Unter der Glaskuppel

Die Democracy-App zeigt, dass die Abstimmungsergebnisse im Bundestag nur selten den Wählerwillen widerspiegeln — diesmal bei den Themen Cum-Ex, Atomkraftwerke und Bundeswehreinsatz. Teil 6.

In der Democracy-App können alle Bürger selbst über die Beschlüsse im Bundestag abstimmen und das Ergebnis mit dem der Abgeordneten vergleichen. Es zeigt sich, dass das Abstimmungsverhalten oft auseinanderklafft. Die staatstragenden Parteien sind sich weitgehend darüber einig, dass den sogenannten Cum-Ex- und Cum-Cum-Geschäften, die das Steuersäckel schwer schädigen, nicht weiter nachgegangen werden soll. Sie wollen auch fast einhellig, dass die Atomkraftwerke selbst angesichts der momentanen Energieknappheit ausgeschaltet bleiben. Weiter sind sie auch für „intelligente Systeme“ zur Messung und Steuerung des Energieverbrauchs, was gleichbedeutend wäre mit der Totalüberwachung und Entmündigung der Energiekunden. Glückliches Deutschland, in dem unter den Führungseliten derartige Einigkeit herrscht. Sollte doch einmal jemand ausscheren, ist es gewiss ein Böser von der AFD — oder es sind Normalbürger, der Theorie nach ja der „Souverän“ im Land.

Im folgenden Text geht es um einige Abstimmungen aus der 16. und 17. Kalenderwoche. Den letzten Teil der Kolumne „Unter der Glaskuppel“ zur 13. Kalenderwoche können Sie hier nachlesen.

Cum-Ex & Cum-Cum

Am 20. April 2023 stimmte der Bundestag über einen Antrag der AfD ab. Das Thema: „Rückförderungslücken bei Cum-Ex und Cum-Cum schließen“.

Bei Cum-Ex-Geschäften handelt es sich um eine Variante von Aktiendeals, die missbraucht werden kann, damit einem Unternehmen mehr Steuern erstattet werden, als es eigentlich gezahlt hat. Ein Cum-Cum-Geschäft ist ähnlich aufgebaut, nur dass hier der ausländische Besitzer einer deutschen Aktie im Fokus steht. Der bekommt die Steuern am Ende zwar nicht mehrfach erstattet, kann aber dafür „die Dividende quasi steuerfrei“ einstreichen.

Wo bleibt das Geld?

Beide Geschäftsformen sorgten zwischen 2001 und 2016 in Deutschland für Steuerausfälle in Milliardenhöhe. Es handelt sich hierbei „um einen der größten Steuerskandale der deutschen Nachkriegsgeschichte“. Im Juli 2021 urteilte der Bundesgerichtshof in einem Cum-Ex-Strafverfahren, dass das vorliegende Vergehen den „Straftatbestand der Steuerhinterziehung erfüllt.“

Doch wie hoch der Steuerschaden genau ist, ist unklar. Bei Cum-Ex wird der Schaden zwischen 5 und 12 Milliarden Euro geschätzt (1). Von diesem Geld hat Deutschland ca. „1,8 Mrd.“ wiedergeholt (1). Bei Cum-Cum, „dem großen Bruder von Cum-Ex“, liegt die Schadenshöhe „mindestens bei 28,5 Milliarden Euro“ (1). Aktuelle Zahlen zeigen, dass „bis Ende 2020 gerade mal 135 Millionen Euro zurückgeholt wurden“ (1). Der Antragsteller, also die AfD, möchte, dass dieses Geld „schnellstmöglich zurückgefordert“ wird (1).

Alle anderen Parteien, die im Bundestag anwesend sind, waren hier allerdings anderer Ansicht. Denn nur die AfD stimmte geschlossen für ihren Antrag, alle anderen Parteien — SPD, FDP, Bündnis 90 / Die Grüne, CDU/CSU und Die Linke — stimmten dagegen. In der Democracy-App stimmten bisher nur 192 Nutzer ab, doch 79 Prozent von ihnen wollen das Geld ebenfalls zurückholen.

Lindners Sparkurs

Vor diesem Hintergrund ist pikant, dass Finanzminister Christian Lindner (FDP) erst Anfang April bekanntgab, dass es „deutliche Kürzungen bei den Ausgaben“ der Bundesregierung geben werde. Grund seien die Lücken im Bundeshaushalt 2024. Diese Lücke könne man laut Lindner durch „Verzicht“ erwirtschaften.

Laut der Tagesschau geht es hier um ein „Defizit von 14 bis 18 Milliarden Euro“. Nur kurze Zeit später wurde dieses Defizit auf „bis zu 20 Milliarden Euro“ erhöht.
So oder so: Die Regierung hätte dieses Geld wieder drinnen, wenn sie dem Antrag der AfD zugestimmt hätte.

