Unvernünftige Staatsräson

Deutschland übt sich in Solidarität mit Israel und lässt die Palästinenser im Regen stehen — ein Lehrstück für doppelte Standards.

Die westliche Welt, die stets die „regelbasierte Ordnung“, die Beachtung der Menschenrechte, der Freiheit, Gleichheit und Selbstbestimmung der Menschen und ihrer Staaten beschwört, hat sich zunächst zu Recht an die Seite Israels gestellt, als am 7. Oktober 2023 jener furchtbare Terrorangriff der Hamas auf unschuldige Menschen in Israel geschah. Aber sie hat die Leidensgeschichte der Palästinenser und den Hintergrund des Hamas-Terrors dabei völlig ausgeblendet. Nun winkt sie auch das grausame Bombardement des Gazastreifens durch die israelische Luftwaffe durch und spricht auf diese Weise allen genannten „westlichen Werten“ Hohn. Und das Schlimme ist: Gaza könnte erst der Anfang gewesen sein.

Als Antwort auf den Terrorangriff holte die israelische Führung unter Netanjahu zum militärischen Vernichtungsschlag gegen die Hamas und ganz Gaza aus. Das „Recht auf Selbstverteidigung“ wurde zu einem Krieg in einem der am dichtesten besiedelten Gebiete der Welt, das etwa die Größe Bremens hat und in dem rund zwei Millionen Menschen auf engstem Raum leben — in Bremen leben übrigens circa 570.000 Einwohner.

Was bedeutet ein Krieg mit Panzern und Luftwaffe in überfüllten engen Stadtvierteln ?

Was bedeutet da ein Krieg, der mit Panzern und Luftwaffe in überfüllten engen Stadtvierteln geführt wird, mit Bomben auf Häuser, in denen sich angeblich Hamas-Terroristen befinden? Der Tod von unschuldigen Zivilisten, von Frauen und Kindern wird einkalkuliert. Die Fluchtwege und Fluchtzonen, in die sich die Menschen begeben sollten, wurden oft genug auch bombardiert oder beschossen. Wohin sollten die Menschen fliehen? Israel blockiert alle Zugänge, verweigert Hilfslieferungen, weshalb Gaza auch als größtes „Freiluftgefängnis“ der Welt gilt.

Wie die Hilfsorganisation „Ärzte ohne Grenzen“ berichtet, leben die Menschen „unter katastrophalen Bedingungen. Laut dem Gesundheitsministerium im Gazastreifen wurden mehr als 41.500 Menschen getötet und mehr als 96.000 Menschen verletzt (Stand 25. September 2024). Fast alle medizinischen Einrichtungen wurden zerstört oder beschädigt und teilweise durch weniger wirksame, improvisierte Strukturen ersetzt. Wiederholte Angriffe auf Gesundheitseinrichtungen und medizinisches Personal erschweren humanitäre Hilfe im Gazastreifen zusätzlich. Insgesamt sind mehr als 90 Prozent der Bevölkerung im Gazastreifen vertrieben worden, zum Teil mehrfach. Kein Ort ist dort sicher“ (1). Hilfsorganisationen gehen davon aus, dass ein Drittel der Toten und Verletzten Kinder sind.

„Kriegsverbrechen“ rufen wir, wenn russische Raketen ein ukrainisches Krankenhaus treffen. Und wie ist es mit Gaza?

Berichte über Bombardierungen von Schulen und Krankenhäusern hören und lesen wir jetzt öfter und auch die Erklärung des israelischen Militärs, dort seien angeblich Hamas-Kommandos gewesen. Selbst wenn das stimmen sollte: Wie kann man trotzdem Ärzte, hilflose Patienten, Angehörige und Geflüchtete dort einfach bombardieren? Es verstößt eindeutig gegen das humanitäre Völkerrecht.

Warum kommen stattdessen nicht weniger zerstörerische Methoden des Antiterrorkampfes zum Einsatz? „Kriegsverbrechen“ rufen wir, wenn russische Raketen ein ukrainisches Krankenhaus treffen. Und wie ist es mit Gaza? Unsere „oberste Völkerrechtsexpertin“ Frau Baerbock rechtfertigte diese Bombardierungen kürzlich damit, zivile Gebäude könnten den Schutzstatus verlieren, wenn sich Terroristen darin verbergen, womit sie selbst dem humanitären Völkerrecht widerspricht (2).

„Menschen verbrennen in Zelt nach israelischem Angriff auf Klinik“

Welchen Schutzstatus die palästinensischen Flüchtlinge beim israelischen Militär wirklich haben, zeigt eine von unzähligen Nachrichten wie diese:

„Bei einem Luftangriff auf den Innenhof eines Krankenhauses im Gazastreifen am Montagmorgen sind palästinensischen Angaben zufolge vier Menschen getötet worden. Der Angriff entfachte zudem ein Feuer in einem Zeltlager für Geflüchtete, bei dem mehr als zwei Dutzend Menschen schwere Verbrennungen erlitten, wie palästinensische Rettungskräfte mitteilten. Auf Bildern der Nachrichtenagentur Reuters waren verkohlte Opfer zu sehen. Aufnahmen der Nachrichtenagentur *AP zeigten Kinder unter den Verwundeten“* (3).

