Unanständige Demokratiedemonstranten
Nach dem Anschlag von München fanden sich schnell Gruppen zusammen, die gegen rechts demonstrierten. Ist Pietätlosigkeit eigentlich demokratisch?
Man kann gegen rechte Parteien auf die Straße gehen, gewiss. Gegen diese ist — je nach eigenem Standpunkt — einiges einzuwenden. Aber muss man es gerade dann tun, wenn gerade wieder ein mörderischer Anschlag stattgefunden hat — in einem Kontext, den gerade „Rechte“ immer wieder beklagt haben: Migration? Sicher ist es richtig, vor Verallgemeinerungen zu warnen. Nicht alle Einwanderer aus bestimmten Ländern sind Mörder, auch wenn sich einige von ihnen als solche erwiesen haben. Allerdings haben die „Jetzt erst recht“-Demos gegen rechts unmittelbar nach furchtbaren Messer- und Autoattentaten etwas Kindlich-Trotziges und für viele Menschen sicher auch Verletzendes an sich. Es ist ein bisschen so, als würde man auf den noch frischen Gräbern der Ermordeten gegen Maßnahmen demonstrieren, die ähnliche Morde in Zukunft vielleicht verhindern könnten. Damit überlässt man die zukünftigen Opfer, die es leider mit ziemlicher Sicherheit geben wird, quasi ihrem Schicksal. Der Autor fragt deshalb: Liebe „Antifaschisten“, kennt ihr auch so etwas wie Pietät?
Am letzten Donnerstag fuhr jemand im Münchner Stadtbezirk Maxvorstadt gezielt einen weißen Mini-Cooper in eine Menschenmenge — in eine Demonstration der Gewerkschaft Verdi, um genau zu sein. 39 Menschen wurden verletzt, später starben zwei der Opfer im Krankenhaus. Der Täter: Ein 24-jähriger Afghane. Bei seiner Festnahme rief er „Allahu Akbar“. 22 Tage waren gerade mal vergangen, seitdem ein anderer Anschlag die Republik in Atem hielt: Am 22. Januar stach ein afghanischer Asylbewerber in einem Aschaffenburger Park mit einem Messer auf eine Kindergartengruppe ein. Es gab zwei Tote, darunter ein zweijähriger Junge.
Die Frage war nicht, ob, die Frage war, wann ein nächster Anschlag in einer großen Stadt stattfinden würde. Die Kommunen wähnten sich dabei wie beim russischen Roulette. Wen würde es treffen? Ja, fast muss man davon ausgehen, dass die Menschen in Deutschland hoffen, es möge eine andere Stadt, bitte bloß nicht ihre sein, die als nächstes mit der mörderischen Gewalt auf Deutschlands Straßen konfrontiert wird.
Nach den Anschlägen und Attacken von Mannheim, Solingen und Magdeburg rührte sich aber bereits etwas im Lande: Die Bürger gingen auf die Straße — und protestierten gegen jene, die sich das Problem migrantischer Gewalt anzusprechen trauten.
Unseredemokratie und die Terroropfer
Kaum wurden Klagen laut, dass diese Gewalt als Folge des unkontrollierten Zustroms von Flüchtlingen zu betrachten sei, riefen unzählige Vereine, Organisationen und Gruppen, die gemeinhin als „Zivilgesellschaft“ tituliert werden, aber oft stark am Tropf staatlicher Fördergelder hängen, zu Demonstration gegen rechts auf.
Schließlich müsse man etwas gegen die Zustände im Land machen: Nicht gegen jene, die das Zeug dazu haben, Menschenleben auszulöschen, ja, die selbst Kinderleben ein Ende setzen. Nein, man wolle etwas gegen Menschen tun, die die Herkunft dieser Gewaltspirale thematisieren.
Denen hält man Proteste entgegen, die angeblich für die Demokratie stattfinden, wie sie selbstherrlich immer wieder betonen — und die damit unkenntlich machen wollen, dass auch die Kritik an dieser Gewalt als demokratisch legitim zu taxieren ist.
Mittlerweile hat sich das etabliert: Kaum geschieht ein solcher Terrorakt, haben Menschen ihr Leben gelassen, laufen die Teile dieser vermeintlichen „Zivilgesellschaft“ auf, um ein Zeichen zu setzen. Es ist, als warteten diese Gruppen nur darauf, dass sie diesen Grund bekommen, um wieder „ein Zeichen setzen“ zu dürfen. Dann finden die Proteste nicht nur — aber auch — in den betroffenen Städten statt, sondern überall im Lande.
