Unerhörte Stimmen
Die Friedensaktivistin Aida AL-Shibli aus Palästina überlebte elf Kriege — im Rubikon-Interview erklärt sie, warum die Heilung der Weißen für den globalen Frieden so wichtig ist.
Ein Feind ist jemand, dessen Geschichte wir noch nicht gehört haben. In Westeuropa hören und lesen wir hauptsächlich Geschichten von Menschen unserer Kultur und Rasse. Das ist uns meist nicht bewusst, und wir glauben zu wissen, wie die Welt ist. Wer in der Kultur von Aida AL-Shibli, einem Beduinenstamm in Palästina, eine Frage stellt, bekommt immer eine Geschichte als Antwort. Die Friedensarbeiterin sagt, wir bräuchten mehr Geschichten. Rubikon-Autorin Elisa Gratias hatte die Gelegenheit, die Geschichte von Aida AL-Shibli zu hören und aufzuschreiben. Wenn wir Westler mehr über die Perspektive von Menschen aus anderen Kulturen erfahren, erkennen wir nicht nur, dass wir alle miteinander verbunden sind, sondern auch, wie wir zum Frieden in der Welt beitragen können.
Elisa Gratias: Wir sind hier in der Friedensforschungsgemeinschaft Tamera in Portugal zu einem Seminar mit dem Titel „A plan to end war“. Die Organisatorin Monika Alleweldt hat Sie eingeladen, uns von Ihren Erfahrungen zu erzählen. Liebe Aida AL-Shibli, Sie wurden in Palästina in einem Beduinenstamm geboren. Sie haben elf (1) Kriege überlebt und das erste, worüber Sie in unserem Seminar gesprochen haben, war Freude. Warum ist Freude so wichtig und wie schaffen Sie es, sich die Freude nach all den Erfahrungen, die Sie gemacht haben, zu bewahren?
Aida AL-Shibli: Ich danke Ihnen für die Gelegenheit, zu Menschen zu sprechen, die meine Geschichte nicht kennen, damit ich eine Freundin für sie werden kann.
Ich glaube, dass es die Absicht der Unterdrückungssysteme ist, dass wir ihre Sklaven werden, dass wir an sie glauben, die Macht auf sie projizieren und in einen Zustand der Machtlosigkeit geraten. Und wenn wir in diesen Zustand der Hoffnungslosigkeit geraten, wird alles riesig und unlösbar. Wir werden depressiv. Und das Gegenmittel für diese Depression ist Freude.
Wie kann man nun in Zeiten, in denen der Schmerz so groß ist, fröhlich sein? Ich unterscheide zwischen dem oberflächlichen Glück und der tiefen Freude, die aus der Quelle in uns selbst kommt. Das System ist daran interessiert, dass wir in das oberflächliche Glück eintauchen, das heißt, ich erreiche die momentane Zufriedenheit: Ich kaufe Dinge, ich gehe auf eine Party, ich betrinke mich, ich fahre in den Urlaub und denke, ich bin glücklich. Ich arbeite, und ich habe mir einen Urlaub verdient. Aber das ist nur oberflächlich. In dem Moment, in dem die Party zu Ende ist, stehen wir wieder vor denselben Bedingungen.
Das oberflächliche Glück ist schnell wieder vorbei und währt nur kurz.
Sehr kurz. Und eigentlich weiß unsere Seele, dass wir uns selbst belügen. Also macht der Körper bei diesem Glück vielleicht mit: Wir lachen, wir malen uns ein Lächeln ins Gesicht, wir tragen Make-up auf. Es bleibt oberflächlich, weil die Seele weiß, dass man wieder in die Hoffnungslosigkeit zurückfällt, sobald das kurze Glücksgefühl endet. Die innere Freude am Leben ist das Vertrauen und der Glaube, dass das Leben als Liebesbeziehung gemeint ist, dass das Leben ein Paradies ist, dass es bedeutet, dankbar zu sein, dafür dass man lebt.
Allein die Tatsache, dass wir am Leben sind, dass wir sehen, dass wir fühlen, lässt uns Dankbarkeit fühlen, was uns unmittelbar zur Freude führt. Wie können wir uns also in Zeiten des Schmerzes und der Angst zur Dankbarkeit gelangen? Ich denke, das ist eine der Praktiken, die wir für die Friedensbewegung brauchen.
Es geht um eine Haltung: Wenn man immer nach dem sucht, was fehlt, nach dem, was noch nicht da ist, dann ist das der lineare Verstand, der männliche lineare Verstand, und auch der weiße Weg der Dominanz, der lautet: „Das reicht noch nicht, deshalb müssen wir beten …“, „Das reicht noch nicht, du musst mehr leisten …“, Anstrengung, Anstrengung, Anstrengung ...
