Unter der Glaskuppel

Die Democracy-App zeigt, dass die Abstimmungsergebnisse im Bundestag nur selten den Wählerwillen widerspiegeln — diesmal zu den Themen Holzenergie, Wasserqualität und NS-Aufarbeitung. Teil 2.

Die Democracy-App ermöglicht es allen Bürgerinnen und Bürgern, selbst und im Vorfeld über die Beschlüsse im Bundestag abzustimmen und ihre Abstimmungsergebnisse mit denen der Volksvertreter im Bundestag zu vergleichen. Hierbei tut sich nicht selten eine enorme Kluft zwischen den beiden Resultaten auf. Nun mögen die Ergebnisse der Democracy-App-Community bei Weitem nicht repräsentativ sein. Abgesehen von der Nennung des Wahlkreises, erfolgt die Abstimmung nämlich anonym. Folglich werden keinerlei demografische Daten erhoben, die eigentlich notwendig wären, um zu bestimmen, wie repräsentativ die Umfragen sind. Allerdings lassen sich die Abstimmungsergebnisse zwischen den Landkreisen vergleichen, und hierbei ergibt sich häufig das Muster einer relativ gleichen Stimmverteilung, was für eine Repräsentation des Wählerwillens einigermaßen aussagekräftig ist. Diese Diskrepanz wurde auch in den vergangenen Wochen wieder besonders deutlich, als Themen wie die Stärkung der deutschen Forst- und Holzwirtschaft, die Wahrung der Wasserqualität und die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit von Bundestagabgeordneten Gegenstand der Beschlüsse waren.

Deutschland soll — im positiven Sinne — auf den Holzweg. Dies forderte die CDU/CSU in einem Antrag ebenso wie die AfD in einem weiteren. Die Union beantragte, „die wertvollen ökologischen Leistungen unserer Wälder an(zu)erkennen und ein entsprechendes Vergütungssystem für Waldbewirtschaftung (zu) schaffen“.

Darin betonen die Schwesterparteien die entscheidende Rolle von bewirtschafteten Wäldern bei der CO2-Bindung und fordern, „die Leistungen des Ökosystems Wald (...) gemeinsam mit der Forstwirtschaft auf wissenschaftlicher Grundlage darzustellen und daraus Modelle zu entwickeln, die insbesondere die CO2-Bindungsleistungen der Wälder abbilden, damit diesen Leistungen des Waldes ein entsprechender finanzieller Wert zugeordnet werden kann (und) ein auf diesen Modellen aufbauendes, entsprechendes Honorierungssystem (...).“

2.151 Mitglieder der DEMOCRACY-Community stimmten über diesen Antrag ab. 6 Prozent enthielten sich, 22 Prozent lehnten ihn ab und 72 Prozent stimmten dafür. Nahezu spiegelverkehrt verhielt es sich im Bundestag. Lediglich die Union stimmte für ihren eigenen Antrag und erlangte damit 27 Prozent der Stimmen, während die restlichen Fraktionen mit 73 Prozent dagegen stimmten. Selbst die Grünen.

Thematisch ähnlich beantragte die AfD, die „heimische“ Holzwirtschaft finanziell und logistisch zu stärken, da die „Nutzung des biogenen Energieträgers Holz (...) fossile Energieträger wie Kohle und Erdgas ersetzt und (damit) (...) die Importabhängigkeit des deutschen Wärmemarktes (verringert)“. Die bekannten 11 Prozent der AfD im Bundestag stimmten für den Antrag, während der Rest — inklusive der Grünen — mit 89 Prozent dagegen stimmte. Nicht ganz spiegelverkehrt fiel das Abstimmungsverhältnis der Community aus. Von den 1.884 Nutzern, die ihre Stimme abgaben, enthielten sich 4 Prozent, 26 Prozent lehnten ab und 70 Prozent stimmten dafür.

Nationale Wasserstrategie

Die Union forderte in einem weiteren Antrag eine nationale Wasserstrategie. Darin betonte sie die elementare Wichtigkeit von sauberem, reichhaltig verfügbarem und kostengünstigem (Trink-)Wasser.

Das klingt im ersten Moment doch sehr unterstützenswert. Doch wenn man sieht, dass der Antrag nebst Alexander Dobrindt vom ehemaligen BlackRock-Funktionär Friedrich Merz unterzeichnet wurde, sollten alle Alarmglocken schrillen. Wo ist, versteckt zwischen all den einlullenden Phrasen über die Wichtigkeit des Wassers, das verhängnisvolle Sätzchen über die „notwendige“ Einmischung und letztliche Vereinnahmung der Trinkwasserversorgung durch private, profitorientierte Konzerne?

Bei Punkt 10 der Forderungen wird man fündig. Dort heißt es:

„(B)ei allen Umsetzungsmaßnahmen (sei die Bundesregierung aufgefordert), (...) stets regionale Gegebenheiten zu berücksichtigen und die Verhältnismäßigkeit zu wahren sowie vor dem Hintergrund der Effektivität und den Rechten am Eigentum gebührend abzuwägen. Dabei sind auch die Ergebnisse des Stakeholder-Dialog (sic!) ‚Spurenstoffstrategie des Bundes‘ zu berücksichtigen.“

Schon mal was vom Stakeholder-Dialog „Spurenstoffstrategie des Bundes“ gehört? Am 7. November 2016 informierte das Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, nukleare Sicherheit und Verbraucherschutz:

„Im Bundesumweltministerium wurde am 7. November 2016 der Stakeholder-Dialog zur Spurenstoffstrategie des Bundes eröffnet. In einem ergebnisoffenen, moderierten Dialogprozess sollen bis Frühjahr 2017 unterschiedliche Interessen im Umgang mit Spurenstoffen zusammengeführt werden. Die Ergebnisse des Dialogs dienen als Grundlage für eine gemeinsam getragene Strategie zum Schutz der Gewässer vor Spurenstoffen.“

