Unser Krieg

Europa isoliert und drangsaliert Syrien.

Tausende Kämpfer ließen die Geheimdienste europäischer Staaten seit 2011 nach Syrien und in den Irak ziehen, um sich dort den Gotteskriegern von Al Khaida und dem selbst ernannten „Islamischen Staat im Irak und in der Levante“ anzuschließen. Allein aus Deutschland reisten mehr als 1.000 aus, wie die Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Linksfraktion (1) antwortete.
Zeitgleich verhängte der Europarat 2011 harte Wirtschaftssanktionen gegen die aufstrebende Wirtschaft des Mittelmeerlandes, die seitdem jährlich verschärft und ausgeweitet wurden. Führend bei dieser „anderen Art von Krieg“ (2) war die Bundesregierung. Die so genannten „Einseitigen Zwangsmaßnahmen/Beugemittel“ schaden jedem Syrer, stellte kürzlich der UN-Sonderberichterstatter Idriss Jazairy nach einer Reise durch Syrien fest.
Zeitgleich mit der zum 1. Juni 2018 erneut erfolgten Verlängerung der EU-Sanktionen erfuhr man in Wien: „Der Weg zu Gerechtigkeit (in Syrien) führt über Europa“. Thema der Veranstaltung war „Folter in Syrien“, die in Deutschland, Schweden, Österreich und Frankreich strafrechtlich verfolgt werden soll. Der Generalbundesanwalt in Karlsruhe erließ am 9. Juni 2018 einen internationalen Haftbefehl gegen einen hochrangigen syrischen Militär.
Doch warum gibt es ein Verfahren wegen Folter in Syrien, die der Bundesregierung bereits vor dem Krieg 2011 bekannt und von deutschen Strafbehörden für eigene Interessen hingenommen worden war (3)? Warum gibt es keine Strafverfahren wegen der Ausreise von Kämpfern nach Syrien? Warum kommen die EU-Sanktionen, die Millionen Menschen in Syrien drangsalieren, nicht vor ein Gericht? Diese Fragen stellt sich Karin Leukefeld in Damaskus.

Auf die Frage einer britischen Journalistin, was falsch daran gewesen sein soll, Syrien in den letzten sieben Jahren zu isolieren, antwortete der syrische Präsident Bashar al Assad, das Konzept ein Land zu isolieren sei allgemein falsch. „In der Welt, in der heutigen Politik ebenso wie früher, muss man kommunizieren. Wenn man ein Land isoliert, isoliert man sich selber von dem, was in dem Land geschieht. Das macht politisch blind.“
Die Wirtschaftssanktionen gegen Syrien – offiziell nennt man sie „Einseitige Zwangsmaßnahmen/Beugemittel“ wurden vom Europarat erstmals im Mai 2011 verhängt und seitdem jährlich verlängert und verschärft. Die USA hatten bereits 1979 Sanktionen gegen Syrien verhängt, die bis heute in Kraft sind.

Offiziell heißt es, die Sanktionen richteten sich „gegen das syrische Regime und seine Unterstützer“, die weiterhin für die „anhaltende Unterdrückung der Zivilbevölkerung“ verantwortlich seien. Auf der Sanktionsliste stehen inzwischen 67 Firmen und 259 Einzelpersonen, darunter fast die gesamte syrische Regierung. Gegen diese Personen besteht ein Einreiseverbot (in die EU). Sollten sie Vermögen auf einem europäischen Konto haben, ist das Geld „eingefroren“. Personen, die angeblich „beim Einsatz chemischer Waffen eine Rolle gespielt“ haben sollen, wurden der Liste zugefügt.

Tatsächlich wird Syrien isoliert. Es handelt sich nach einem Bericht von ESCWA, der UN-Wirtschafts- und Sozialkommission für Westasien, um die schärfsten Sanktionen, die seit Gründung der UNO jemals gegen ein Land verhängt wurden.

Die EU-Zwangsmaßnahmen gegen Syrien umfassen ein Öl- und Gasembargo sowie Beschränkungen bei Investitionen; das Vermögen der Syrischen Zentralbank auf Banken der EU wurde eingefroren. Beschränkt ist der Export von Waren und Technologie aus der EU nach Syrien, die der „internen Unterdrückung dienen“ oder die bei der Überwachung des Internets und der Telekommunikation eingesetzt werden könnten.

