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Die „Musterrede“ des Netzwerks Friedenskooperative zum Thema Syrien steckt voll irreführender Behauptungen.
Das Netzwerk Friedenskooperative mobilisiert und berichtet zu den Ostermärschen, die heuer schwerpunktmäßig vom 18. bis 20. April stattfinden. Ein wichtiges Thema dabei dürfte oder sollte der Krieg um Syrien sein. Das Netzwerk Friedenskooperative hat zum Thema „Macht Frieden in Syrien“ sogar eine Musterrede für die Ostermärsche veröffentlicht (1). Der Autor dokumentiert zunächst diese „Musterrede“ und kommentiert dann diesen Text, den er in weiten Teilen für katastrophal hält.
Musterrede zum Thema Syrien
Liebe Freundinnen und Freunde,
mehr als 400.000 Tote und 11 Millionen Menschen auf der Flucht sind die traurige Bilanz nach acht Jahren Krieg in Syrien. Weit mehr als 20 Staaten sind direkt oder indirekt am Konflikt beteiligt. Mehr als 200 bewaffnete Gruppen kämpfen in wechselnden Konstellationen mit- und gegeneinander.
Seit acht Jahren herrscht die Gewalt in weiten Teilen Syriens. Die Zivilbevölkerung, insbesondere Kinder, sind die Leidtragenden dieses langwierigen und komplexen Krieges: etwa 7.500 Mädchen und Jungen wurden, laut eines Berichts der Vereinten Nationen, verstümmelt und getötet. Diese Kinder starben durch Fassbomben, Streubomben und Folter. Fast 3.400 Kinder wurden zwischen 2013 und 2018 im Syrienkrieg als Soldaten eingesetzt. Das Ausmaß der Gewalt gegen Wehrlose und Unschuldige ist an Grausamkeit kaum zu überbieten.
Dass die Gewalt noch lange kein Ende gefunden hat, zeigen das Verschwinden zweier Männer in Damaskus und an der libanesisch-syrischen Grenze. Sie waren während des Krieges nach Deutschland geflüchtet und im letzten Jahr mit finanzieller Unterstützung deutscher Behörden freiwillig in ihre Heimat Syrien zurückgekehrt. Diese Beispiele zeigen, dass Syrien nicht sicher ist.
Wie passt das zusammen? Auf der einen Seite werden Geflüchtete ermutigt nach Syrien zurückzukehren, indem man sie finanziell unterstützt. Auf der anderen Seite beschließt der Bundestag den Bundeswehreinsatz in Syrien bis Ende Oktober 2019 fortzusetzen. Das darf nicht sein!
Mit den Tornados, die weiter Aufklärungsflüge unternehmen sollen, mit der Luftbetankung von Bomberflugzeugen beteiligt sich die Bundeswehr an einem Kriegseinsatz — an einem Krieg, der immer offensichtlicher Völkerrecht bricht. Es geht um strategische, um politische Interessen.
Anders lassen sich auch die deutschen Waffenexporte an die Türkei nicht erklären. Mit deutschen Panzern führten türkische Truppen die Invasion gegen die Kurden in Afrin durch. Nun stehen deutsche Panzer wieder an der syrischen Grenze bereit. Der türkische Präsident droht seit Monaten mit einem weiteren völkerrechtswidrigen Einmarsch und damit militärisch gegen die Kurden in Syrien vorzugehen.
Mit der militärischen Beteiligung Deutschlands nehmen wir zivile Opfer in Kauf. Wir nehmen in Kauf, dass wir als Aggressoren wahrgenommen werden. Wir nehmen in Kauf, dass sich dadurch das Feindbild des aggressiven Westens weiter verfestigt. Wir nehmen in Kauf, dass terroristische Organisationen gerade dies zur eigenen Legitimation und zur Rekrutierung neuer Kämpferinnen und Kämpfer nutzen. Wir nehmen in Kauf, dass unser Militäreinsatz, der den Terrorismus doch eigentlich bekämpfen soll, genau das Gegenteil bewirkt.
Zudem müssen die Sanktionen der USA und der EU gegen Syrien beendet werden. Die Sanktionen werden als die kompliziertesten und weitreichendsten Sanktionsmaßnahmen bezeichnet, die jemals verhängt wurden. Nichtregierungsorganisationen werden an der Ausübung ihres humanitären Auftrages behindert. Die Leidtragenden sind die Syrer und Syrerinnen.
Die Gewalt in Syrien muss endlich ein Ende haben! Dies gelingt nicht, indem man sich militärisch am Krieg beteiligt. Sondern indem Deutschland Verantwortung übernimmt, wenn es darum geht, Friedenslösungen für Syrien und den Irak zu unterstützen. Doch es kommt auf die Mittel und Methoden an. Wir sind überzeugt: Nicht durch den Aufbau militärischer Fähigkeiten und internationale militärische Interventionen, sondern allein durch den Aufbau und die Förderung ziviler Kompetenzen können Krieg und terroristische Gewalt nachhaltig überwunden werden. Frieden durch friedliche Mittel muss Ziel und Weg deutscher Außen — und Sicherheitspolitik sein.
Es darf nicht sein, dass unter dem Vorwand der Bekämpfung des IS das Völkerrecht und sein Gewaltverbot zur militärischen Durchsetzung globalstrategischer Interessen gebrochen wird. Das Kriegsleiden der Menschen in der Region muss beendet werden. Dazu wären neben einer Überprüfung der Sanktionen vor allem Maßnahmen der humanitären Hilfe, der Entwicklungshilfe und der Aufbau der dazu nötigen diplomatischen Beziehungen wichtig.
Auch dafür gehen wir heute auf die Straße!
Vielen Dank
Netzwerk Friedenskooperative, 26. März
Kommentar
Es „herrscht“ also „die Gewalt in weiten Teilen Syriens“. Es wird nicht direkt gesagt, wer für die Gewalt verantwortlich ist. Angesichts der jahrelangen Hetze des Westens gegen das Assad-„Regime“ ist dies nicht nur eine Schwäche des Textes, sondern elender Opportunismus.
Fassbomben
Es kommt aber noch schlimmer. 7.500 Kinder „starben durch Fassbomben, Streubomben und Folter“. Auch hier wird vermieden, die Verantwortlichen zu nennen. Da aber die Medien des westlichen Imperialismus die Verantwortlichen schon lange im syrischen Regime ausgemacht haben und die Friedenskooperative dieser Propaganda nicht entgegentritt, liegt es nahe, wer gemeint ist.