Und der indigene Weg ist, dankbar zu sein für das, was ich jetzt habe. Stellen Sie sich vor, wir machen eine frühmorgendliche Meditation, bei der wir unseren ganzen Körper, alle unsere Sinne, alles, was wir haben, durchgehen und ihnen die Aufmerksamkeit der Dankbarkeit schenken. Aber nicht „Oh, danke, Gott“, ich meine echte Dankbarkeit. Wie würde ich ohne das sein? Dann werden wir sofort von einer inneren Quelle der Dankbarkeit erfüllt, die erstaunlich ist. Und an diese Quelle der Freude wende ich mich in Momenten des Schmerzes. Und nicht nur in Momenten des Schmerzes. In jedem Moment. Ich bin hier, deshalb verdiene ich Liebe.
Ich glaube, wir Menschen im Westen sind so sehr von unserem Körper und von dem, was Sie sagen, abgekoppelt, dass die Menschen denken, Dankbarkeit sei eine Verpflichtung wie „Danke“ sagen, und sie können sie nicht wirklich fühlen. Ich verstehe, was Sie meinen, denn ich war depressiv und hatte eine Therapeutin, die mir half, echte Dankbarkeit zu empfinden. Ich erinnere mich, dass es mir geholfen hat zu sehen, was passiert, wenn Menschen ein lächelndes Baby oder ein süßes Tier sehen und dann anfangen zu lächeln, diese Freude, die einfach da ist, grundlos und rein. Aber für westliche Menschen ist es sehr schwierig, sich mit dieser Art von Freude zu verbinden, und deshalb glaube ich, dass wir mehr Stimmen aus indigenen Kulturen hören müssen, damit diese uns wieder etwas über die Magie des Lebens lehren, von der wir völlig abgekoppelt sind.
Sie haben völlig Recht. Die westliche Kultur, der globale Norden, der auch die dominierende Kultur auf der ganzen Erde wurde, kommt von diesem Ort. Zuallererst ist das die Manifestation der Unterdrückungssysteme.
Deshalb ist für mich die Heilung der Weißen die erste Notwendigkeit für den globalen Frieden — sie aufzuwecken, ihnen zu sagen: „Hey, seid keine Sklaven des Systems.“
Wenn man sich in der Welt umschaut, wollen viele Menschen so leben wie im globalen Norden oder wie in den westlichen Ländern. Aber genau das ist eine Illusion. Ich meine, allein in Deutschland, wie viele Menschen leiden an Depressionen? Jede Stunde (2) begeht ein deutscher Mensch Selbstmord. Diese Fakten kennen wir nicht.
Und wir bringen sie nicht mit dem System in Verbindung.
Nein, wir tun so, als ob die Person ein Versager wäre, aber die Person ist ein Spiegel des Systems. Wir müssen zu den Gefühlen zurückkehren: Das System ist daran interessiert, dass wir nicht fühlen. Und wenn ich über das System spreche, dann spreche ich nicht über den Staat Deutschland, ich spreche über 7.000 Jahre Patriarchat, und ich spreche über Kolonialismus, über Kapitalismus, über White Supremacy (3). Das sind die Systeme der Unterdrückung.
Es ist also von Interesse für die Unterdrückungssysteme, dass wir nicht fühlen. Wenn wir fühlen würden, würden wir dann akzeptieren, was geschieht? Nein. Es ist also für die Unterdrückungssysteme wichtig, dass wir mit einem verschlossenen Herzen durchs Leben gehen.
Und dass wir die Ablenkungen des oberflächlichen Glücks haben. Sie verkaufen es als Freude, aber das ist es nicht.
Eben. Und jeder Mensch, der zu seiner inneren Stimme erwacht, ist gefährlich für das System. Das war das erste, von dem man uns alle, nicht nur in der westlichen Welt, abschnitt. Man unterbrach die Verbindung zu uns selbst. Zwischen dem inkarnierten Körper und der inneren Stimme. Was sagt mein Bauchgefühl, meine Intuition? Was fühle ich?
Die Menschen in Ihrem Stamm, in dem Sie geboren wurden, sind also auch abgetrennt, auch wenn sie auf indigene Weise leben?
Ja, teilweise. Einige von ihnen leben immer noch ein sehr verbundenes Leben.
Und wie haben Sie diese Quelle innerer Freude wiedergefunden und sind zur Friedensaktivistin in einem Konfliktgebiet geworden?
Nun, ich wuchs auf und erkannte, dass alle Identitäten, in die ich hineingeboren wurde, nicht willkommen sind. Und dennoch spürte ich die Freude, die Liebe und die überwältigende Güte in mir.
