Unser Land
Sich bereichernde Eliten, eine zerstörte Infrastruktur, ein geschrumpfter Sozialstaat: Es wird Zeit, dass Deutschland wieder ein Land der Bürger wird.
„Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus”: Dieser verwegene Satz stammt aus dem Grundgesetz – aus Artikel 20, Absatz 2 genauer gesagt. Er fühlt sich heute leer an, als träfe er nicht mehr ganz zu. Sicherlich, jener Abschnitt des Grundgesetzes spricht im Folgesatz von „Wahlen und Abstimmungen”: Aber auch das ändert nichts daran, dass das Volk der Souverän ist – Parlamente sind hingegen nur Machtfaktoren zweiten Grades. Die Realität im heutigen Deutschland allerdings sieht ganz anders aus.
Carl Schmitt hat mal definiert, dass derjenige Souverän sei, der in der Lage ist, einen Ausnahmezustand zu verfügen. Schenkt man dieser Definition Glauben, müsste man für die hiesige Bundesrepublik – die sich über ihre offiziellen Kanäle, Ministerien und Staatsfunk, auf das 75-jährige Jubiläum im Jahr 2024 vorbereitet – einen anderen Souverän zusprechen. Die Bürgerinnen und Bürger, das Volk also, wäre das nicht. Man denke nur mal daran, wie an den Interessen des Volkes vorbei- und ja, auch in den Ausnahmezustand hineinregiert wird. Sollte sich also das Volk, sollten wir uns das Land zurückholen?
Wie Orbán, Meloni und Trump
Vor einigen Wochen saß Hubert Aiwanger, Vorsitzender der Freien Wähler in Bayern und bayerischer stellvertretender Ministerpräsident, in der Show von Markus Lanz. Der ZDF-Inquisitor setzte dem Landespolitiker mächtig zu. Der wehrte sich mit den rhetorischen Möglichkeiten, die er zur Verfügung hat – Aiwanger ist ja ein Bauernkind, vertritt ganz besonders die Interessen der Landwirte und der Menschen Niederbayerns. Das macht man ihm zuweilen zum Vorwurf, denn den Landwirten steht eher nicht der Sinn nach Gendern oder veganem Hackbraten.
Schon in der Sendung konnte man sehen, dass es darum geht, den lästigen Aiwanger einzukreisen. Einige Wochen später fischte man einen Flugzettel aus dem Jahr 1987/88 aus einem Schulranzen. Zugegeben mit widerlichem Inhalt – und geschrieben von eben jenem Aiwanger. Aber der war damals 16, maximal 17 Jahre alt. Das ist doch heute schon gar nicht mehr wahr. All das ist eine andere Geschichte – aber es hat so kommen müssen. Denn bei Lanz war schon klar, dass Aiwanger gecancelt werden soll.
Der hat nämlich kurz vor seinem Auftritt in einem Bierzelt in Erding gesagt, dass sich die schweigende Mehrheit endlich dieses Land zurückholen müsse. Lanz fuhr alle Geschütze auf, kniff die Augen zusammen, wie er es zuweilen tut, dazu spitzte er die Lippen – erstaunlicherweise gehört dieses Duckface auch zum mimischen Repertoire Donald Trumps, mit dem Lanz ganz sicher nichts zu tun haben möchte. Aiwanger hielt er vor, dass dieser Spruch von einem Land, das man sich zurückholen müsse, ganz ähnlich bei anderen zu hören sei. Eben jener Trump habe mit so einer Rhetorik gespielt und gezündelt. Ebenfalls Victor Orbán klinge so. Und auch Giorgia Meloni schwinge solche Parolen. Wolle er sich, so wollte Lanz von Aiwanger wissen, in die Phalanx der Populisten einreihen?
Von wem wolle man sich das Land denn eigentlich zurückholen, war eine Frage, die Aiwanger auch kurz davor bei Bild TV beantworten musste. Dort sagte er: Von einer Politik, die die Interessen der Mehrheit aus dem Blick verloren habe.
Bei Lanz fiel ihm die Erklärung schwerer, auch weil der Inquisitor ihm dauernd in die Parade fuhr. Was aber hängenblieb und auch thematisch so gewollt war: Jemand, der sich das Land zurückholen wolle, hängt rechten Wahnideen hinterher.
This land was made for you and me
Das muss man sich mal vorstellen: Der Satz, wonach wir – wer immer das nun ist – uns das Land zurückholen müssen, gilt mittlerweile schon als Anschlag auf die öffentliche Ordnung, als rechte Parole – wer weiß, vielleicht gar als Ausspruch, der den Staat delegitimieren möchte? Denn immerhin sagt man ja damit auch, man wolle ein anderes Land, vielleicht eine andere Verteilung und Schwerpunktsetzung. Eine neue Ordnung gar? Man greift also die Eliten an. Und wer die angreift, kann nur antidemokratisch eingestellt sein.
Es ist den Herrschenden im Lande gelungen, das, was sie als Demokratie bezeichnen und mit positiven Attributen aufladen, zu einem Synonym für ihre eigenen Interessen zu machen. Wer sie angreift, wer die Politik und die wirtschaftlichen Einflussnahmen beanstandet, wird daher ohne viel Federlesens in die rechte Ecke gestellt, zum Gefährder erklärt.