So behauptete Human Rights Watch (HRW) schon vor sechs Jahren, dass „der Einsatz von Streubomben in Wohngebieten durch syrische Regierungstruppen (…) zu immer mehr zivilen Opfern“ führe (2). Human Rights Watch ist eine zwielichtige Organisation, die 1978 in New York ursprünglich als Helsinki Watch gegründet wurde, um die Sowjetunion zu überwachen. Vor zehn Jahren flog auf, dass HRW als angeblich neutral geltende Menschenrechtsorganisation unter fraglichen Umständen in Saudi-Arabien Geld gesammelt hat (3). Vor fünf Jahren kritisierten die beiden Friedensnobelpreisträger Adolfo Pérez Esquivel und Mairead Maguire die US-Nähe der Organisation. HRW würde die Militärpolitik der USA beschönigen und Regierungspersonal der USA aus dem Bereich Außenpolitik in sein Führungsgremium aufnehmen.
Vor vier Jahren wurde dann berichtet, dass HRW Bildnachweise fälscht (4):
„Ein Bild, welches Human-Rights-Watch-Direktor Kenneth Roth verbreitete, solle den Einsatz von durch die syrische Assad-Regierung beziehungsweise deren Militär aus Hubschaubern abgeworfene ‚Fassbomben‘ gegen die eigene Bevölkerung in Aleppo/Syrien zeigen. Tatsächlich handelte es sich bei dem Bild offenbar um eine Drohnenaufnahme aus dem Gaza-Streifen, welche die Schäden des israelischen Bombardements zeigt und aus einem Videobericht der dänischen Fernsehstation DR Nyheder entnommen ist. Die Existenz dieser immer wieder von den USA angesprochenen sogenannten Fassbomben wird übrigens von der syrischen Regierung bestritten.“
Viel von der brutalen Propaganda gegen die syrische Regierung, darunter auch die Fassbomben-Erzählung, stammt von der „Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte“, die zum Beispiel die Süddeutsche Zeitung als „ominös“ bezeichnet, also gemäß Duden als bedenklich, zweifelhaft und berüchtigt (5). Auch wir vom Forum solidarisches und friedliches Augsburg haben immer wieder auf die Quellen und den Zweck der Fassbomben-Propaganda hingewiesen (6).
Das Netzwerk Friedenskooperative unterstellt damit also der syrischen Regierung auf der Basis westlicher Medienhetze und zweifelhafter Quellen indirekt, die eigene Zivilbevölkerung und Kinder zu massakrieren und bietet diese ungeheuerliche Aussage auch noch als „Musterrede“ zu den diesjährigen Ostermärschen an. Es bleibt dringend zu hoffen, dass die Aktionen vor Ort besser differenzieren und das Bild vom „Schlächter Assad“ als kriegsbegründendes Motiv entlarven.
Folter
So ist es auch mit der Behauptung der Folter in Syrien so eine Sache. Dass der IS und andere Terroristen Folterknechte sind, weiß man. Da aber die Friedenskooperative es vermeidet, die Folterer zu benennen, trifft dieser Vorwurf natürlich vor dem Hintergrund der Medienpropaganda auch die syrische Regierung.
Im Jahr 2014 kommt die WELT mit einer Überschrift heraus „Assads Folterkammern sind die Hölle“ (7). Auf welcher zweifelhaften Basis diese Behauptungen stehen, gibt das Blatt dankenswerterweise im Artikel gleich selbst preis:
„Nur mit viel Glück hat er die unmenschlichen Verhältnisse und wochenlange Folter überlebt. Mit ‚Fotos‘ meint Jabri die erschreckenden Bilder, die weltweit für Entsetzen sorgten. Sie zeigen mit Blut befleckte Leichen, deren Oberkörper mit tiefen, roten Striemen übersät sind und Strangulierungsmerkmale am Hals aufweisen. Insgesamt sind es 55.000 Fotos von 11.000 Opfern, die das syrische Regime auf dem Gewissen haben soll.
Ein Deserteur will das Material aus Syrien herausgeschmuggelt haben. Es wurde von einer Untersuchungskommission auf seine Echtheit überprüft. Ihr Vorsitzender, Sir Desmond de Silva, ehemaliger Chefankläger am Spezialgerichtshof in Sierra Leone, behauptete: ‚Wir sind überzeugt, dass diese Dokumente echt sind und jedem Gericht standhalten.‘ Wenige Tage nach der Veröffentlichung des Materials, das Syrien der systematischen Folter und Ermordung von Gefangenen bezichtigt, waren jedoch Zweifel an seiner Authentizität aufgekommen.
Die Londoner Anwaltskanzlei Carter-Ruck und Co., die als Erste die Dokumente sichten konnte und die Untersuchung initiierte, wurde von Katar dafür bezahlt. Das Emirat vom Golf ist, neben Saudi-Arabien und Kuwait, einer der wichtigsten Financiers der syrischen Opposition.
Zu den Klienten von Carter-Ruck und Co. sollen der türkische Premierminister Recep Tayyip Erdoğan, die Islamische Hilfsorganisation (IHH) sowie einige konservative Geistliche aus den Golfstaaten gehören. Sie alle sind Fürsprecher der syrischen Rebellen.“
Kindersoldaten
Weiter klagt die Musterrede der Friedenskooperative an: „Fast 3.400 Kinder wurden zwischen 2013 und 2018 im Syrienkrieg als Soldaten eingesetzt.“ Das ist entsetzlich. Aber von wem wurden sie eingesetzt? Mit Sicherheit nicht von der syrischen Armee; dagegen stehen eindeutige Vorschriften, ab welchem Alter rekrutiert werden darf. Die Formulierung bei der Friedenskooperative, die Kinder seien „als Soldaten eingesetzt“ worden, legt aber genau das nahe — alle anderen an Kämpfen in Syrien Beteiligten werden in der Regel nicht als Soldaten bezeichnet, sondern als Kämpfer et cetera.
