Unsere christlichen Wurzeln
In Zeiten, in denen irdische Sicherheiten wegbrechen oder gewaltsam weggebrochen werden, kann die Rückbesinnung auf unser spirituelles Erbe hilfreich sein.
Seit Jahrzehnten verlassen viele Schäfchen die organisierten Kirchen. Sei es, weil sie den Glauben verloren haben, ihre Spiritualität auf andere Weise leben möchten oder aus Enttäuschung über das kirchliche Bodenpersonal. Diese Unzufriedenheit ist in letzter Zeit gewachsen, da die Kirchen sich in der Krise wahrlich nicht mit Nächstenliebe bekleckert haben. Dennoch lohnt es sich, die Essenz der christlichen Lehre nicht mit dem katholischen oder evangelischen Bade auszuschütten. Gezeigt werden soll dies am Beispiel der ersten Zeile des Vaterunsers, welche sich im Licht der aramäischen Kultur und Sprache besser verstehen lässt (1, 2).
Zunächst einmal: Jesus war kein Macho. Frauen hat er sehr respektvoll behandelt. Dennoch war er in eine semitische Kultur hineingeboren worden. Eine patriarchale Kultur mit starken Familienbanden, in der nicht selten das Recht des Stärkeren galt.
An wen wendete mensch sich also in der Not?
Natürlich an den Vater. Er hatte Macht, und er stand für seine Familie ein. Bedingungslos. Wenn sein Kind sich mit anderen stritt, fragte er nie: „Wer hat angefangen?“ oder: „Wer ist im Recht?“ Vielmehr kämpfte er für sein Kind. Und das oft sehr wirkungsvoll.
Mit dem Vaterunser wendete Jesus sich also an eine liebevolle Macht, die bedingungslos für ihn einstand.
Wir Heutigen können uns diese auch weiblich vorstellen oder in einem anderen Gewand.
Die Hinwendung zu einem göttlichen Du wird ja auch in anderen Weisheitstraditionen gepflegt. Beliebt sind zum Beispiel Krishna und Durga im Bhakti Yoga oder die grüne Tara und Chenrezig im tibetischen Buddhismus. Wer sich keiner Tradition zugehörig fühlt, wendet sich unter Umständen an Engel, Heilige oder andere außer- und überirdische Wesenheiten.
Manche Menschen verehren allerdings nur ungern ein göttliches Du. Selbst, wenn sie das Göttliche nicht negieren, sprechen sie unter Umständen lieber in der dritten Person von Ihm, indem sie zum Beispiel Seine Schöpferkraft und die Wunder des Kosmos loben.
Wieder andere nähern sich dem Göttlichen lieber in der ersten Person: Sie entdecken Es in der Tiefe ihres Herzens und erleben Qualitäten wie bedingungslose Liebe, reine ursachlose Freude oder ein Friede, der alles Begreifen übersteigt (3).
Jesus Christus hätte nichts dagegen gehabt, denn er sagte ja auch: „Der Vater und ich sind eins.“
Der Zusatz „im Himmel“ bedeutet auch nicht „ganz weit weg“. Vielmehr bezeichnet das aramäische Wort „schmeiya“ das ganze Universum, im übertragenen Sinne auch den Frieden und Harmonie, die in einem wohlgeordneten Kosmos herrschen.
Gott in jedem Fall …
Je nach persönlicher Vorliebe kann Gott also durchdekliniert werden als ich, du und er/sie/es.
Für Jesus war es am natürlichsten, sich an einen göttlichen Vater zu wenden, da er seinen irdischen schon früh verloren hatte; vermutlich im Alter von zwölf Jahren.
Auch viele von uns haben während der Coronakrise Vater oder Mutter verloren. Entweder physisch oder durch Isolation, Abstandsgebote und Hasskampagnen.
Im alten Nahen Osten hingegen wäre es undenkbar gewesen, Familienbande willkürlich zu zerreißen (4). Und vaterlose Kinder genossen einen besonderen Schutz. So hieß es zum Beispiel: „Schlag ihn nicht, denn sein Vater ist tot.“
Dennoch dürfte Jesus es in seiner Jugend nicht leicht gehabt haben. Glücklicherweise erfuhr er schon von Kindesbeinen an, dass der göttliche Vater ihm Liebe, Schutz und Führung gewährte, wenn er nur darum bat. Dass Beten nicht nur auf der psychischen, sondern auch auf der physischen Ebene heilsam wirkt, kann jeder auch heute noch erfahren und ist durch Studien belegt (5, 6).
Bezeichnenderweise redete Jesus seinen Gott mit Abba an. Und das war wirklich revolutionär. Die damaligen Juden beschrieben Gott nämlich oft als majestätisch, hoheitsvoll und leicht cholerisch. Ihm konnte man sich nicht persönlich nähern, sondern brauchte dazu die Vermittlung von Schriftgelehrten und Priestern, die komplizierte und gut bezahlte Rituale ausführten.
Und nun kam dieser Jesus daher und sagte einfach „Abba“. Das ist aramäisch und bedeutet „Papa“ oder „Paps“. Ein Kosename, der nicht immer eine männliche Person bezeichnete, sondern zum Beispiel auch für Geschwister oder Gäste gebraucht wurde.
Jesus sagte übrigens nicht „mein Vater“, sondern „unser“. Und auch das war damals revolutionär.
… und für die ganze Menschheitsfamilie
Es war die Zeit der Stammesgottheiten, die um den Sieg über andere Stämme angefleht wurden. Jesus betete anders. Sein himmlischer Pappi war für alle da. Für die gesamte Menschheitsfamilie. Für Querdenker und Mainstreamer, Geimpfte und Ungeimpfte, Russen und Ukrainer.
Ja, selbst korrupte Politiker können sich aus theistischer Sicht jederzeit dem Göttlichen zuwenden und Liebe, Schutz und Führung erfahren. Allerdings würden sie dann wohl andere Entscheidungen treffen …
Darum bitte ich im Namen einer weisen und liebevollen Gottheit, der das Wohl aller Menschen am Herzen liegt.
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Quellen und Anmerkungen:
(1) Rocco A. Errico: Das aramäische Vaterunser: Jesu ursprüngliche Botschaft entschlüsselt (2006)
(2) George M. Lamsa: Die Evangelien in aramäischer Sicht (2017)
(3) Karin Burschik: Wecke die Göttin in dir (2008)
(4) Abraham M. Rihbany: Jesus aus dem Nahen Osten (2004)
(5) Dr. med. Larry Dossey: Heilende Worte: Die Kraft der Gebete als Schlüssel zur Heilung (2013)
(6) Lynne McTaggart: Die Kraft der Acht: Wie die Intention einer kleiner Gruppe unser Leben heilen und die Welt verändern kann (2018)