Welche Identitäten meinen Sie? Vorhin sagten Sie „White Supremacy“, aber ich habe den Eindruck, dass wir, die Menschen in Europa, oft nicht verstehen, was genau damit gemeint ist.
Ich wurde in einem weiblichen Körper geboren und habe zwei Brüder. Einer ist zwei Jahre älter als ich, und der andere ist eineinhalb Jahre jünger. Ich war also in der Mitte, und als ich aufwuchs, konnte ich sehen, dass alles, was für meine Brüder erlaubt war, für mich nicht erlaubt war. Ich habe gefragt, warum? Und mir wurde immer gesagt: „Weil du ein Mädchen bist.“ So verstand ich, dass die erste Identität, die ich hatte, nicht so willkommen war, dass sie zweitrangig war.
Und dann wurde mir bewusst, dass ich in einen indigenen Stamm hineingeboren wurde, während alle um uns herum, die Bauern und die Menschen in der Stadt — ich spreche von Palästinensern, meinem Volk — auf die indigenen Menschen herabblicken, weil alle diesem Plastik-Traum des globalen Nordens folgen wollen, modern zu werden, meinen eigenen Fernseher zu haben, meine eigene Waschmaschine, meins, meins, meins ... Und das Leben in den Stämmen ist einfacher, erdverbundener, naturverbundener. Sie schauten auf uns herab. Wir hatten auch einen eigenen Dialekt, eine andere Art zu sprechen. Sie unterscheidet sich vom Rest des Arabischen. Ich musste also meinen Dialekt verbergen, weil sie auf diesen Dialekt herabblickten.
Und dann wuchs ich auf und es gab die erste Intifada, die mich verstehen ließ, dass ich, obwohl ich in Israel lebe, Palästinenserin bin, Araberin. Als Palästinenserin wird man in der israelischen Gesellschaft als Feind betrachtet. So wird auch meine Identität als Palästinenserin, als Araberin, nicht willkommen geheißen.
Ein weiblicher Körper wird nicht willkommen geheißen, eine indigene Person wird nicht willkommen geheißen, eine palästinensische Araberin wird abgelehnt und als Feind betrachtet. Als ich später mit westlichen Menschen, Christen und Juden, in Kontakt kam, verstand ich auch, dass der Islam abgelehnt wird und dass wir uns in einer Zeit der Islamophobie befinden.
Und dann habe ich mich umgesehen und gesagt: Oh Gott, oh Gott. Ich habe mir keine dieser Identitäten ausgesucht. Ich wurde in sie hineingeboren. Und ich habe mich gefragt: Würde ich ein Opfer all dieser Identitäten sein? Würde ich es zulassen, ein Opfer dessen zu sein, wie ihr diese Identitäten sieht? Und da war diese Stimme in mir, die „Nein“ sagte.
Sie haben mich gefragt, wie ich die Freude wiedergefunden habe, aber ich habe sie nicht gefunden, sie ist zu mir gekommen.
Ich spürte einfach dieses „Nein“ zu diesen Strukturen und ein „Ja“ zum Leben.
In jedem Winkel meines Lebens. Und ich habe viel durchgemacht, elf Kriege, zweimal geschieden, vom Stamm zurückgewiesen, von meinen Gefährten in der Widerstandsbewegung zurückgewiesen, als ich für Werte der Liebe und der Gnade auch für die Israelis eintrat. Ich wurde von meinen palästinensischen Freunden zurückgewiesen, weil ich eine normale Beziehung mit den Israelis suchte, ich wurde von den Israelis zurückgewiesen, weil ich für Wahrheit und Gerechtigkeit für die Palästinenser eintrat.
Und doch sagt diese innere Stimme in mir „Liebe, Güte und Freude“ und „Sei ein Beispiel“, „Sieh nicht auf all das, was dir widerfahren ist, sondern betrachte alles mit Liebe und Freude“. Und ich bin keine Heilige. Es gibt Momente, da bin ich niedergeschlagen und bitte die Geister und Vorfahren: „Bitte wacht auf, bitte zeigt mir, führt mich in diesen Momenten, ich habe das Licht verloren, ich kann nicht mehr sehen, zeigt mir den Weg durch eure Augen.“
Und Sie stellen sich auch dem Schmerz. Sie lenken sich nicht davon ab oder verdrängen ihn.
Ich trauere. Das ist eine andere Sache: Uns wird gesagt, wir sollen uns von Traurigkeit, von Angst, von Ärger, von Wut fernhalten. Wir leben in einer Gesellschaft, in der es um Befriedigung geht. Lass dich ablenken. Stell dich nicht dem Schmerz. Die indigenen Stämme geben dem Trauern bewusst Raum. Aber sie trauern zusammen, nicht allein.