Die Süddeutsche würde Assad mit Sicherheit nicht schonen, wenn sie etwas Diesbezügliches gegen ihn in der Hand hätte. In ihrem Artikel „Kindersoldaten für den Gotteskrieg“ sprach sie durchgängig nur von Gotteskriegern, die Kinder einsetzen (8). Die ARD brachte 2013 im Mittagsmagazin einen Beitrag über Kindersoldaten in Syrien (9). Im Text unter dem Video heißt es:
„Erst 15 Jahre alt und schon an der Front: Viele junge Syrer haben für den Kampf um ihr Land ihr Spielzeug gegen Waffen getauscht. (…) Für über 2,2 Millionen syrische Kinder ist die unbeschwerte Kindheit vorbei. Sie wurden aus ihren Häusern vertrieben und suchen Schutz in überfüllten Flüchtlingslagern. (…) Doch hinter dem Schulzelt herrscht die Gewalt. Statt Vokabeln zu lernen beschäftigen sich junge Schüler mit der Handhabung von Pistolen und anderen Waffen. Sie kämpfen um ihr Land und für eine Rückkehr in die Heimat.“
Im Video selbst hört man:
„‚Freies Syrien‘ kann man hier im syrischen Grenzlager Bab al-Salam überall lesen. Ein paar Meter weiter findet sich die Türkei, seit ein paar Monaten sind die Grenzen geschlossen. Weiter können sie nicht flüchten, deshalb bleibt für viele Jugendliche nur noch die Flucht nach vorne in den Krieg. (…) Akil ist zwölf. Er will in den Krieg ziehen. ‚Wann?‘ fragen wir ihn. ‚Jetzt, je eher desto besser. Ich werde mit der Armee gemeinsam bis zum Tod kämpfen. Wir werden für unser Land kämpfen.‘ Er war schon im Krieg, vor ein paar Wochen kam er zurück, noch nicht volljährig.
Doch Muhammad war nicht der Jüngste, der eine Waffe trug. ‚Sie sind 15, 16 Jahre alt. Sie kämpfen an der Front. Aber in diesem Alter wird man noch nicht an der vordersten Front eingesetzt, sie helfen den erprobten Kämpfern.‘ Nur noch wenige Kinder spielen mit Murmeln, viele haben die Glaskugeln inzwischen gegen Waffen eingetauscht. Muhammad nimmt uns mit ins Zelt, er will uns etwas zeigen. Sein wichtigster Besitz sind nicht die Blechtöpfe an der Zeltwand, es ist seine Pistole, ausgeteilt von der Brigade der Freien Syrischen Armee (…)“.
Fast bis zum Schluss lässt einen das Video also im Unklaren, für wen die Kinder kämpfen (wollen oder sollen). Aber dann erfährt man, dass die Freie Syrische Armee (FSA) Waffen in Flüchtlingslagern verteilt und Kinder rekrutiert. Dies charakterisiert den Zustand der Opposition gegen die Assad-Regierung, in diesem Fall handelt es sich um den „tiefe(n) Fall der Freien Syrischen Armee“ (Deutsche Welle, 9). Ursprünglich zählte die FSA zum Lager der syrischen Assad-Opposition, inzwischen ist sie nur noch ein Deckmantel verschiedener islamistischer und radikal-islamistischer dschihadistischer Gruppen, wie es der Nahost-Referent bei der Gesellschaft für bedrohte Völker konstatiert. Zuletzt ist die FSA an der Seite der Türkei gegen die Kurden in Afrin einmarschiert (10).
Die Presse, Österreich, berichtete 2015 unter der Überschrift „Mehr als 50 Kindersoldaten in Syrien getötet“ (11):
„Seit Jänner rekrutierte die IS-Miliz demnach mehr als 1.100 Kinder, von denen 31 im Juli bei Explosionen, Kämpfen oder Luftangriffen getötet worden seien. 18 Kinder seien zudem als Selbstmordattentäter eingesetzt worden, zuletzt insbesondere gegen die kurdischen Milizen. (… )
Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) warf inzwischen den syrischen Kurdenmilizen vor, trotz eines gegenteiligen Versprechens ebenfalls weiterhin Kindersoldaten einzusetzen. Demnach hätten die Volksverteidigungseinheiten (YPG) im vergangenen Jahr 150 Kindersoldaten demobilisiert, doch würden sie zugleich weiter Mädchen und Buben unter 18 Jahren rekrutieren.“
Im Juli 2018 berichtete die Tagesschau: „Die UN-Beauftragte Gamba benennt die Schuldigen: ‚Alle Rekrutierungen haben nichtstaatliche Akteure durchgeführt (…)‘“ (12). Laut Tagesschau waren es also ausschließlich nichtstaatliche Akteure, die Kindersoldaten rekrutierten.
Im Februar dieses Jahres stellte die Caritas International fest:
„In Syrien werden tausende von Kindern als Soldaten und Soldatinnen missbraucht, die meisten vom Islamischen Staat. Doch stellenweise bedienen sich auch die Freie Syrische Armee und kurdische Einheiten sowie Pro-Assad-Gruppen der Kinder für ihre Dienste“ (13).
War Is No Excuse berichtete im April 2019 zum Thema Kindersoldaten in Syrien (14):
„Der im Juni 2014 erschienene Bericht der internationalen Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch ‚Maybe we live, maybe we die‘ belegt, dass sowohl die Freie Syrische Armee (FSA), als auch islamistische Gruppen wie die al-Nusra-Front und der Islamische Staat (IS), als auch die Volksverteidigungseinheit (YPG) und die Frauenverteidigungseinheiten (YPJ) Kinder und Jugendliche rekrutieren und im Kampf einsetzen.“
Warum also lässt die Friedenskooperative die tatsächlich Schuldigen in ihrer Musterrede wiederum offen?! Will sie den Vorwurf „Kindersoldaten“ indirekt auch gegen Assad verwenden?
Gewalt gegen Wehrlose
All die zitierten Aussagen belegen, dass „die Zivilbevölkerung, insbesondere Kinder, (…) die Leidtragenden dieses langwierigen und komplexen Krieges“ sind. In der Musterrede wird zwar nicht gesagt, dass die syrische Regierung diese Verbrechen begeht, aber der Redevorschlag legt eindeutig nahe, dass auch die syrische Regierung diese Schuld träfe. Und das ist das Schmutzige an den Formulierungen der „Friedenskooperative“: Dieser üble Verdacht gegen die syrische Regierung wird in den Raum gestellt und nicht ausgeräumt.
Darauf setzt die Friedenskooperative in ihrer Musterrede dann noch die absolute Aussage: „Das Ausmaß der Gewalt gegen Wehrlose und Unschuldige ist an Grausamkeit kaum zu überbieten.“ Auch dieser harte Vorwurf ist zweifellos zu einem Großteil auch gegen die Regierung Assad gerichtet, die laut permanenter westlicher Propaganda ja ständig Gewalt „gegen die eigene Bevölkerung“ ausübt. Doch diese pauschale Aussage, dass grausame Gewalt gegen Wehrlose und Unschuldige Syrien beherrscht, muss wiederum differenziert betrachtet werden: Dass, wer Zivilisten als menschliche Schutzschilde und Kinder als Kämpfer missbraucht, hiermit berechtigt angeklagt ist, sollte klar sein. Doch indem die Friedenskooperative dies auch gegen die syrische Regierung richtet, schließt sie sich der westlichen Kriegspropaganda an oder setzt dieser zumindest nichts entgegen — was genauso schlimm ist.