Ein Bericht des UN-Sonderberichterstatters Idriss Jazairy, der Syrien Mitte Mai besucht und festgestellt hatte, dass die Sanktionen „zum anhaltenden Leid des syrischen Volkes beitragen“, wurde vom EU-Rat ignoriert.

Idriss Jazairy ist der UN-Sonderberichterstatter über die negativen Auswirkungen von „Einseitigen Zwangsmaßnahmen“ oder Sanktionen auf die Menschenrechte. Seit 2005 ist Jazairy im Amt. Über seinen Besuch in Syrien vom 13. - 17. Mai 2018 legte er einen Bericht vor.

Jezairy stellte klar, dass die Sanktionen die ohnehin durch den siebenjährigen Krieg erschwerten Lebensbedingungen der Syrer noch schlimmer machten. Ein „dramatischer Anstieg des Leids der syrischen Bevölkerung“ sei festzustellen. Die syrische Wirtschaft gehe in einem „alarmierenden Ausmaß“ zurück. Das Bruttoinlandsprodukt sei seit 2011 um zwei Drittel gefallen. Syrisches Geld und Werte seien in ausländischen Banken eingefroren. 2010 kostete ein US-Dollar 45 Syrische Pfund (SYP), 2017 mussten 510 SYP für einen USD bezahlt werden. Lebensmittel haben sich um das Acht- bis Zehnfache verteuert. Der Krieg habe die Wirtschaft des Landes erschüttert, die Sanktionen erschütterten sie noch mehr.

Vor dem Krieg habe niemand in Syrien Hunger leiden müssen, 2015 seien 32 Prozent der Syrer auf Nahrungsmittelhilfe angewiesen, so der UN-Sonderberichterstatter. Die Arbeitslosigkeit habe 2010 bei 8,5 Prozent gelegen, 2015 bei mehr als 48 Prozent. Die meisten Syrer könnten nur mit Hilfe von Geldzahlungen ihrer Verwandten aus dem Ausland überleben. Das Geld werde über Firmen ausgezahlt, die hohe Gebühren verlangten. Andere private Überweisungswege würden teilweise von den bewaffneten Terrorgruppen kontrolliert. Geldzahlungen für Hilfsprojekte an Konten im Libanon würden gestoppt, wenn das Projekt in Syrien durchgeführt wird.

Die medizinische Versorgung sei betroffen, Medikamente, Ersatzteile und Software könnten von Syrien aus nicht eingekauft werden. Europäische Firmen liefern tatsächlich in den Libanon oder in einen Golfstaat, von wo die Produkte dann weiter nach Syrien transferiert werden. Damit fallen für den Endabnehmer doppelte Steuerzahlungen an. Die Wartezeit kann bis zu einem Jahr betragen, da alle offiziell aus Syrien bestellten Produkte vor der Liefergenehmigung von einem Sanktionskomitee in der EU und in den USA überprüft werden. Enthält ein Produkt einen bestimmten Prozentsatz Material, das in den USA hergestellt wurde, darf das Produkt nicht nach Syrien geliefert werden. Auch so genannte „Dual-Use“-Produkte, die möglicherweise für die Waffenherstellung benutzt werden könnten, werden gestoppt.

Es sei „ironisch, dass die Maßnahmen von den Verursacherstaaten verhängt wurden, weil sie in Sorge um die Menschenrechte“ gewesen seien. Nun trügen diese Maßnahmen als „unbeabsichtigte Konsequenz“ dazu bei, dass „die humanitäre Krise sich verschlimmert“. Behauptungen, dass man die Sanktionen verhängt habe, „um die syrische Bevölkerung zu schützen oder eine demokratische Veränderung voranzutreiben, vertragen sich schwerlich mit dem wirtschaftlichen und humanitären Leid, das sie verursachen“, so Jezairy. Es sei an der Zeit „sich zu fragen, warum die unbeabsichtigten Konsequenzen heute schwerer wiegen als es vernünftigerweise von demokratischen Staaten akzeptiert werden kann. „Was immer die ,politischen Ziele‘ seien, die mit den Zwangsmaßnahmen einseitig verfolgt worden seien, „es muss menschlichere Wege geben, sie im vollen Einklang mit dem Völkerrecht zu erreichen“.
Kirchen, Politiker und zivilgesellschaftliche Gruppen in Syrien fordern seit Jahren die Aufhebung der Sanktionen, ohne Erfolg.