Im dazugehörigen Policy Paper findet sich die Liste der Stakeholder. Anhand dieser lässt sich bereits erahnen, wohin die Reise gehen könnte. Ganz oben gelistet werden dort beispielsweise BASF und die Bayer AG. Die Bayer AG hatte im Verbund mit Monsanto — Mobay — in der Vergangenheit unter anderem das Entlaubungsmittel „Agent Orange“ entwickelt, welches im Vietnamkrieg zum Einsatz kam und an dessen grauenvollen Folgen Vietnamesen noch heute leiden. Ja, dieses Unternehmen soll mit einbezogen werden, wenn es um unser Trinkwasser geht. Was soll schon groß schiefgehen?

Ob mit diesem Wissen von den 107 Community-Votern 65 Prozent für diesen Antrag gestimmt hätten? Wieder spiegelverkehrt verhielt es sich im Bundestag. Die CDU/CSU stimmte mit 27 Prozent geschlossen für ihren Antrag, die AfD mit 11 Prozent enthielt sich und die Ampel in Verbund mit den Linken stimmte mit 62 Prozent dagegen.

Wissenschaftliche Aufarbeitung der NS-Vergangenheit ehemaliger Bundestagsabgeordneter

Wie diese Abstimmung im Bundestag ausfiel, können Sie sich vermutlich denken: Die rechtspopulistische AfD würde mit 11 Prozent dagegen stimmen und der Rest dafür. Doch es kam anders. Angesichts der Abstimmung reibt man sich verwundert die Augen: Die AfD lehnte den Antrag nicht nur nicht ab — er stammte sogar aus ihrer Feder.

Die AfD forderte die Einberufung einer Kommission, die „die etwaigen personellen und strukturellen Kontinuitäten zwischen Staat und Verwaltung des NS-Regimes, der NSDAP und anderen nationalsozialistischen Organisationen einerseits und dem Deutschen Bundestag, seinen Abgeordneten und seinen Verwaltungsmitarbeitern andererseits untersucht und dokumentiert“.

Sie begründet das damit, dass „(z)ahlreiche Abgeordnete des Deutschen Bundestages von 1949 bis in die 1990er Jahre (...) Mitglieder der NSDAP (waren) oder (...) das Regime in sonstiger Weise unterstützt (hatten). Prominente Beispiele hierfür sind der spätere Bundespräsident Walter Scheel, der spätere Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger, der spätere Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher (...). Bei der Deutschen Parlamentarischen Gesellschaft waren unter den ersten sechs Präsidenten vier frühere NSDAP-Mitglieder.“

Die Liste ist dabei nicht vollständig. So haben auch die Grünen historische Leichen im Keller, etwa in Gestalt von [Werner Vogel](https://de.wikipedia.org/wiki/Werner_Vogel_(Politiker), einem ehemaligen NSDAP-Mitglied, das später in den Gründungstagen von Bündnis 90 eine wichtige Rolle spielte.

Eine saubere Aufarbeitung tut selbst nach fast einem Jahrhundert noch Not, sollte man meinen. Doch im Bundestag stimmten 89 Prozent gegen den Antrag der AfD zu diesem hochsensiblen Thema. Von den lediglich 223 Votern der Community stimmten 65 Prozent für den Antrag, 29 Prozent dagegen und die restlichen 6 Prozent enthielten sich.

Im Grunde genommen bedeutet dies, dass sich sämtliche Parteien links der AfD in diesem Fall gegen eine Aufarbeitung der NS-Vergangenheit, im Speziellen der NS-BRD-Kontinuität aussprechen — und das schlicht deswegen, weil der Antrag von der „falschen“ Partei kommt?

Ist nicht gefährlich, welche Deutungsmacht damit der AfD eingeräumt wird? Man verleiht ihr damit im Grunde genommen die Macht, nach Gusto jedes politische Thema in ein kontaminiertes Themenfeld zu verwandeln. Wären die Grünen dann auch mit einem Male gegen die Bienenrettung, spräche sich die AfD dafür aus?

Sollte sich dieser Mechanismus wirklich verfestigen, könnten die Menschen, denen etwas an der deutschen Sprache gelegen ist, immerhin hoffen, dass sich die AfD eines Tages für das Gendern ausspricht.

Fazit

Dass man im Regierungsviertel in Berlin Mitte kaum noch Berührungspunkte mit den einfachen Menschen im Land hat, ist hinlänglich bekannt. Wie enorm diese Diskrepanz grafisch ausfällt, kann kritische Beobachter des Zeitgeschehens dann doch erstaunen. Selbst wenn die Community von Democracy nur einen Indikator für den Wählerwillen in Deutschland darstellt — die Tendenz ist schließlich durch die ähnlichen Abstimmungsergebnisse in den unterschiedlichen Landkreisen erkennbar. Ein regelmäßiger, vergleichender Blick ist daher lohnenswert.


DEMOCRACY – Ein Erklärfilm


Quellen und Anmerkungen:

Dieser Beitrag wurde mithilfe von DEMOCRACY erstellt. DEMOCRACY ist eine vom gleichnamigen und gemeinnützigen Trägerverein DEMOCRACY Deutschland e. V. zur Verfügung gestellte, kostenlose und vollständig durch Spenden finanzierte Open-Source-App, mit der ihre Nutzer selbst über die Anträge und Gesetze des Deutschen Bundestages abstimmen sowie ihre Entscheidungen interaktiv mit der Community und den offiziellen Resultaten des Bundestages vergleichen können. Um den Service aufrechterhalten zu können, ist der Verein auf Spenden angewiesen.