Ja, in der modernen Gesellschaft gibt es auch die Isolation. Apropos Isolation: Wie kam es, dass Sie als palästinensische Aktivistin, die von allen Gruppen um Sie herum in Ihrem Heimatland abgelehnt wurde, in nun einer Gemeinschaft leben, die ein paar Deutsche in Portugal gegründet haben?
Ich war während der zweiten Intifada schwanger und arbeitete als Krankenschwester in Jerusalem. In der Notaufnahme behandelte ich gleichzeitig Palästinenser und Israelis. Und es gab Momente, in denen ich dieses Leben in meinem Bauch spürte und den Soldaten und den palästinensischen Widerstandskämpfer ansah, die beide in zwei getrennten Betten lagen und im Krankenhauskleid einfach gleich aussahen. Ich habe sie verwechselt. Ich wusste nicht, wer wer ist. Und ich dachte: „Ich werde diesem System nicht dienen.“
Ich suchte aufrichtig nach Befreiung für mein Volk. Es waren 74 Jahre Besatzung, der letzte Stand des Kolonialismus ist der Staat Israel. Ich habe immer zwischen dem Staat Israel und dem jüdischen Volk unterschieden.
Es gibt das jüdische Volk und es gibt den Staat Israel. Es ist sehr wichtig, diese Unterscheidung zu machen, besonders für Deutschland und die westliche Welt. Da ist sofort die Angst, des Antisemitismus bezichtigt zu werden. Für mich war klar, ich liebe jüdische Menschen und ich hasse die Regierung, den Staat Israel, das Militärregime.
Ich war also auf der ernsthaften Suche nach einer Alternative zu dieser Gesellschaft des Krieges und der Gewalt. Ich durchlebte Jahre des tiefen Schmerzes, weil ich von meinem ersten Mann, dem Vater meiner Tochter, geschieden war und allein in Jerusalem lebte.
Alles um mich herum explodierte. Ich habe mein Gehör verloren. Ich musste zwei Operationen über mich ergehen lassen, um mein Gehör wiederzuerlangen. Ich musste mich schützen.
Diese tiefe Suche führte dazu, dass ich mit Tamera und den Ideen von Tamera in Berührung kam und Einladungen erhielt, dorthin zu gehen. Ich fragte mich, warum? Und warum Deutsche? Damals dachte ich, dass die Deutschen sich noch nicht genug mit ihrer eigenen Wunde des Holocausts auseinandergesetzt haben. Sie haben es verdrängt, sie waren nicht stolz darauf, Deutsche zu sein, und haben Entschädigungen an Israel gezahlt, Israel sogar mit Waffen unterstützt und geschwiegen. Einfach geschwiegen. Dieses Schweigen ist nicht in Ordnung. Und warum also Deutsche? Warum in Portugal?
Aber trotzdem war da diese Stimme in mir — dieselbe Stimme, die nach Freude ruft, die nach Versöhnung ruft — die mir sagte, ich sollte hingehen. Und ich war auch neugierig.
Also habe ich ihnen 2002 eine E-Mail geschickt, um sie zu fragen, warum sie denken, dass es gut für mich wäre, dorthin zu gehen. Und dann habe ich sie vergessen, weil mein Leben in Palästina sehr anstrengend war — ein Leben als Friedensaktivistin, als Feministin, die viele Menschen unterstützt, vor allem Frauen, um sie zu stärken, obwohl ich selbst eine alleinerziehende Mutter war. Objektiv gesehen kann ich ein Opfer sein, aber dennoch war ich eine Stütze und ein Anker für viele Menschen.
Vielleicht war dieser Aktivismus Ihr Weg, mit all dem umzugehen, ohne die Hoffnung zu verlieren. Wie Sie während des Seminars sagten: Jemand hat Ihnen einmal gesagt, als Sie sich hoffnungslos fühlten, dass Sie als Palästinenserin geboren wurden und nicht das Privileg haben, die Hoffnung zu verlieren. Und in diesem vielbeschäftigen Alltag haben Sie Tamera und Ihre E-Mail vergessen? Haben sie Ihnen nie geantwortet?
Es dauerte drei Monate, bis sie antworteten. Im Frühjahr 2003 erhielt ich eine sehr umfassende, überzeugende, detaillierte Nachricht, die mich einlud und in der es hieß: Dieses Projekt Tamera ist speziell für Menschen wie Sie, die kommen, um die Informationen zu verbreiten, die sie haben. Viele Menschen wissen nichts über Palästina und verstecken sich hinter diesem Nichtwissen, also bitte wecke ihre Herzen.