Erstens fragt sich doch jeder, der klar denken kann: Warum sollte die syrische Regierung, die ja um ihren Bestand und den Bestand des syrischen Staates kämpft, die eigene Bevölkerung gegen sich aufbringen, indem sie die Wohngebäude der Bevölkerung bombardiert, ihre Schulen, ihre Krankenhäuser, ihre Elektrizitätswerke, ihre Wasserversorgung?
Hierzu ein Auszug aus einem aktuellen Interview der Jungen Welt mit Generalmajor Hassan Hassan, Leiter der politischen Abteilung der syrischen Armee (15):
„Im Verlauf des Syrien-Krieges ist die syrische Armee dazu übergangen, öffentlich Stellung zum Kriegsgeschehen im Land zu nehmen. Öffentlichkeitsarbeit war für das Militär Syriens lange Zeit undenkbar. Sind Ihre Auftritte als Chef der politischen Abteilung der syrischen Armee vor Medienvertretern eine Antwort auf die Propaganda der Gegenseite?
Kriege werden immer auf verschiedenen Ebenen geführt. Neben militärischen und ökonomischen Mitteln nutzen die Gegner Syriens Medien als zentrales Element ihrer Kriegführung. Dabei steht dem Westen, Katar, Saudi-Arabien und der Türkei ein riesiges Imperium aus Fernsehkanälen, Radiostationen und Internetplattformen zur Verfügung. Durch einseitige und stark vereinfachende Berichterstattung wird ein verzerrtes Bild der Krise in unserem Land gezeichnet.
Mit gezielt verbreiteten Falschinformationen soll die Zustimmung der eigenen Bevölkerung für den gewaltsamen Sturz der syrischen Führung und die Zerschlagung Syriens erlangt werden. Die Menschen in Syrien wiederum sollen dazu gebracht werden, ihre Unterstützung für die Regierung und das Militär aufzugeben. Im Jahr 2013 hieß es in einem Beitrag der jordanischen Radiostation Monte Carlo Doualiya, Rebellen hätten Teile der syrischen Hauptstadt eingenommen und stießen ins Zentrum vor. Damaskus stehe kurz vor dem Fall. Ich saß zu diesem Zeitpunkt in meinem Dienstwagen auf der Viktoria-Brücke im Herzen von Damaskus und erklärte den Verantwortlichen des Senders per Telefon, das Leben in der Stadt nehme seinen gewohnten Gang.
Die Manipulation der öffentlichen Meinung beginnt bei der Sprache. Gruppen, die in unserem Land versuchen, die Regierung gewaltsam zu stürzen, werden vielfach als ‚bewaffnete Opposition‘ bezeichnet. Dieses Label vermischt jedoch zwei Konzepte, die sich widersprechen: ein militärisches und ein politisches. Während eine Opposition sich über Parteien organisiert und innerhalb der Regeln eines politischen Systems gegen die Regierung agiert, setzen sich Bewaffnete über Recht und Gesetz hinweg, um ihre politischen Ziele zu erreichen. Kein Staat der Welt würde es akzeptieren, wenn sich seine Bürger bewaffneten, mit Gewalt gegen Sicherheitskräfte vorgingen, Anschläge verübten, öffentliches und privates Eigentum zerstörten. Die Menschen in Europa sollten sich die Frage stellen, warum ihre Regierungen sich weigern, eigene Staatsbürger zurückzunehmen, die in unserem Land kämpfen. Sind diese Leute in Syrien Engel, die in ihren Heimatländern zu Terroristen mutieren?
Die Öffentlichkeitsarbeit der politischen Abteilung der syrischen Armee ist Teil der staatlichen Medien Syriens. Es ist für uns sehr schwierig, der Flut von Manipulationen in der Berichterstattung westlicher und auch arabischer Fernsehkanäle und Zeitungen über die Krise in unserem Land wirksam zu begegnen. Als kleines Land verfügen wir schlicht nicht über die finanziellen Mittel und Ressourcen, um Einfluss auf die öffentliche Debatte weltweit zu nehmen und massive Desinformationskampagnen etwa von CNN, BBC und Al-Dschasira wirkungslos zu machen. In Syrien selbst ist es uns in den vergangenen Jahren hingegen gelungen, darüber aufzuklären, wie sich die Vorgänge in unserem Land in Wirklichkeit darstellen.“
Zweitens ignoriert die Behauptung grausamer Gewalt gegen Wehrlose und Unschuldige die ganze Gewalt, der auch die syrische Armee ausgesetzt war und ist. Die bewaffneten Einheiten des syrischen Staates haben einen ungeheuren Blutzoll gezahlt für die Verteidigung des Landes und den Schutz der Bevölkerung. Dies wird hierzulande gerne übersehen beziehungsweise ignoriert. Deshalb wollen wir auch zu diesem Punkt Generalmajor Hassan Hassan kurz zu Wort kommen lassen (16):
„Bei der militärischen Bewertung der syrischen Streitkräfte wird in den Medien meist unterschlagen, dass die Armee bis zum militärischen Eingreifen Russlands Ende September 2015 vier Jahre lang weitgehend allein gegen ganze Armeen von dschihadistischen Söldnern kämpfte. Bei der Verteidigung ihres Landes gegen die von ausländischen Mächten mit Hunderten Millionen Dollar finanzierten und hochgerüsteten Terroristen wurden über 100.000 syrische Soldaten getötet. Für die Armee eines Landes von der Größe Syriens sind das nur schwer zu verkraftende Verluste. Und natürlich konnten Wehrpflichtige, die in von Terroristen besetzten Gebieten lebten, ihren Militärdienst erst nach deren Befreiung antreten. Heute ist das syrische Militär in einer viel stärkeren Position. Tatsache ist, dass gegenwärtig Kleidung und Betten für Tausende junge Männer knapp werden, die sich den Streitkräften aus allen Teilen des Landes anschließen.“
Drittens verzerrt die Aussage, dass grausame Gewalt gegen Wehrlose und Unschuldige Syrien beherrsche, die tatsächliche aktuelle Lage im größten Teil des Landes maßlos. Menschen, die vor Ort waren, berichten ganz andere Dinge. So sagte der Eichstätter Bischof Hanke, der vor kurzem erst Syrien bereiste (17):
„Ich konnte in den befreiten Gebieten problemlos reisen. Es mag, da und dort, etwa in Palmyra, noch etwas schwieriger sein. Aber Aleppo, Homs und die anderen Großstädte, da konnte ich keinerlei Gefahrenpotentiale erkennen. Natürlich ist immer noch ein Problem das von Rebellen besetzte Gebiet in Idlib.“
Leser der WELT kritisieren zum Beispiel einen reaktionären Hetzartikel gegen die syrische Regierung. Sie beschreiben in ihren Kommentaren eine ganz andere Lage. Hier nur zwei Auszüge (18, 19):
„Der Autor hat diese Länder wahrscheinlich nie bereist — sonst wüsste er nämlich, wie sicher Syrien unter Assad war. Man konnte sich frei bewegen, viele Europäer studierten in Damaskus und vieles mehr. Und solchen Ländern die westliche Demokratie aufzwingen zu wollen, ist immer kontraproduktiv. (…)“
„Lieber Assad als der Islamische Staat! So schlimm kann es ja dort nicht sein, die Internationale Messe in Damaskus war gut besucht, das Staatliche Museum hat im November wieder geöffnet (siehe Artikel in Vatikan News)!“
Verschwundene Rückkehrer
Damit die Aussage „Das Ausmaß der Gewalt gegen Wehrlose und Unschuldige ist an Grausamkeit kaum zu überbieten“ tatsächlich auch als „gegen Assad“ verstanden wird, wird eine Episode von zwei Syrien-Rückkehrern nachgeschoben, die verschwunden sein sollen — einer davon beim offiziellen Grenzübertritt, dementsprechend also unter Beteiligung syrischer Grenzer. Mit solchen Geschichten gibt die Friedenskooperative massive Propaganda weiter, wie sie zum Beispiel wiederum die WELT verbreitet (20):
„Rückkehrer verschwinden oft bereits an der Grenze**
Schmackhaft gemacht werden sollen den Europäern die Wiederaufbauzahlungen mit der Aussicht, dass damit die Voraussetzungen für die Rückkehr von Millionen syrischer Flüchtlinge geschaffen würden. Es klingt darin zugleich die Drohung an, die Aufnahmeländer auf Dauer auf der Versorgung und Integration der aus dem Land Getriebenen sitzen zu lassen — oder ihnen gar noch mehr Flüchtlinge zuzutreiben, sollten sie sich den Vorgaben des Regimes und seiner Schutzmächte nicht beugen.
