Unverdiente Lorbeeren
Jimmy Carter mag nach seinem Ausscheiden aus dem Amt Gutes vollbracht haben; während seiner Amtszeit jedoch schürte er eine Reihe innen- sowie außenpolitischer Katastrophen.
„De mortuis nihil nisi bene“ heißt ein lateinisches Sprichwort. Über Tote sollte man nichts Schlechtes sagen. An diesen Grundsatz halten sich die Medien sehr oft, vor allem, wenn jemand gerade erst gestorben ist. Entsprechend geschönt sind Nachrufe auf Politiker meist gestaltet. Das klingt „pietätvoll“, die Wahrheit bleibt dabei aber auf der Strecke. Jimmy Carters Leben, das waren hundert Jahre Widersprüchlichkeit. Die Verdienste, die Carter häufig zugesprochen werden, gehen überwiegend auf den Lebensabschnitt nach Beendigung seiner Amtszeit zurück. Das wirft die Frage auf, ob er nicht bestrebt war, irgendetwas zu kompensieren und wiedergutzumachen. Die Präsidentschaft Jimmy Carters nämlich war eine Aneinanderreihung von folgenschweren Fehlern. Chris Hedges wirft einen nicht durch falsche Rücksichtnahme getrübten Blick zurück.
Nach seiner Amtszeit hatte Jimmy Carter in seinem Buch „Palestine: Peace Not Apartheid“ (Palästina — Frieden, nicht Apartheid) den Mut, „die verabscheuungswürdige Unterdrückung und Verfolgung“ und „strikte Trennung“ der Palästinenser im Westjordanland und in Gaza anzuprangern. Er widmete sich der Beobachtung von Wahlen — darunter auch seine umstrittene Verteidigung der Wahl von Hugo Chavez in Venezuela — und war weltweiter Fürsprecher für die Menschenrechte. Er kritisierte den US-amerikanischen politischen Prozess scharf als eine „Oligarchie“, in der „unbegrenzte politische Bestechung“ zu einer „vollständigen Zersetzung unseres politischen Systems zugunsten von Großspendern“ führe.
Carters Jahre als Ex-Präsident sollten jedoch nicht über seinen beharrlichen Dienst für das Imperium, seine Vorliebe für das Schüren verheerender Stellvertreterkriege, seinen Verrat an den Palästinensern, sein Eintreten für eine harte neoliberale Politik und seine Unterwürfigkeit gegenüber dem Großkapital während seiner Amtszeit hinwegtäuschen.
Carter spielte durch die Deregulierung wichtiger Industriezweige wie Fluggesellschaften, Banken, LKW-Verkehr, Telekommunikation, Erdgas und Eisenbahnen bei der Demontage der New-Deal-Gesetzgebung eine wesentliche Rolle. Er berief Paul Volcker an die Federal Reserve, der im Zuge der Inflationsbekämpfung die Zinssätze in die Höhe trieb und die USA in die tiefste Rezession seit der „Great Depression“ führte und den Beginn harter Sparmaßnahmen einläutete. Carter ist der Pate der als Neoliberalismus bekannten Plünderung — einer Plünderung, die sein demokratischer Amtskollege Bill Clinton noch verstärken würde.
Carter geriet unter den fatalen Einfluss seines Svengali-ähnlichen nationalen Sicherheitsberaters Zbigniew Brzezinski, eines Exilpolen, der die Entspannungspolitik Nixons und Kissingers mit der Sowjetunion ablehnte. Brzezinskis Lebensaufgabe, die ihn dazu brachte, die Welt in Schwarz und Weiß zu sehen, bestand darin, die Sowjetunion und mit ihr jede Regierung oder Bewegung zu bekämpfen und zu zerstören, die er für vom Kommunismus beeinflusst oder für mit ihm sympathisierend hielt.
Unter Brzezinkis Einfluss zog sich Carter aus dem Vertrag über die Gespräche zur Begrenzung strategischer Waffen (SALT II) mit der Sowjetunion zurück, der die Stationierung von Atomwaffen einschränken sollte. Er erhöhte die Militärausgaben. Während der indonesischen Invasion und Besetzung Ost-Timors — von vielen als Völkermord bezeichnet — unterstützte er die indonesische Regierung der Neuen Ordnung mit Militärhilfe. Gemeinsam mit dem Apartheidsstaat Südafrika unterstützte er die mörderische konterrevolutionäre Gruppe „National Union for the Total Independence of Angola (UNITA)“, die von Jonas Savimbi angeführt wurde. Auch für den brutalen Diktator Zaires, Mobutu Sese Seko, leistete er Hilfe. Er unterstützte die Roten Khmer.