Und es war auch eine Einladung, zu erkunden, welche inneren Strukturen des Krieges ich in mir hatte. Meine erste Reaktion darauf war: „Was? Ich habe Strukturen des Krieges in mir? Ich bin eine Friedensarbeiterin“ — oder damals eine Friedenskämpferin — „Ich habe keine Kriegsstrukturen, ich bin ein Opfer.“ Es war also auch eine Einladung zu verstehen, dass der äußere Krieg in uns ruht. Deshalb drückt er sich im Außen aus.
Diese Verbindung zwischen den Mustern, die wir haben — jeder Mensch — und dem Krieg, der draußen tobt, zu finden, war eine große Entdeckung. Und ich bin immer noch in diesem Prozess. Ich kann sagen, dass meine Identität die einer „Friedensarbeiterin in Ausbildung“ ist.
Ich bin vom Sufismus geprägt, was bedeutet, dass man sein ganzes Leben lang ein Schüler ist. Das ist eine hohe Identität: Es bedeutet, immer auf der Suche zu sein, immer auf der Suche nach dem, was ich weiß und was ich nicht über mich weiß. Wenn du an den Punkt kommst, an dem du sagst: „Ich weiß, ich kann es dir sagen, ich habe die Antwort“, dann hast du deinen spirituellen Ort verlassen.
Oft sehen wir nicht, was wir alles noch nicht wissen.
Wir handeln aus dem Ego heraus.
Und dann debattieren wir mit anderen Menschen und erschaffen wieder Konflikte, statt einfach zuzuhören.
Ganz genau. Dann gibt es den Konflikt zwischen meiner Weltanschauung und deiner Weltanschauung, und dann führen wir Krieg …
… anstatt unser Weltbild zu bereichern. Hier in Tamera habe ich immer wieder gehört, dass Gemeinschaften oder Organismen, was ähnlich ist, umso stabiler sind, je komplexer sie sind. Dieses Wissen hilft uns, Menschen, die anders sind oder denken, nicht nur zu tolerieren, sondern sogar neugierig auf sie zu sein. Und deshalb ist es auch so wichtig, dass wir in Deutschland mehr andere Stimmen wie die Ihre hören, aus einer ganz anderen Kultur und Lebensweise, die uns eine andere Perspektive zeigen und unseren Blick erweitern.
Die Medien sind immer daran interessiert, uns mit unserer eigenen Weltsicht zu füttern. So glauben wir, dass dies die einzige Welt ist, die richtige. Sie unterstützen immer dieselbe Weltanschauung und wollen dich nicht mit etwas anderem konfrontieren. Wenn wir uns Mutter Erde anschauen, sehen wir, wie wichtig die Vielfalt ist. In der Natur gibt es nicht nur einen Baum, nur eine Blume, auch wenn sie die beste ist. Die Natur existiert, überlebt und gedeiht in der Vielfalt.
Wir sehen ja auch, wie der Boden abstirbt, wenn wir nur Monokulturen anpflanzen. Wenn wir keine Vielfalt in unseren Weltanschauungen haben, dann entwickeln wir Ideologien und können nicht lernen und gedeihen. Aber ich frage mich immer noch, warum die Menschen in Tamera drei Monate gebraucht haben, um Ihren Brief zu beantworten?
In Tamera öffnen sie im Frühjahr und Sommer ihre Pforten für Besucher und Gäste, für Bildungsprojekte und Seminare. Und von November bis März nehmen sie sich die Zeit für ihre interne Bildung, denn man kann nicht über etwas sprechen, was man nicht selbst praktiziert.
Wir versuchen hier, ein Modell für einen regenerativen Lebensstil zu schaffen, der im Einklang mit der Natur steht, der Vertrauen zwischen den Menschen entwickelt, und das erfordert Arbeit. Wenn man die ganze Zeit nur Menschen willkommen heißt und sein Wissen und seine Erfahrungen mit ihnen teilt, hat man keine Zeit, selbst zu lernen.
Sie hatten diesen Rhythmus, den sie sich von der Natur abgeschaut haben: Im Sommer offen für den Austausch sein und sich im Winter zurückziehen, und im Frühjahr kommen sie mit neuen Blüten wieder. Sie nahmen also meine Frage aus der E-Mail „Warum denken Sie, dass Ihr Projekt für die Friedensarbeiter an der Front in Krisengebieten wichtig ist?“ mit in die Winterruhe, um sie gemeinsam in der Gemeinschaft zu studieren und zu diskutieren, und dann schickten sie mir diesen Brief.
Wie gesagt, er war so umfassend und so überzeugend, dass er meine Neugierde weckte.