Befragt zu der aktuellen Entscheidung des EU-Rates, die Sanktionen gegen Syrien erneut zu verlängern, erklärte Pater Zehri aus Saidal (Homs), die Syrer hätten sieben Jahre Krieg überstanden und seien noch immer da. „Alles was wir brauchen ist Frieden. Wenn Ihr uns endlich in Ruhe lasst, werden wir uns und Syrien heilen können.“ In Europa und Deutschland will man solche Stimmen nicht hören.

Gerechtigkeit von Europas Gnaden?

Am gleichen Tag als die EU-Sanktionen gegen Syrien um ein weiteres Jahr verlängert wurden, erfuhr man, dass der „Weg zu Gerechtigkeit (in Syrien) über Europa“ führt. Das war der Titel einer Veranstaltung über „Folter in Syrien“ am 1. Juni in Wien. Vorgestellt wurde die Strafanzeige gegen syrische Offizielle „des Assad-Regimes“, die für Folter in Syrien verantwortlich gemacht werden sollen. Die in Wien eingereichte Strafanzeige war zuvor bereits in Deutschland, Frankreich und Schweden erstattet worden.

Antragsteller sind Überlebende der Folter, die sie nach eigenen Aussagen in syrischen Gefängnissen zwischen 2011 und 2017 erlitten haben. Unterstützt werden sie von syrischen Anwälten, die der Opposition angehören, selber inhaftiert waren und heute in Europa leben. Hilfestellung leisten dabei unter anderem die Heinrich-Böll-Stiftung und das „Europäische Zentrum für konstitutionelle und Menschenrechte“ (ECCHR), das seinen Sitz in Berlin hat.

Eine Woche nach der Veranstaltung in Wien lieferte der Generalbundesanwalt in Karlsruhe und erließ „erstmals Haftbefehl gegen einen engen Vertrauten von Assad“, wie es in einer Presseerklärung des ECCHR am 9. Juni hieß.

Der erste internationale Haftbefehl gegen „Jamil Hassan, Chef des Luftwaffengeheimdiensts, ist eine gute Nachricht für alle Betroffenen in Syrien“, so das ECCHR. „Mit dem Haftbefehl macht der Generalbundesanwalt klar: Folter ist absolut tabu. Die Hauptverantwortlichen für Folter gehören vor Gericht. Deutschland ist bereit, seinen Beitrag zur juristischen Aufarbeitung der schweren Menschenrechtsverbrechen zu leisten.“

Anwälte, die sich heute beim ECCHR engagieren, waren gescheitert, als sie 2005 eine Strafanzeige gegen den damaligen US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld und andere wegen Folter im irakischen Gefängnis von Abu Ghraib und im Gefängnis Guantanamo Bay erstattet hatten. Der Generalbundesanwalt lehnte die Strafanzeige nach 5 Jahren Begutachtung 2010 ab. Ein Verfahren gegen Rumsfeld und damit gegen die USA war politisch nicht gewollt.

Jamil Hassan, der in Syrien bekannt und gefürchtet ist, hat keine Lobby wie Donald Rumsfeld. Es dauerte bei der Generalbundesanwaltschaft in Karlsruhe nur wenige Wochen, um sich für einen internationalen Haftbefehl gegen den Syrer zu entscheiden.

Was aber unterscheidet Hassan von Rumsfeld, der nicht nur für Folter sondern auch für den massenhaften Einsatz von uranabgereicherter Munition in einem völkerrechtswidrigen Krieg im Irak verantwortlich war, der Politik, Bildung, Gesellschaft, Ökonomie und Umwelt des Landes zerstörte?

Warum gibt es ein Verfahren wegen Folter in Syrien, die der Bundesregierung bereits vor dem Krieg 2011 bekannt und von deutschen Strafbehörden für eigene Interessen hingenommen worden war? Warum kommen die EU-Sanktionen, die Millionen Menschen in Syrien drangsalieren, nicht vor ein Gericht?


Quellen und Anmerkungen:

(1) https://www.bundestag.de/presse/hib/2018_05/-/557376
(2) Hans von Sponeck: Ein anderer Krieg: Das Sanktionsregime der UNO im Irak, Hamburger Edition, 2005
(3) https://www.zeit.de/online/2007/51/syrien-zammar-steinmeier