Er wies die CIA an, Oppositionsgruppen und politische Parteien zu unterstützen, um die sandinistische Regierung in Nicaragua zu stürzen, nachdem sie 1979 an die Macht gekommen war. Dies führte unter Reagan zur Bildung der Contras und zu einem blutigen und unnützen, von den USA unterstützten Aufstand. Er ließ der Diktatur in El Salvador Militärhilfe zukommen und ignorierte dabei einen Appell des Erzbischofs Oscar Romero — der später ermordet wurde —, Waffenlieferungen aus den USA zu stoppen.
Er vergiftete die US-Beziehungen zum Iran, indem er das repressive Regime von Schah Mohammad Reza Pahlevi bis zuletzt unterstützte und dem abgesetzten Schah erlaubte, sich in New York medizinisch behandeln zu lassen — was die Besetzung der US-Botschaft und eine 444-tägige Geiselkrise auslöste.
Carters Aggressivität — er fror iranische Vermögenswerte ein, stoppte die Einfuhr iranischen Öls und wies 183 iranische Diplomaten aus den USA aus — spielte Ayatollah Khomeinis Dämonisierung der USA und der Forderung nach einer islamischen Herrschaft in die Hände. Er zerstörte die Glaubwürdigkeit der säkularen Opposition im Iran.
Dem philippinischen Präsidenten Ferdinand Marcos ließ er Milliarden an Militärhilfe zukommen, obwohl dieser unter Kriegsrecht regierte. Nach der sowjetischen Intervention von 1979 bewaffnete er die Mudschaheddin in Afghanistan — eine Entscheidung, die die USA 3 Milliarden US-Dollar und 1,5 Millionen Afghanen das Leben kostete und zur Gründung der Taliban und der Al-Qaida führte. Die Auswirkungen allein dieser Politik Carters sind katastrophal. Als das südkoreanische Militär 1980 die Stadt Gwangju belagerte, in der Demonstranten eine Miliz gebildet hatten, unterstützte er das Militär, was zu einem Massaker an 2.000 Menschen führte.
Und schließlich verriet er die Palästinenser, als er 1979 ein separates Friedensabkommen zwischen dem ägyptischen Präsidenten Anwar Sadat und dem israelischen Premierminister Menachem Begin — das Camp-David-Abkommen — aushandelte. Das Abkommen schloss die Palästinensische Befreiungsorganisation von den Gesprächen aus. Israel hat nie — wie Carter versprochen — versucht, die Palästinafrage unter Beteiligung Jordaniens und Ägyptens zu lösen. Es erlaubte keine Selbstverwaltung des Westjordanlands und von Gaza innerhalb von 5 Jahren. Es beendete keine israelischen Siedlungen — eine Weigerung, über die Carter später behaupten ließ, Begin habe ihn belogen. Nachdem das Abkommen jedoch keinen Durchsetzungsmechanismus enthielt und Carter nicht bereit war, der Israel-Lobby zu trotzen und Sanktionen gegen Israel zu verhängen, fanden sich die Palästinenser wieder einmal machtlos und verlassen.
Zugutehalten kann man Carter, dass er die Bürgerrechtsaktivistin Patricia Derian zu seiner stellvertretenden Staatssekretärin für Menschenrechte und humanitäre Angelegenheiten ernannte, was zur Blockierung von Krediten sowie zur Reduzierung der Militärhilfe für die Militärjunta in Argentinien während des schmutzigen Krieges führte — Einschränkungen, die die Reagan-Regierung wieder aufhob. Derians Einsatz für die Menschenrechte war echt.
Sie unterstützte den philippinischen Staatschef Benigno S. Aquino Jr. und den südkoreanischen Dissidenten und früheren Präsidenten Kim Dae-jung. Carter erlaubte ihr, ein paar unserer repressivsten Verbündeten zu verärgern. Seine Menschenrechtspolitik zielte jedoch vor allem darauf ab, demokratische Dissidenten und Arbeiterbewegungen in Mittel- und Osteuropa, insbesondere in Polen, zu unterstützen, um die Sowjetunion zu schwächen.
Carter war ein Anstand zu eigen, der den meisten Politikern fehlt; seine moralischen Kreuzzüge jedoch, die erst stattfanden, als er außer Amtes war, wirken wie eine Art Buße.
Seine Bilanz als Präsident ist blutig und traurig, allerdings nicht so blutig und traurig wie die der ihm nachfolgenden Präsidenten. Etwas Besseres können wir nicht über ihn sagen.
Redaktionelle Anmerkung: Dieser Text erschien zuerst unter dem Titel „Don't Deify Jimmy Carter“ auf dem Substack von Chris Hedges. Er wurde von Gabriele Herb ehrenamtlich übersetzt und vom ehrenamtlichen Manova-Korrektoratteam lektoriert.