Denn unsere Eliten, das weiß doch in diesem Lande jedes Kind, sorgen für das beste Deutschland aller Zeiten – wer das in Frage stellt, will die freiheitlich-demokratische Grundordnung beseitigen. Mindestens! Auch wenn er damit eigentlich nur sagen will, dass ein Land nötig wäre, in dem die Interessen der sogenannten „kleinen Leute” wieder Relevanz finden.
Nicht, dass Aiwanger da ein großer Hoffnungsträger wäre. Er ist natürlich ein kleinbürgerlicher Vertreter seiner Zunft. Aber seine Aussagen von einem Land, das man einer innen- wie außenpolitisch vollkommen aus dem Ruder laufenden Ampelkoalition aus den Händen nehmen, sich also zurückholen sollte, sind nicht geeignet, den Landespolitiker vorzuführen und zu framen. Es ist eigentlich eine stinknormale Aussage in einer Gesellschaft, die sonst mächtig stolz tut, weil sie doch Demokratie sei. Grüße vom Artikel 20 des Grundgesetzes – speziell vom oben schon zitierten Absatz 2.
Dieses Land ist kein Eigenzweck. Es ist nach dem Krieg mit dem Anspruch entstanden, es von nun an besser machen zu wollen. Ohne jetzt eine falsche Romantik ins Feld zu führen: Es war nie als Kleiner-Leute-Staat gedacht. Aber als ein Land, in dem die Eliten unerreichbar sind und in dem jede Kritik an ihnen als faschistische Tour diffamiert werden kann, eben auch nicht. Sich das Land zurückzuholen, fände auch noch im Absatz 4 des Artikels 20 Entsprechung, in dem es heißt: „Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand” – die, die sich durch solche Parolen gefährdet sehen, nehmen diese Bewahrung der Ordnung für sich in Anspruch. Sie überlesen aber, dass es „alle Deutschen” sind, die „das Recht zum Widerstand” hätten. Auch hier geht die Gewalt vom Volk aus – und nicht von Eliten, die Gesetze durchsetzen, die Kritik zu einer Deligitimierung des Staates erklären.
Soll das Nationalismus sein?
Wir müssen uns unser Land zurückholen: In Deutschland verursacht das Possessivpronomen an dieser Stelle nicht selten Bauchschmerzen. Man schreibt daher ganz gerne „unser” Land – Anführungsstriche retten vor einer falschen politischen Verortung. Dabei befindet man sich mit so einer Aussage auf dem Boden des Grundgesetzes. Es ist nicht verwerflich, von seinem Land zu sprechen. Es sich zurückholen zu wollen, kann überhaupt kein Angriff auf die Ordnung sein – im Gegenteil: Es gehört zu dieser Ordnung dazu.
In Deutschland gilt das aber sehr schnell als nationalistische Parole, als Neuauflage von einst. Wer so spricht, macht sich mit den Nationalisten von früher gemein. Wer dem entgehen will, muss internationalistisch argumentieren – was ganz praktisch für jene ist, die die Macht haben: Denn wer global oder mindestens kontinental denkt, blendet die Themen, die im eigenen Land vorliegen, naturgemäß aus oder schiebt sie von sich weg.
Was Markus Lanz nicht sagte, als er Aiwanger eines populistischen Nationalismus‘ zu überführen versuchte: Ob nun Trump, Meloni oder Orbán – in deren Ländern sind Losungen wie jene, sich das Land zurückzuholen, das Land zu einem Platz für die Menschen zu machen, kein nationalistischer Frevel und keine rechtsradikale Erscheinung – ganz gleich wie ehrlich diese Parolen letztlich gemeint und umgesetzt werden. Es ist schlicht die Normalität – was sonst sollen Staaten denn sein? Hierzulande allerdings gilt das schnell als Rechtsruck – auch weil die Eliten die Erfahrung gemacht haben, dass man leidige Diskussionen um mehr Bürgernähe, mehr Sozialstaat oder einfach nur mehr Verständnis für die Alltagssorgen normaler Menschen ganz gut ausbremsen kann, indem man sie in die nationalistische Ecke stellt und somit verunmöglicht.
Dabei hat dieses Land, diese Bundesrepublik, vielleicht wirklich nur noch eine Chance: Sie muss denen entrissen werden, die aus ihr einen gänzlich trostlosen Ort machen.
Nötig ist ein Staat, der die Interessen der Bürger im Auge hat. Innen- wie außenpolitisch. Orbán sagte neulich in einem Interview, dass er die Sanktionen gegen Russland nicht unterstütze, weil sie seinen Ungarn nicht guttun. Solche Aussagen macht man ihm zum Vorwurf, da käme der Populist durch. Kann ja sein, es ändert aber nichts an der Tatsache, dass das der Spirit ist, den Demokratien tragen – und eben nicht Diktaturen. In Demokratien ist es „unser Land”. Wer Aussagen in dieser Richtung ächtet, hat nicht verstanden, wie demokratische Gestaltung funktioniert.