Doch in Wahrheit sind nicht die Kriegszerstörungen an sich der Hauptgrund dafür, dass die Menschen vor der Rückkehr nach Syrien zurückschrecken. Entscheidend ist, dass Geflüchtete bei ihrer Heimkehr mit Verhaftung, Folter und anderen Repressalien rechnen müssen. Berichten zufolge werden Rückkehrer oft bereits an der Grenze aus Bussen geholt, um dann spurlos zu verschwinden.
Die in den Geheimknästen des Regimes betriebene Mordmaschinerie, der seit 2011 Zehntausende politisch Verfolgte zum Opfer fielen, läuft weiter auf Hochtouren. Junge Männer müssen zudem damit rechnen, dass sie sofort zum Militärdienst für die Assad-Armee eingezogen werden.“
Auf die fragwürdigen, eindeutig parteiischen Quellen für die Foltervorwürfe wurde oben bereits eingegangen. Aus welchen Quellen die genannten „Berichte“ stammen, wird natürlich nicht gesagt. Es ist beschämend für die Friedenskooperative, dass sie diese Berichterstattung bedenkenlos aufgreift — im Gegensatz wiederum zu den Lesern der WELT, die solchen Geschichten in Kommentaren zum Artikel mit Nachdruck entgegentreten.
Bundeswehreinsatz
Die Bundeswehr ist mit Aufklärungstornados und Luftbetankung von Bomberflugzeugen der US-geführten Allianz militärisch am Krieg gegen Syrien beteiligt, die Türkei fährt Panzer aus deutscher Produktion an der Grenze zu Syrien auf. Es ist richtig und wichtig, dass dies in der Musterrede der Friedenskooperative deutlich angesprochen wird. Im Antrag der Bundesregierung „Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte zur nachhaltigen Bekämpfung des IS-Terrors und zur umfassenden Stabilisierung Iraks“, der vom Bundestag am 8. Oktober 2018 gebilligt wurde, heißt es zum „Auftrag“ (21):
„Der deutsche Beitrag dient der nachhaltigen Bekämpfung des IS in Syrien und Irak und der Unterstützung der internationalen Anti-IS-Koalition durch die Bereitstellung von Luftbetankung, Aufklärung und Lagebilderstellung (insbesondere luft- und raumgestützt, auch durch die Beteiligung an AWACS-Flügen der NATO) und Stabspersonal.“
Die Rolle der Bundeswehr und den im Bundestag beschlossenen Auftrag in Syrien konkret zu benennen und zu verurteilen, ist sehr wichtig. Interessant ist auch, dass neben der FDP und den Linken auch die Grünen mit einer Ausnahme die Verlängerung des Militäreinsatzes im Bundestag im Oktober abgelehnt haben. Auch neun SozialdemokratInnen haben gegen den Antrag der Bundesregierung gestimmt (22).
Die Bundeswehr operiert von einem Luftwaffenstützpunkt in Jordanien aus. Diesen wird sie nach Auffassung deutscher Leitmedien nicht mehr aufgeben wollen, auch wenn der IS aus Syrien vollständig vertrieben ist (23). Diesen Stützpunkt in Jordanien wieder aufzugeben wird in der Musterrede der Friedenskooperative ebenso wenig verlangt wie der Rückzug der Bundeswehr aus dem Irak. Die Bundesregierung hat in ihrer Beschlussvorlage den Syrieneinsatz bewusst gekoppelt mit dem Militäreinsatz im Irak, weil sie wohl davon ausging, dass er dann leichter durchgeht. Die Ausbildung und Bewaffnung von kurdischen Peschmergas im Norden und zunehmend auch irakischer Streitkräfte im Zentralirak scheint nicht so umstritten. Die Friedenskooperative sagt in ihrem Mustertext jedenfalls nichts dazu.
Ziemlich halbseiden ist folgende Formulierung in der Musterrede: „Wir nehmen in Kauf, dass unser Militäreinsatz, der den Terrorismus doch eigentlich bekämpfen soll, genau das Gegenteil bewirkt.“ Natürlich ist richtig, dass wir, der Westen, als Aggressoren wahrgenommen werden. Wichtig wäre aber, auf die Ursachen dieses Terrorismus deutlich hinzuweisen. Was sind das für Töne: „(…) unser Militäreinsatz“ soll „den Terrorismus doch eigentlich bekämpfen“? Genau genommen war der „Terrorismus“ doch eigentlich nur ein tauglicher Vorwand, um in Syrien einzumarschieren, es zu zerschlagen und die gegenwärtige Regierung zu stürzen. Und wo dieser Vorwand „Terrorismus“ nicht gegeben war, galt es eben, ihn aufzubauen, zu finanzieren, auszurüsten … Die Bundesregierung war und ist daran eindeutig beteiligt (24).