Die Protestler für Unseredemokratie — wie sie sie nennen, das Possessivpronomen macht deutlich, wer sie für sich okkupiert hat oder es zumindest glaubt — und gegen rechts werfen dabei denen, die solche tragischen Ereignisse nutzen, um eine Debatte zur Migrationspolitik zu eröffnen, Instrumentalisierung der Opfer vor.
Als ob sie davor gefeit wären! Denn wenn sie auf die Straße strömen, missbrauchen sie nicht nur den Vorfall, um eine politische Agenda zu vertreten, von der sie glauben, alle müssten sie teilen — nein, sie treten das Ansehen der Opfer und ihrer hinterbliebenen und traumatisierten Familien mit Füßen.
In deren kruder Betrachtung gesamtgesellschaftlicher Prozesse werden aus den Opfern Märtyrer der Unseredemokratie — sie wurden zwar verletzt, mussten vielleicht sogar sterben, weil Freiheit nun mal diesen Preis habe. Sie sei aber immer noch besser als eine Gesellschaft, die Zuwanderung reguliert und steuert und damit ja unfrei und geradezu ein Zeichen für die dräuende Diktatur sei.
Während die Menschen, die unmittelbar von solchen Terrorangriffen betroffen sind, Tränen vergießen, um ihre Lieben beten, um ihr Leben kämpfen (während am Samstag in München protestiert wurde, starben eine Mutter und ihr zweijähriges Kind an den Folgen des Attentates) oder erstarrt sind im Schock, übergehen diese Demonstranten deren Leid, um es politisch aufzuladen.
Dabei gerieren sie sich als die Anständigen — und sind in hohem Maße das Gegenteil davon.
Pietät — etwas ziemlich Demokratisches
Wie würden dieselben Menschen, die ungeniert in solchen Momenten auf die Straße gehen, um indirekt für jene geradezustehen, die in Menschenmengen rasen oder auf Leute einstechen, es denn empfinden, wenn auf der Beerdigung eines ihnen nahestehenden Menschen jemand anwesend wäre, der unentwegt über sich spricht, zum Beispiel seine Zipperlein und Sorgen thematisiert? Wenn er ständig davon sprechen würde, wie er damals seine Tante beerdigt hatte und wie dramatisch das für ihn war? Jeder kennt solche Menschen, die ihre Umwelt über ihre eigene Egozentrik wahrnehmen. Gemeinhin sind diese Menschen nicht sonderlich beliebt, denn ihnen geht Empathie ab — und damit auch Pietät.
Zugegeben, ein aus der Mode geratenes Wort — und auch eine immer seltener werdende Einstellung. Sie leitet sich sprachlich vom Lateinischen pietas ab, was man als Frömmigkeit und Ehrfurcht, aber auch als Pflichtbewusstsein und Loyalität übersetzen würde. Wer heute pietätvoll auftreten will, der sollte angemessen reagieren, zurückhaltend sein, sich anderen oder einer Situation nicht aufdrängen, die Ruhe bewahren und für sich wissen, dass der Mittelpunkt gerade jemand anderem gebührt. Insofern ist es ein ehrfürchtiges Auftreten, weil man anerkennt, dass es etwas gibt, was für den Augenblick höher steht, als man es selbst für sich ist. Das Ich nimmt sich zugunsten anderer zurück, hat Funkstille zu halten. Wer Pietät an den Tag legt, übt sich in der Kunst, den natürlichen Egozentrismus zu dämpfen, um dem Nächsten die Geltung zu verschaffen, die ihm in einem bestimmten Augenblick zusteht.
Pietät ist insofern Sensibilität und Mitfühlen. Ein humanistischer Akt, der für eine Weile verdeutlicht: Du bist jetzt das Wichtigste; dein Anliegen, deine Sorgen, deine Trauer stehen jetzt im Mittelpunkt. Pietät ist Demut — noch so ein Wort und eine Geisteshaltung, mit dem der Zeitgeist immer weniger anfangen kann. Sich kleiner zu machen, um anderen Größe zu erlauben: Das sind zivilisatorische Mechanismen, die man dem anderen nicht einfach generös zugesteht. Fast könnte man mit Kants apriorischem Ursprung der Sittlichkeit argumentieren: Der pietätvolle Beistand, den man seinem Mitmenschen gewährt, geschieht nicht gönnerhaft, sondern zuweilen aus der eigenen Ohnmacht heraus — wenn man etwa begreift, dass man als menschliches Wesen schwach ist und dem Leben und Treiben auf Erden ausgeliefert ist, geradezu hineingeworfen. Dann steht man pietätvoll zurück, nicht weil es Konvention ist, sondern weil die Ehrfurcht einen ergreift.