Was ist der Plan der israelischen Führung? Ein Groß-Israel „from the river to the sea“?

Die Regierung unter Netanjahu ist maßgeblich von rechtsradikalen und ultrareligiösen Parteien abhängig, besonders von radikalen Siedlergruppen des von Israel illegal besetzten Westjordanlands.

Ein Teil der israelischen Rechten sprechen ganz offen von der Vertreibung der palästinensischen Bevölkerung aus Gaza und — längerfristig — auch aus dem Westjordanland und streben nach einem Groß-Israel vom Meer bis zum Jordan, „from the river to the sea“ in israelischer Version. Es steht zu befürchten, dass in Gaza jetzt der Anfang dazu gemacht wird.

Israelische Menschenrechtler haben vor israelischen Plänen gewarnt, die palästinensische Bevölkerung im Norden des Gazastreifens zwangsumzusiedeln.

Es gebe „alarmierende Anzeichen dafür“, dass die israelische Armee mit einer „stillschweigenden“ Umsetzung solcher Pläne begonnen habe, heißt es in einer Mitteilung der Gruppen Gischa, B'Tselem, Ärzte für Menschenrechte Israel und Jesch Din. Der Plan sehe vor, die Zivilbevölkerung des nördlichen Gazastreifens vollständig zwangsumzusiedeln, „unter anderem durch die Verweigerung der Einfuhr lebenswichtiger humanitärer Hilfsgüter und von Treibstoff“ (3).

Der Krieg gegen die Zivilbevölkerung wird mit der „Hungerwaffe“ geführt. Israel verweigert unter fadenscheinigen Gründen die Einfuhr von Lebensmitteln und den Zugang zu sauberem Trinkwasser sowie zu allen medizinischen Hilfsmitteln. Kinder sterben täglich in Gaza an Hunger und an den Folgen dieser grausamen Methoden. Wie kann eine „feministische Außenpolitik“ von Frau Baerbock das stillschweigend tolerieren? Die Caritas berichtet in ihrer Pressemitteilung vom 29. Oktober 2024:

„Gegenwärtig leiden etwa 500.000 Menschen in Gaza an extremem Hunger. Wie uns eine Kollegin von vor Ort berichtet, essen die Menschen inzwischen Gras und Tierfutter, um zu überleben.“

Und nun ist auch die letzte Hoffnung auf Versorgung mit Hilfsgütern und Lebensmitteln gestorben durch den unverantwortlichen Beschluss Israels, die Tätigkeit der UNRWA (Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge) in seinem Einflussbereich in Gaza und dem Westjordanland zu verbieten. Eine größere Missachtung der vom Westen stets beschworenen „regelbasierten Ordnung“ ist kaum denkbar.

Das widerspricht allen Normen des Völkerrechts und ist auch der Hintergrund, weshalb Südafrika Israel vor dem Internationalen Strafgerichtshof angeklagt hat.

Voller Unverständnis und mit Empörung haben die deutschen Leitmedien und Chefkommentatoren auf diese Klage Südafrikas reagiert, wie man denn das Selbstverteidigungsrecht Israels mit einem Völkermord, einem Genozid vergleichen könne.

Und was unternimmt die Bundesregierung, die nach dem Grundgesetz (Artikel 1) vor allem anderen verpflichtet ist, das Leben der Menschen und die Unverletzlichkeit ihrer Würde zu achten?

„Die Bundesregierung will weitere Waffen nach Israel liefern.“

Das sagte Regierungssprecher Wolfgang Büchner in Berlin. Es habe zudem „zu keinem Zeitpunkt“ einen Rüstungsstopp gegenüber Israel gegeben, erklärte er. Details dürfe er allerdings nicht nennen. Ein Sprecher des Außenministeriums ergänzte, die Bundesregierung sehe keine Anzeichen für einen Völkermord im Gazastreifen. Das Völkerrecht werde grundsätzlich bei allen Waffenlieferungen berücksichtigt (2).

Was sagt das Völkerrecht zum Völkermord?

„Nach Artikel II der Konvention sind Völkermord bestimmte Handlungen, die in der Absicht begangen werden, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören. Im Einzelnen erfasst sind Handlungen, die sich gegen die physische oder psychische Integrität von Mitgliedern der Gruppe richten (Tötung, Verursachung von schwerem körperlichen oder seelischen Schaden, Auferlegung von zerstörerischen Lebensbedingungen) oder welche die Existenz oder den biologischen Fortbestand der Gruppe betreffen (Maßnahmen zur Geburtenverhinderung); einbezogen ist darüber hinaus auch eine Form des kulturellen Genozids (gewaltsame Überführung von Kindern)“ (4) (Hervorhebung durch den Autor).