Sanktionen
Sehr wichtig in der Musterrede ist die eindeutige Forderung nach Beendigung der weitreichenden Sanktionen der USA und der EU gegen Syrien. Man kann nur hoffen, dass diese Forderung in diesem Jahr stärker thematisiert wird bei den Osterkundgebungen. Es sieht allerdings nicht danach aus. Nach den beim Netzwerk Friedenskooperative bisher veröffentlichten Aufrufen werden die Sanktionen nur in Stuttgart und sehr deutlich im gemeinsamen Ostermarsch-Aufruf Mannheim, Heidelberg, Rhein-Neckar kritisiert (25). Angesichts des unbeschreiblichen, flächendeckenden Elends, das diese Sanktionen bei großen Teilen der syrischen Bevölkerung hervorrufen und der entsprechenden Bedeutung der Forderung nach Sanktionsaufhebung ist dies natürlich ein erbärmliches Zeichen für die deutsche Friedensbewegung.
Auch die Augsburger Friedensinitiative hat diese Forderung heuer in ihrem Aufruf aus unerfindlichen Gründen wieder fallen gelassen. Das Leiden der syrischen Bevölkerung lässt sie scheinbar unberührt. Diese Sanktionen sind kriminell und Deutschland kann und muss sie einstellen!
Zu diesem Thema führte die unabhängigen Journalistin Eva K Bartlett am 6. Februar ein Interview mit Boutros Merjaneh, einem syrischen Parlamentsmitglied (26, 27). Dazu sagt sie unter anderem:
„Während meines Aufenthalts in Aleppo traf ich mit dem unabhängigen syrischen Parlamentsmitglied Boutros Merjaneh zusammen. Als ich nach den Problemen fragte, mit denen Syrer jetzt konfrontiert sind, hob der Abgeordnete Merjaneh die kriminellen westlichen Sanktionen gegen Syrer hervor. ‚Sie haben eine harte Wirkung direkt auf die syrische Bevölkerung. Wir haben kein Öl, wir haben keinen Strom, aufgrund des Ölmangels, wir haben keine Milch für Kinder. Wir haben keine medizinische Versorgung, Ausrüstung und Ersatzteile für medizinische Geräte, wir haben keine Medikamente. Es ist also ein sehr großes Problem für syrische Zivilisten.‘ ‚Wir haben medizinische Geräte, die in den westlichen Ländern abgeschafft wurden — sie verwenden sie nicht (mehr). Sie erlauben uns nicht, Ersatzteile für diese Geräte zu bekommen.‘
Beachten Sie hierzu auch mein Interview mit Dr. Nabil Antaki aus dem Jahr 2016. Darin erklärt er, wie sich die Sanktionen auf seine Fähigkeit auswirken, ein Ersatzteil für ein einfaches Gerät zu erhalten: ‚Westliche Sanktionen haben dem syrischen Volk großen Schaden zugefügt. (…) Wenn ein medizinisches Gerät ausgetauscht werden muss, können wir es entweder wegen der Sanktionen nicht, oder wenn wir es schaffen, dauert es Monat um Monat. Zum Beispiel musste ich ein Teil meines Gastroskops ersetzen. Es dauerte eineinhalb Jahre, bis das Teil nach Syrien gebracht wurde.‘“
„Mehr Verantwortung“ — was bedeutet das?
Die Friedenskooperative verlangt in ihrer Musterrede, dass die Gewalt in Syrien endlich ein Ende haben müsse und dies nicht gelinge, indem man sich militärisch am Krieg beteiligt. Deutschland müsse Verantwortung übernehmen, wenn es darum geht, Friedenslösungen für Syrien und den Irak zu unterstützen. Das ist richtig, wenn es Sanktionsabbau und neutrale Aufbauhilfe bedeutet. Und: Natürlich darf sich Deutschland nicht militärisch am Krieg gegen Syrien beteiligen und muss seine Streitkräfte aus Jordanien und dem Irak abziehen. Zwei Dinge sind aber problematisch in der entsprechenden Passage im Text der Musterrede.
Einerseits ist dies die Forderung, dass „Deutschland Verantwortung übernimmt“, wenn es um Friedenslösungen für Syrien und den Irak geht. Mehr internationale Verantwortung Deutschlands ist seit der Rede des damaligen Bundespräsidenten Joachim Gauck auf der Sicherheitskonferenz 2014 ein viel genutzter schöner Begriff. So hat Alexander Graf Lambsdorff, Vizepräsident des europäischen Parlaments, vor zwei Jahren anlässlich eines Treffens der NATO-Verteidigungsminister „nochmal deutlich gemacht, dass Deutschland entsprechend seiner Wirtschaftskraft mehr Verantwortung im Sicherheitsbündnis übernehmen muss“ (28).
Im Oktober 2018 forderte Norwegens Ministerpräsidentin vor dem großen NATO-Manöver „Deutschland muss mehr Verantwortung übernehmen“ (29). In ihrer Neujahrsansprache formulierte die deutsche Kanzlerin: „Und wir müssen im eigenen Interesse mehr Verantwortung übernehmen“ (30). Wohl gemerkt „im eigenen Interesse“. Dies sind nur einige wenige Beispiele, in welchem Kontext Deutschlands „Verantwortung“ vorkommt. Ob man diese Einforderungen nach „mehr Verantwortung“ jedoch mit Friedenspolitik in Einklang bringen kann, ist fraglich — siehe dazu auch den Abschnitt zur humanitären Hilfe.
Andererseits richtet sich die Aussage, Aggression und Gewalt in Syrien können nicht mit militärischer Gewalt beendet werden, implizit gegen die militärische Unterstützung der syrischen Regierung durch die Russische Föderation und die Islamische Republik Iran. Diese Staaten sind aber von der syrischen Regierung um Hilfe gebeten worden, sie haben einen beträchtlichen Anteil an der Niederschlagung des IS in Syrien. Die syrische Armee, die russische Luftwaffe und iranische Einheiten haben den IS flächendeckend in Syrien geschlagen in einem jahrelangen und leider opferreichen Kampf. Der Friedenskooperative sollte klar sein, dass der hochgerüstete IS nur militärisch besiegt werden konnte. Auch die kurdischen Kräfte, die jetzt so hochgejubelt werden, haben — ebenfalls militärisch — zur Niederlage des IS beigetragen, wenn auch bei weitem nicht in dem Umfang, den sie jetzt für sich reklamieren.