Sie fragten sich also selbst: „Was kann unsere Gemeinschaft und unser Projekt ihr bieten?“
Ganz genau. Und aus diesem Prozess, aus dieser Interaktion mit mir und später auch mit anderen Menschen aus Krisengebieten entwickelte die Gemeinschaft drei Jahre lang ein friedenspädagogisches Programm namens „Monte Cerro“, in dem sie Menschen aus Krisengebieten anboten, nach Tamera zu kommen und dort zu lernen. Und so bin ich gekommen. Ausgelöst durch diese Frage wurde in der Gemeinde ein ganzes Projekt für drei Jahre ins Leben gerufen. Als ein Experiment. Das war wie eine Antwort auf die Frage, eine Antwort auf die Bitte der Welt.
Wie oft hören wir in der westlichen Welt von den Geschehnissen im Jemen, im Sudan, in Kenia, an so vielen Orten, und wir verschließen uns vor ihnen. Und warum verschließen wir uns? Nicht, weil wir schlechte Menschen sind. Sondern weil dies über unsere individuellen Fähigkeiten hinausgeht.
Wir stehen individuell vor dem Schmerz. Und warum sollte man sich als einzelner Mensch für diesen Schmerz öffnen? Es ist also ein verständlicher Abwehrmechanismus, dass sich die Menschen nicht für den Schmerz der Welt öffnen.
Daran ist das System interessiert: „Seid getrennt, seid individuell, lebt in Kernfamilien.“ Stellen Sie sich vor, Sie leben mit anderen zusammen, und nicht nur mit anderen, Sie leben mit anderen zusammen, die an einer Lösungsperspektive arbeiten. Vielleicht ist es nicht die perfekte, vielleicht ist es nicht die ultimative, aber Sie versuchen Ihr Bestes. Sie haben also Menschen, mit denen Sie weinen und feiern können, mit denen Sie Ihre Fragen teilen können, an die Sie sich anlehnen können, und das ist die Gemeinschaft, die Zusammengehörigkeit, die Kraft der Gruppe. So kann man sich mehr erlauben, man sitzt nicht allein vor einem Bildschirm.
Unsere Mitbegründerin Sabine Lichtenfels sagt, dass wir in dem Maße auf den Schmerz der Welt schauen können, wie wir an einer Lösungsperspektive arbeiten.
Wenn Ihre Lösungsperspektive klein ist, öffnen Sie sich nur sehr wenig für den Schmerz. Wenn Sie wie in Tamera an einer globalen Lösung arbeiten, dann können Sie Ihr Herz für den ganzen Planeten öffnen. Das heißt nicht, dass Sie jedes schmerzhafte Detail betrachten müssen, aber Sie erlauben es sich, sich für das Maß zu öffnen, mit dem Sie arbeiten können und das Ihnen Integrität erlaubt. Es ist ein Training.
Wenn ich allein zu Hause am Computer arbeite, frage ich mich oft, ob es einen Unterschied macht, was wir tun, um Informationen über mögliche Lösungen und die inneren Aspekte der Friedensarbeit zu verbreiten, ob das jemand liest und ernst nimmt.
Jetzt fällt mir ein, was Sabine Lichtenfels neulich gesagt hat: ‚Wenn wir es nur mit unserem Verstand betrachten, haben wir den Eindruck, dass wir machtlos sind und keine Chance haben, diesen Wahnsinn, der in der Welt vor sich geht, zu überwinden. Aber wenn wir anfangen, uns mit unserer inneren Quelle zu verbinden‘ — von der Sie vorhin gesprochen haben —, ‚dann spüren wir dieses Vertrauen und diese Energie, dass wir es schaffen können.‘
Während ich in diesem Seminar mit dem Titel „Ein Plan zur Beendigung des Krieges“ nur von Menschen umgeben bin, denen die Welt am Herzen liegt und die etwas tun wollen, und so viel über die verschiedenen Lebensstile lerne, die Sie hier in Tamera ausprobieren — Kooperation mit Tieren, Wasserretentionslandschaft, Liebesschule — fühle ich mich ermächtigt und beantworte meine eigenen Fragen mit „ja, natürlich, es macht einen Unterschied, was wir tun“ und „ja, wir können Dinge verändern“.
Und Tamera ist noch nicht in dem perfekten Zustand, den wir uns wünschen würden. Es gibt noch eine Kluft zwischen der Gemeinschaft und unserer Vision, die wir haben. Das liegt in der Natur einer Vision. Sie ist höher. Und die Demut besteht darin, zu sagen: „Ja, wir sind in der Lage, das zu tun, wir versuchen es. Wir rufen andere Menschen zur Hilfe, weil wir nicht perfekt sind.“ Selbst in unseren eigenen Augen sind wir nicht gut genug und wir wollen besser werden. Aber nicht mit diesem Stress, mit dieser „Du musst besser werden“-Haltung.