Ob diese Kriterien erfüllt sind oder ob es sich völkerrechtlich um Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit handelt, müssen Gerichte entscheiden. Die Bundesregierung jedenfalls weist solche Ansinnen vehement mit dem Hinweis auf die — verfassungsrechtlich nicht existierende — „Staatsräson“ von sich und liefert weiter Waffen. Dass sie sich damit juristisch mitschuldig machen kann, könnte sie spätestens seit der Klage Nicaraguas gegen Deutschland vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag wissen, aber sie ignoriert es.

Auch im Westjordanland werden Palästinenser entrechtet, willkürlich getötet und aus ihren Häusern vertrieben

„Seit Juni 2023 — also schon deutlich vor dem 7. Oktober — führt die israelische Armee regelmäßig Bomben- und Drohnenangriffe im Westjordanland durch. Offiziell zwecks ‚Terrorbekämpfung‘ (…). Dabei starben bis Juni 2024 55 Menschen, 24 von ihnen waren Kinder beziehungsweise Jugendliche im Alter von elf bis siebzehn Jahren. Im Juni 2024 berichtete die *New York Times, dass die israelische Regierung das Westjordanland de facto zu annektieren beabsichtigt, ohne die Annexion als solche zu benennen“* (5).

„Der UN-Bericht des Hochkommissars für Menschenrechte vom 27. Dezember 2023 zeichnet ein düsteres Bild (für das Westjordanland sowie Ostjerusalem, der Autor). Demzufolge hat die israelische Armee dort zwischen dem 7. Oktober und dem 27. Dezember 2023 291 Palästinenser erschossen oder anderweitig getötet (…), wurden 4.000 Palästinenser verhaftet, darunter 255 Kinder, 123 Frauen und 45 Journalisten (…)“ (6).

Die Verhaftungen „gehen einher mit körperlichem und psychologischem Missbrauch oder Erniedrigung“, viele der Verhafteten landen „in den Folterzentren der israelischen Armee“.

Zugleich kam es besonders nach dem 7. Oktober zu einem dramatischen Anstieg der Siedlergewalt. Der Bericht der Vereinten Nationen (UN) hält fest, dass israelische Armee und Siedler dabei kaum unterscheidbar seien. In der Region South Hebron Hills im südlichen Westjordanland verjagten „bewaffnete Siedler/Soldaten 1.208 palästinensische Bauern in dreißig Weilern von Haus und Hof. Sie rissen unter anderem Olivenbäume aus, zerstörten oder vergifteten sie, stahlen die Olivenernte, bedrohten die Bewohner physisch (…) und verwehrten den Palästinensern mit vorgehaltener Waffe die Rückkehr in ihre Häuser oder das Betreten ihres Landes“ (7).

Die aktuelle Lage im Westjordanland beschreibt ein erschütternder Bericht der Hilfsorganisation „Ärzte ohne Grenzen“.

Welche Ziele verfolgt Netanjahus Regierung?

Offenbar soll in Gaza wie in den besetzten Gebieten eine „Nakba 2.0“ durchgeführt werden, vergleichbar der „Nakba“ nach Gründung des Staates Israel 1948, wo etwa 750.000 Palästinenser aus ihren Ländereien und Häusern vertrieben wurden, nachdem der Krieg arabischer Staaten gegen das junge Israel verloren ging. Die Menschen aus Gaza sollen in den Sinai umgesiedelt werden, die UN-Sonderberichterstatterin für die Menschenrechtslage in den palästinensischen Gebieten warnt vor einer „ethnischen Massensäuberung“ (8).

Und das wünschen sich die ultrarechten und religiösen Ideologen vom Likud und anderen rechten Parteien: ein ethnisch homogenes Groß-Israel, allenfalls noch mit einer kleinen, gut zu kontrollierenden, aber rechtlosen palästinensischen Minderheit, eine Ethnokratie, einen Staat der Juden nur für Juden. Das aber wäre keine Demokratie mehr. Die „Zweistaatenlösung“ wäre endgültig tot.

Was macht dann die Bundesregierung, folgt sie immer noch der Staatsräson? Und wie könnte sie dann glaubhaft gegen rechtsextreme Remigrationspläne hierzulande protestieren, wenn sie der Remigration der Palästinenser durch die israelische Regierung nicht energischen Widerstand leistet?

„Wehret den Anfängen“ hieß es bei den Demos für Demokratie und gegen Rechtsextremismus. Unsere Regierung erkennt aber nicht einmal das Problem. Ihr Bekenntnis zur „Zweistaatenlösung“, einen palästinensischen Staat neben Israel, ist angesichts der Realitäten dort heuchlerisches Gerede, und es zeigt, dass sie die Achtung der Menschenrechte und des Völkerrechts nur für bestimmte Menschen in bestimmten Regionen durchzusetzen bereit ist, soweit es den geopolitischen Interessen des Westens dient.