Humanitäre Hilfe und NGOs
Am Schluss der Musterrede will die Friedenskooperative die Sanktionen nur noch „überprüfen“ — schon diese Formulierung bedeutet eigentlich ein eiskaltes Abwägen und entwertet die vorher geäußerte Anteilnahme am Leiden der Zivilbevölkerung in Syrien. Daneben wären „vor allem (…) Maßnahmen der humanitären Hilfe, der Entwicklungshilfe und der Aufbau der dazu nötigen diplomatischen Beziehungen wichtig“.
Diese „Maßnahmen“, die natürlich zunächst vernünftig klingen, werden aber in der Realität genau nicht dazu dienen, eine friedliche Entwicklung in Syrien zu fördern. Solange die Interessen der US-Administration und ihrer Verbündeten in der sogenannten „Kleinen Syriengruppe“ — zu der inzwischen auch Deutschland zählt —, in Syrien nicht gesichert sind, soll es eine friedliche Entwicklung nicht geben. Der Druck auf die syrische Regierung und ihre Verbündeten Russland und Iran wird aufrechterhalten. Der geostrategische Plan einer Teilung Syriens bleibt bestehen, die Methoden zu seiner Durchsetzung, wie Blockade, Sabotage und Erpressung Russlands, Irans und natürlich Syriens, werden aufrechterhalten (31).
Die Dschihadisten in Syrien wirken nun zum Teil direkt in den Vorständen und Leitungsgremien einschlägiger NGOs weiter. Man kann sich vorstellen, welchen Zwecken sogenannte Hilfsgelder des Westens dienen werden, wenn sie bei solchen NGOs landen. Die Blauäugigkeit der Friedenskooperative bei ihrer Forderung nach Maßnahmen der humanitären Hilfe Deutschlands wird einem klar, wenn man die Analyse von Karin Leukefeld (32), einer echten Kennerin des Landes, zur Kenntnis nimmt:
„Humanitäre Hilfe und mehr gibt es dort, wo die syrische Regierung keine Kontrolle hat. Das gilt für die Flüchtlingslager in den Nachbarländern Jordanien, Türkei, Irak, Libanon. Es gilt für diejenigen, die in Idlib oder östlich des Euphrat in Lagern für Inlandsvertriebene ausharren oder die als Nichtregierungsorganisation für Hilfsbedürftige arbeiten.
Stabilisierungshilfe gibt es für Verwaltung, Medien, Wiederherstellung der Infrastruktur und einiges mehr, sofern es nicht dort liegt, wo die Regierung das Sagen hat. Für Menschen, die dort leben, für diejenigen unter ihnen, die besonders hilfsbedürftig sind, gibt es Nothilfe wie Medikamente, Nahrungsmittel, Winterkleidung. Zu wenig zum Leben, zu viel zum Sterben, könnte man sagen.
Mögliche finanzielle Hilfe für den Wiederaufbau, für Ausbildung, die Schaffung von Arbeitsplätzen, für Mikrokredite und kleine Projekte der Selbstversorgung, wird an Bedingungen geknüpft. Erst müsse der politische Transformationsprozess unter Kontrolle der Vereinten Nationen stattfinden, heißt es. Vorher geht gar nichts. Doch es gibt nicht nur keine Wiederaufbauhilfe, auch die Wirtschafts- und Finanzsanktionen gegen Syrien bleiben erhalten. Dazu gehört auch, dass beispielsweise die deutsche Botschaft in Damaskus geschlossen bleibt.“
„Deutsches Wirtschaftsembargo gegen Syrien aufheben“, Ostermarsch 2016, Augsburg.
Ein kleiner Laden auf dem Srijeh-Markt in Damaskus. Die wirtschaftlichen Sanktionen gegen Syrien treffen die Armen und kleine Geschäftsleute. Das war vor sieben oder acht Jahren. Wie mag es diesen Menschen heute gehen, nach anhaltenden und verschärften Sanktionen in der ganzen Zeit. Foto: Karin Leukefeld, Hintergrund 2/2012.
Screenshot Eva K Bartlett. Syrian Independent MP on Western Sanctions: „They are directly affecting the Syrian people“, 2019.
Quellen und Anmerkungen:
(1) „Musterrede zum Thema: Syrien, Musterreden zu den Ostermärschen 2019“. Text. Netzwerk Friedenskooperative, 26. März 2019. https://www.friedenskooperative.de/ostermarsch-2019/musterreden/syrien.
(2) „Syrien: Steigende Opferzahlen durch Streubomben“. Human Rights Watch, 16. März 2013. https://www.hrw.org/de/news/2013/03/16/syrien-steigende-opferzahlen-durch-streubomben.
(3) Stein, Hannes. „Kritik an Menschenrechtsorganisation“. DIE WELT, 20. August 2009. https://www.welt.de/welt_print/politik/article4358559/Kritik-an-Menschenrechtsorganisation.html.
(4) BlauerBote. „Human Rights Watch fälscht nachweislich Bildnachweise“. Blauer Bote Magazin — Wissenschaft statt Propaganda (blog), 25. Mai 2015. http://blauerbote.com/2015/05/25/human-rights-watch-faelscht-nachweislich-bildbeweise/.
(5) London, Jonas Schaible. „Ominöse Protokollanten des Todes“. sueddeutsche.de, 26. November 2012, Abschn. politik. https://www.sueddeutsche.de/politik/syrische-beobachtungsstelle-fuer-menschenrechte-ominoese-protokollanten-des-todes-1.1522443.
(6) Der „Pianist aus den Trümmern“ zu Gast in Augsburg — Teil 1: Aeham Ahmads Entdeckung und Verwendung durch die Süddeutsche. Die tatsächliche Lage im Palästinenserlager Jarmuk, einem Stadtteil von Damaskus, 24.12.2018, Forum solidarisches und friedliches Augsburg http://www.forumaugsburg.de/s_3themen/Syrien/181224_der-pianist-aus-den-truemmern-1/index.html
Peter Feininger. „Augsburger Ostermarsch 2017. Erstmals wurde die Aufhebung der Sanktionen gegen Syrien gefordert. Die Teilnahme am Ostermarsch war ein großer Fortschritt, der Aufruf politisch eher ein Rückschritt“. Forum solidarisches und friedliches Augsburg, 22. April 2017. http://www.forumaugsburg.de/s_3themen/Antimil/170421_ostermarsch-2017/index.html.
Peter Feininger. „Beenden Sie das Aushungern des syrischen Volkes! Kommentar“. Forum solidarisches und friedliches Augsburg, 20. Juni 2015. http://www.forumaugsburg.de/s_3themen/Syrien/150620_kommentar-beenden-sie-das-aushungern-des-syrischen-volkes/index.html#sdfootnote14sym.
(7) Alfred Hackensberger. „Syrien: Assads Folterkammern sind die Hölle“. DIE WELT, 31. Januar 2014. https://www.welt.de/politik/ausland/article124384941/Assads-Folterkammern-sind-die-Hoelle.html.