Es geht auch um den sozialen Aspekt. Das ist das Menschlichste hier, dass die Menschen wissen, dass sie nicht verurteilt werden. Ich kann Ihre Handlungen reflektieren, aber Sie als Mensch werden nicht verurteilt. Ich kann Ihr Handeln kritisieren, aber ich sage nicht, dass Sie nicht geliebt werden. Das ist ein wichtiger Teil, der soziale Aspekt in der Friedensarbeit. Es mangelt uns nicht an Wissen über Technologie, Ökologie, Wasser ... So viele Projekte sind entstanden — und dann an der menschlichen Komponente gescheitert. Das Wichtigste, um das wir uns kümmern müssen, ist der menschliche Aspekt.
Was bringt uns dazu, unsere Herzen zu verschließen, und was bringt uns dazu, unsere Herzen zu öffnen? Möge dies die einzige Frage bei jeder Handlung sein, die wir tun. Schafft sie Vertrauen, erzeugt sie Liebe? Wenn ja, nur zu. Wenn nicht, dann nicht. Das ist eines der wichtigsten Dinge, an denen wir in Tamera arbeiten, um Vertrauen zwischen den Menschen zu schaffen.
Fühlen Sie sich manchmal entmutigt, wenn Sie sehen, dass es trotz all der Menschen, die ihr Leben und ihre Arbeit der Friedensarbeit und dieser Gemeinschaft widmen, immer noch so viele Kriege gibt und so viele Menschen leiden?
Ich möchte Ihnen eine kurze Geschichte aus der indischen Mythologie erzählen. Ich habe sie als junges Mädchen gehört und so sehr daran geglaubt, dass sie immer mein Herz berührt hat:
In einem Wald brach plötzlich ein großes Feuer aus. In diesem Wald lebten alle Tiere, die Großen, die Kleinen, Vögel, Schlangen, Krabbeltiere, Vierbeiner. Als das Feuer ausbrach, rannten alle Tiere zum Fluss und überquerten ihn auf die andere Seite. Alle, der Elefant, der Tiger, die Schnellen und die Langsamen, retteten sich auf die andere Seite.
Ein sehr kleiner Vogel sah das Feuer ebenfalls und begab sich zum Fluss. Er nahm einen Tropfen Wasser in seinen Schnabel und flog zurück zum Feuer und ließ ihn fallen, und er flog wieder zum Fluss, um einen weiteren Tropfen Wasser zu holen und zurück in den Wald zu fliegen, und noch einen, und noch einen. Das Vögelchen war erschöpft, aber es machte immer weiter.
Und dann sah eines der anderen Tiere es von der anderen Seite und fragte: „Was machst du da? Glaubst du, dass du mit deiner kleinen Aktion dieses riesige Feuer löschen kannst?“ Der Vogel nahm es ihm nicht übel und antwortete nicht: „Ihr hättet mehr Wasser mitbringen können.“ Er sagte: „Das ist, was ich kann.“ In diesem Moment hörte die Göttin die Stimme des Vogels und weinte, und ihre Tränen löschten das Feuer.
Das bedeutet also: Tu, was du tun kannst. Gib nicht anderen die Schuld, sei ein Beispiel. Vielleicht werden einige Menschen kommen und sich dir anschließen. Wisse, dass es im Leben einige Kräfte gibt, die auf dein Handeln reagieren werden. Die Göttin kann alles sein, woran wir glauben. Wisse, dass das Leben selbst vom Leben gewollt ist. Liebe wird vom Leben gewollt. Vertrauen wird vom Leben gewollt. Das Gute wird vom Leben gewollt. Und wisse, dass du, wenn du ihnen dienst, von anderen helfenden Kräften unterstützt wirst.
Ich habe die Erfahrung gemacht, dass ich mich sofort besser fühlte, sobald ich etwas in meinem kleinen Rahmen tat. Als ich mich wegen der Sinnlosigkeit unserer Konsumgesellschaft depressiv fühlte, sah ich keine Perspektive. Doch seitdem ich tue, was ich kann, zum Beispiel auf meine Gedanken und Stimmung achte, lese und mich weiterbilde, schreibe, zwischen den Kulturen übersetze oder einfach freundlich zu anderen Menschen bin, und mich überwiegend vegan ernähre, spüre ich das Vertrauen, dass wir etwas tun und verändern können. Ich fühle diese Freude von innen heraus, die Sie am Anfang beschrieben haben.