Scholz und Cum-Ex

Es geht hier nicht nur um Geld, sondern auch um die Rolle des Bundeskanzlers in der Cum-Ex-Affäre. Er muss zwar mit einem weiteren Untersuchungsausschuss im Bundestag rechnen, doch die Ablehnung dieses Antrags wehrt eine Situation ab, die den Bundeskanzler zusätzlich akut unter Druck setzen würde.

Weiterbetrieb der Kernkraftwerke

Am 28. April 2023 brachte die AfD einen weiteren Antrag ein. In „Zwanzigstes Gesetz zur Änderung des Atomgesetzes“ ging es unter anderem um den „unbefristeten Weiterbetrieb“ der Kernkraftwerke.

Bei der Abstimmung stimmten die 60 anwesenden Mitglieder der AfD, drei fraktionslose Mitglieder sowie ein Mitglied der CDU/CSU-Fraktion, der Jurist Thomas Heilmann, für den Antrag der AfD. Alle anderen stimmten dagegen.

Und 121 Abgeordnete haben ihre Stimme gar nicht erst abgegeben. Anscheinend wird das Problem entweder nicht ernstgenommen – oder die Verantwortlichen drücken sich um ihre Verantwortung.

Allein bei der CDU/CSU-Fraktion fehlten von 197 Mitgliedern bei dieser Abstimmung 43. In der Democracy-App gab es bei dieser Abstimmung hingegen eine hohe Beteiligung: 1.246 Nutzer stimmten ab, 65 Prozent von ihnen mit Ja.

Digitalisierung der Energiewende

Angenommen wurde allerdings das „Gesetz zum Neustart der Digitalisierung der Energiewende“ von der Ampelregierung (SPD, Bündnis 90/Die Grüne und FDP). Die CDU/CSU-Fraktion stimmte am 20. April 2023 ebenfalls dafür. Abgelehnt wurde es von der AfD und Die Linke.

Worum geht es? Der Ampelregierung und den Christdemokraten geht die „Einführung intelligenter Systeme für die Messung und Steuerung des Energieverbrauchs“ nicht schnell genug voran (2). Sie nennen das den „Smart-Meter-Rollout“ (2). Damit dieser Vorgang für die „Energiewende“ beschleunigt werden kann, müssten die „Rahmenbedingungen“ geändert werden (2).

In der Democracy-App stimmte der größte Teil von den 2.188 Nutzern, die ihre Stimme abgegeben haben, nämlich 49 Prozent, mit Nein. 47 Prozent votierte für Ja, der Rest enthielt sich.

Bundeswehreinsätze

Am 26. April 2023 stand ein Antrag der Bundesregierung zur Abstimmung. Es ging um eine „Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte“, die in eine von der EU geführte Operation involviert sind (3). Diese Operation trägt die Bezeichnung EUNAVFOR MED IRINI.
Von der SPD, der CDU/CSU, der FDP und Bündnis 90/ Die Grünen stimmten die meisten Abgeordneten dafür. Mit zwei Ja-Stimmen aus der AfD und einer Ja-Stimme von den fraktionslosen Mitgliedern ergab das 553 Ja. Dagegen standen 100 Nein-Stimmen, 82 Abgeordnete gaben ihre Stimme gar nicht erst ab.

Von den 753 Nutzern, die in der Democracy-App abgestimmt haben, votierten 72 Prozent mit Nein.

Am 28. April 2023 stand ein weiterer Antrag der Bundesregierung zu einem Bundeswehreinsatz zur Abstimmung. Dieses Mal ist es keine Fortsetzung einer bereits bestehenden Mission, sondern eine neue. Angeführt wird sie wieder von der EU. Es geht um einen Einsatz „zur Unterstützung des Kapazitätsaufbaus der nigrischen Streitkräfte in Niger“ mit der Bezeichnung „EUMPM Niger“ (4).

Das dazugehörige Abstimmungsergebnis im Bundestag gleicht dem zum oben genannten Einsatz. Der überwiegende Teil der Bundesregierung (SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP) sowie der Christdemokraten stimmte für den Einsatz. AfD, Die Linke und drei fraktionslose Mitglieder dagegen. 99 Abgeordnete gaben ihre Stimme nicht ab.

DEMOCRACY – Ein Erklärfilm


Quellen und Anmerkungen:
Dieser Beitrag wurde mithilfe von DEMOCRACY erstellt. DEMOCRACY ist eine vom gleichnamigen und gemeinnützigen Trägerverein DEMOCRACY Deutschland e. V. zur Verfügung gestellte, kostenlose und vollständig durch Spenden finanzierte Open-Source-App, mit der ihre Nutzer selbst über die Anträge und Gesetze des Deutschen Bundestages abstimmen sowie ihre Entscheidungen interaktiv mit der Community und den offiziellen Resultaten des Bundestages vergleichen können. Um den Service aufrechterhalten zu können, ist der Verein auf Spenden angewiesen.

(1) Siehe Seite 3
(2) Siehe [Seite 1])https://dserver.bundestag.de/btd/20/055/2005549.pdf)
(3) Siehe Seite 1
(4) Siehe Seite 1