(8) Gruben, Lara. „Kindersoldaten für den Gotteskrieg“. sueddeutsche.de, 23. Juni 2014, Abschn. politik. https://www.sueddeutsche.de/politik/buergerkrieg-in-syrien-kindersoldaten-fuer-den-gotteskrieg-1.2012016.
(9) ARD Mittagsmagazin. Kindersoldaten in Syrien, 2013. https://www.youtube.com/watch?v=Js1b-q3fs_E.
(10) „Der tiefe Fall der Freien Syrischen Armee“. Deutsche Welle, 3. Februar 2018. https://www.dw.com/de/der-tiefe-fall-der-freien-syrischen-armee/a-42433543.
(11) „Mehr als 50 Kindersoldaten in Syrien getötet“. Die Presse, 15. Juli 2015. https://diepresse.com/home/politik/aussenpolitik/4777877/Mehr-als-50-Kindersoldaten-in-Syrien-getoetet-.
(12) Kai Clement. „Syrien — Der Krieg gegen die Kinder“. tagesschau.de, 27. Juli 2018. https://www.tagesschau.de/ausland/bilanz-syrien-101.html.
(13) „Kinder an der Front“. caritas-international.de, 7. Februar 2019. https://www.caritas-international.de/wasunsbewegt/diskussionen/kindersoldaten-aktionstag.
(14) „Kindersoldaten in Syrien — War Is No Excuse“. Zugegriffen 1. April 2019. http://warisnoexcuse.kurdologie.de/de/startseite/kindersoldaten-in-syrien/.
(15) Florian Möllendorf. „„Jeden Zentimeter des Territoriums zurückgewinnen“. Krieg unter Einfluss von Großmächten: Syrische Regierungstruppen wehren sich gegen die Zerschlagung ihres Landes. Ein Gespräch mit Hassan Hassan“. junge Welt, 1. April 2019. https://www.jungewelt.de/artikel/352069.mittlerer-osten-jeden-zentimeter-des-territoriums-zurückgewinnen.html.
(16) Ebd.
(17) Solidaritätsreise nach Syrien: Eichstätter Bischof Gregor Maria Hanke im Interview mit Bernhard Löhlein. Bistum Eichstätt, 19.2.2019. https://www.youtube.com/watch?v=EHZg3IUtE-I.
Siehe auch unseren Artikel: http://www.forumaugsburg.de/s_3themen/Syrien/News/190406_bischof-hanke-an-der-seite-der-syrischen-bevoelkerung/index.html
(18) Richard Herzinger. „Syrien: Wie Putin und Assad den Westen erpressen wollen — WELT“. DIE WELT, 18. März 2019. https://www.welt.de/debatte/kommentare/article190418673/Syrien-Wie-Putin-und-Assad-den-Westen-erpressen-wollen.html.
(19) Richard Herzinger. „Syrien: Wie Putin und Assad den Westen erpressen wollen — WELT“, a. a. O.
(20) ebenda
(21) Bundesregierung. „Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte zur nachhaltigen Bekämpfung des IS-Terrors und zur umfassenden Stabilisierung Iraks, Drucksache 19/4719, Antrag“. DIP Dokumentations- und Informationssystem, Deutscher Bundestag und Bundesrat, 4. Oktober 2018. https://dip21.bundestag.de/dip21/btd/19/047/1904719.pdf.
(22) Siehe „Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte zur nachhaltigen Bekämpfung des IS-Terrors und zur umfassenden Stabilisierung Iraks, Beschlussempfehlung und Bericht des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Bundesregierung, Tagesordnungspunkt 11 a), Deutscher Bundestag, Plenarprotokoll 19/58“. DIP Dokumentations- und Informationssystem, Deutscher Bundestag und Bundesrat, 18. Oktober 2018. http://dipbt.bundestag.de/dip21/btp/19/19058.pdf.
(23) So zum Beispiel die WELT: „Bundeswehr wird in Jordanien heimisch“. DIE WELT, 15. Januar 2018. https://www.welt.de/print/die_welt/politik/article172475586/Bundeswehr-wird-in-Jordanien-heimisch.html.
(24) u. a. Hannes Heine. „Bundesregierung hilft Idlib-Rebellen in Syrien“. Der Tagesspiegel, 30. Oktober 2018. https://www.tagesspiegel.de/politik/49-millionen-euro-fuer-assad-gegner-bundesregierung-hilft-idlib-rebellen-in-syrien/23247768.html.
(25) Siehe https://www.friedenskooperative.de/ostermarsch-2019/aufrufe
(26) Wir bringen hier eine Übersetzung des englischen Textes von Eva Bartlett, den sie unter das Video bei YouTube setzte:
Eva K Bartlett. „Syrian Independent MP on Western Sanctions: ‚They are directly affecting the Syrian people‘“. YouTube, 6. Februar 2019. https://www.youtube.com/watch?v=419PwNIFjuI.
(27) Eva Bartlett. „A Journalist’s Journey to the Heart of Syria. What Life’s Really like in Syria?“ American Herald Tribune, 24. Juli 2016. https://ahtribune.com/in-depth/1093-life-in-syria.html.
(28) „Deutschland muss mehr Verantwortung übernehmen“. portal liberal, 16. Februar 2017. https://www.liberale.de/content/deutschland-muss-mehr-verantwortung-uebernehmen.
(29) Matthias Brüggmann. „Erna Solberg im Interview: Norwegens Ministerpräsidentin fordert vor Nato-Manöver: ‚Deutschland muss mehr Verantwortung übernehmen‘“, 25. Oktober 2018. https://www.handelsblatt.com/politik/international/erna-solberg-im-interview-norwegens-ministerpraesidentin-fordert-vor-nato-manoever-deutschland-muss-mehr-verantwortung-uebernehmen/23222626.html.
(30) „Neujahrsansprache der Bundeskanzlerin. Merkel: Deutschland muss mehr Verantwortung übernehmen“. Der Tagesspiegel, 31. Dezember 2018. https://www.tagesspiegel.de/wirtschaft/neujahrsansprache-der-bundeskanzlerin-merkel-deutschland-muss-mehr-verantwortung-uebernehmen/23815392.html.
(31) Wir stützen uns hier und im Folgenden auf die eminent wichtige Analyse von Karin Leukefeld, die im Rubikon Ende März veröffentlicht wurde: Karin Leukefeld. „Der Krieg geht weiter. Mit fortgesetzten Propaganda-Lügen will der Westen einen wirklichen Frieden in Syrien verhindern.“ Rubikon, 28. März 2019. https://www.rubikon.news/artikel/der-krieg-geht-weiter.
(32) ebenda