseinanderdriftenden Kontinent zusammenzuhalten. All die kleinlichen Sorgen, die vor den Krisenzeiten die Europäische Union beschäftigten, sind während der beiden großen Krisen in weite Ferne gerückt. Die Europäische Kommission hat begriffen: Sie braucht Putin, damit das Projekt nicht doch an ein Ende gerät. Lässt sich so der Kriegseifer auf der europäischen Bühne und von der Leyens Auftreten als Falke erklären?

Aber dieser Prozess gewährt natürlich keine Rettung. Er schiebt die Problematiken nur auf: Denn die Europäische Union degradiert sich seit 2022 selbst. Sie macht sich zum Anhängsel der Vereinigten Staaten und wird zum Spielball der unter US-Führung stehenden NATO. Wer diesen politischen Kurs beibehält, so wie die EU unter Kuratel Ursula von der Leyens, der leistet keinen Dienst für die Einigkeit Europas, wie das die Kuratoren in Aachen nun interpretieren: Der bewirkt das Gegenteil. Sie mag ja eine „Streiterin für Europa“ sein, wie das Karlspreisdirektorium die Würdigung begründete. Aber das Streiten ist ja noch kein Resultat, das den Kontinent eint – ja, es ist möglich, zu streiten und dennoch die Kontrolle vollends zu verlieren.

In Aachen endete die Einigkeit schon mal

Die EU unter Ursula von der Leyen hat einen Kurs eingeschlagen, in dem sie weiter von einer Emanzipation von der Vereinigten Staaten entfernt ist als je zuvor. Die neue amerikanische Administration — jedenfalls deren zukünftiger Präsident —, fabuliert von einer Rüstungsquote von 5 Prozent des jährlichen Bruttoinlandsproduktes. Die Europäische Kommission geht nicht ganz mit, spricht aber einer starken Steigerung der Verteidigungsausgaben dennoch das Wort: Kriegstüchtig müsse man werden — innerhalb der NATO. Was das für die europäischen Gesellschaften bedeutet, liegt auf der Hand: Sie werden einen strikten Sozialabbau erfahren und damit im Inneren massiv unter Druck geraten. Wenn der sich dereinst entladen wird, dürfte die europäische Einheit sukzessive in ihr Endstadium geraten.

Die Einigkeit der Union steht bei der derzeitigen Kommission gar nicht im Kurs. Denn sie ist nicht von Relevanz, als Ableger der Vereinigten Staaten hat man längst jeden Anspruch auf Autonomie, der eine kontinentale Zusammenarbeit notwendig machen würde, aus den Vorstellungen der europäischen Zukunft getilgt.

Europa ist vorher vermutlich nie so weit von der ursprünglichen europäischen Idee abgekommen wie unter der deutschen Ex-Ministerin, die es nach Brüssel trieb – nun ja, die man nach Brüssel „entsorgte“.

Dass der Karlspreis also nun Umdeutungen erfährt, ist nicht überraschend. Das zeigt eigentlich nur, dass die Vision eines geeinten Kontinents längst keine Wirkmacht mehr hat. Nicht mal bei jenen, die sich die Würdigung der europäischen Einigkeit auf die Fahnen geschrieben haben. In Aachen löste sich die Einheit Europas schon mal auf. Als im Jahr 814 der Frankenkaiser starb, teilten seine Söhne das eroberte Reich unter sich auf. Im Laufe der Jahre spalteten sie es komplett in drei Teile. Ursula von der Leyen ist wie der alte Karl auf seinem Sterbebett: Sie weiß, die Einigkeit ist am Ende. Aber den Preis nimmt sie dennoch an. Denn er stellt ihr Alibi dar.