Und seither lerne ich auch immer mehr Menschen kennen, die sehr aktiv sind, und entdecke größere Projekte wie hier in Tamera. Menschen, die ständig an der Transformation zu einer friedlichen Welt und an der Regeneration der Natur arbeiten, von denen ich vorher einfach nichts gewusst habe. Der deutsche Dichter Hölderlin sagte: „Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch.“
Wenn Sie über das Retten sprechen, erinnert mich das an einen Punkt, der für mich sehr wichtig ist, den ich vor allem mit weißen Menschen kommunizieren möchte: In der westlichen Welt sind die Guten oft motiviert, andere Menschen zu retten. Ich würde als indigene Stimme sagen: Nein, ihr braucht uns nicht zu retten. Ihr müsst euren eigenen Lebensstil ändern, der uns und euch selbst schadet. Rettet uns nicht.
Wir haben genug Wissen, um uns selbst zu retten. Indigene Völker auf der ganzen Welt sind die wichtigsten Hüter von Land, die wichtigsten Hüter von Ritualen, von Wissen, von Zeremonien, von einer Lebensweise, die regenerativ ist. Aber euer Lebensstil des Konsumierens schadet. Also ändert ihn. Ändert euren Traum. Ihr müsst euch nicht ändern, um uns zu retten, ihr müsst euch ändern, weil ihr auch euch selbst schadet.
Es stimmt, Europa ist ein so kleiner Kontinent und die Menschen hier denken, dass sie durch Reisen und die Medien wissen, wie die Welt ist, aber wir wissen gar nichts. Wir merken nicht einmal, dass unser Weltbild nur von weißen westlichen Autoren geprägt ist.
Wir können uns nicht einmal vorstellen, dass es afrikanische Autoren gibt, Frauen, die über ihr Leben in den verschiedenen Ländern dieses riesigen Kontinents schreiben. Oder asiatische Autoren. Kennen wir überhaupt Literatur aus asiatischen Ländern außer Japan? Wissen wir, wie die Menschen in Angola, Tansania oder Eritrea, in Usbekistan oder Kirgisistan leben? Das ist auch ein Aspekt der White Supremacy, über die wir vorhin gesprochen haben. Deshalb bin ich froh, dass Sie jetzt mit uns sprechen, denn am Ende können Stimmen aus anderen Kulturen wie die Ihre vielleicht uns retten und helfen.
Ich will euch nicht retten. Ich möchte euch aufwecken und sagen: „Ich brauche euch.“ Auch für meine eigene Heilung. Wir brauchen uns alle gegenseitig. Wir sind alle miteinander verbunden. Deshalb ist es wichtig, dass weiße Menschen verstehen, dass ihre Heilung nicht nur privat, sondern auch politisch ist.
Aida AL-Shibli ist eine palästinensische Beduinin aus Shibli, einem Dorf nördlich des Berges Tabor, zwischen Nazareth und Tiberias. Seit 2007 lebt sie in der Friedensforschungsgemeinschaft Tamera in Portugal und bezeichnet sich selbst als palästinensische Aktivistin, Ökodorf-Mitarbeiterin und Mutter.
Aida AL-Shibli in ihrem Wohnmobil in Tamera, Portugal
Rubikon-Autorin Elisa Gratias und Aida AL-Shibli in ihrem Garten in Tamera, Portugal
Hier können Sie das Buch bestellen: als Taschenbuch oder E-Book.
Quellen und Anmerkungen:
(1) Konflikte, die Aida AL-Shibli miterlebte: Jom-Kippur-Krieg (Oktober 1973), Palästinensischer Aufstand im Südlibanon (1971 bis 1982), Libanonkrieg (1982), Südlibanon-Konflikt (1985 bis 2000), Erste Intifada (1987 bis 1993), Zweite Intifada (2000 bis 2005), Libanonkrieg (Sommer 2006), Gaza-Krieg oder Operation Gegossenes Blei (Dezember 2008 bis Januar 2009), Operation Wolkensäule (November 2012), Operation Schutzlinie (Juli bis August 2014), Israel-Gaza-Konflikt (Mai 2021)
(2) statista: „Im Jahr 2020 haben sich deutschlandweit 9.206 Menschen das Leben genommen und somit rund 160 mehr als im Vorjahr. Die Selbstmordzahlen halten sich dabei in den letzten zehn Jahren auf einem relativ konstanten Niveau zwischen der 9.000er und 10.000er-Marke. Der Langzeittrend hingegen zeigt eine deutliche Abwärtsbewegung: so hat sich die Summe der Suizide seit Beginn der Achtzigerjahre nahezu halbiert.“
(3) Englisch für „weiße Vorherrschaft“ oder „Überlegenheit der Weißen“, Wikipedia