Um von diesem Diskurs über Pietät wieder zur Bundesrepublik im Jahre 2025 zurückzukommen: Die sogenannte Zivilgesellschaft spricht viel von Ehrfurcht und Pietät, auch wenn sie andere Worte benutzt, griffigere Termini unserer Zeit, zum Beispiel: Respekt oder Fairness. Denn das sei die Haltung, die der Demokratie — entschuldigen Sie, Unseredemokratie natürlich — zupasskäme. Nur wer diese Werte — Unserewerte! — verinnerlicht habe, könne Demokrat sein.
Demokratiedemos als Produkt der allgemeinen Entdemokratisierung
Das steht im unmittelbaren Kontrast zum Verhalten der „Zivilgesellschaft“, die just immer dann besonders laut und aktiv wird, wenn Menschen unter Attentaten wie in Mannheim, Solingen, Magdeburg, Aschaffenburg oder kürzlich München litten oder dadurch gar aus dem Leben genommen wurden.
Den Opfern bringen die Demonstranten gegen rechts keinen Respekt entgegen, sie drängen sich ihnen und einer Gesellschaft auf, die in hohem Maße emotional verletzt ist, durch die Bilder, die sie von solchen Terrorakten vorgesetzt bekommt. Die auch verletzt ist, weil ihr dämmert, dass es jeden jederzeit treffen kann und man das eigene gesellschaftliche Leben unter Umständen einschränken sollte. Auch solche, die nun Unseredemokratie verteidigen im Antlitz des Todes:
Wie würden sie es finden, wenn sie im Krankenhaus um ihr Leben rängen, und synchron dazu instrumentalisierte die „Zivilgesellschaft“ den Todeskampf für ein Anliegen, das keinerlei Respekt vor den Sorgen und Nöten und Verletzungen zeigt, die mehr und mehr entstehen?
Niemand muss sich in einer Demokratie, so sie eine ist — wir lassen an dieser Stelle gewollt offen, wo wir uns hierzulande befinden; der US-Vizepräsident JD Vance zeigte sich aber beispielsweise skeptisch —, bis zur Unkenntlichkeit verleugnen. Das müssen auch die Zivilgesellschafter nicht. Natürlich ist deren Protest regierungskonform und regierungsnah, sie streiten nicht gegen rechts, sondern in letzter Konsequenz gegen links, um es mit Rainer Mausfeld zu sagen. Aber es ist ja auch nicht verboten, für die Regierung zu protestieren. Nur wäre es in einer funktionierenden Demokratie so: Man gibt denen, die anderer Meinung sind, auch Zeit und Raum, um sich zu sammeln und zu erklären. So lange schweigt man, hört zu — man übertönt die Erklärungen der anderen nicht. So wie man die Schmerzensschreie der Opfer auf Deutschlands Straßen nicht mit Parolen übertönen sollte.
Pietätlose Menschen, wie es die Initiatoren solcher Demonstrationen ganz offenbar sind, sind keine Menschen, die den demokratischen Diskurs verinnerlicht hätten. Denn der Respekt vor dem Anliegen der Gegenseite und der Not der Betroffenen fehlt ihnen gänzlich.
Sie sehen nur sich, ihre politische Agenda, und blenden überall dort ab, wo diese in Frage gestellt werden könnte. In solchen Momenten schreien sie so laut, dass man die Schreie der Opfer nicht mehr vernehmen kann.
Wer es derart an Respekt und Pietät mangeln lässt, wer so wenig Ehrfurcht vor anderen Menschen und ihren Bedrängnissen aufbringt, sollte nicht vom Miteinander sprechen. Dennoch tun diese Leute es, sie postulieren, dass die Gesellschaft miteinander zusammenstehen müsse. Lippenbekenntnisse — an ihren Taten kann man sie jedoch messen. Und da sieht es menschlich abgründig aus. Und demokratisch fadenscheinig noch dazu.
Die Republik ist ihrem Namen nach ein Konstrukt öffentlicher Angelegenheiten. Öffentlichkeit setzt voraus, dass jedes Anliegen seine Berechtigung und seine Zeit bekommt. Und dass man mit Zurückhaltung agiert, wenn andere sprechen oder eben ihr Leid klagen. Wer diese Passivität nicht praktiziert, hat republikanische Grundlagen nicht verinnerlicht. Der kämpft nicht für Demokratie, sondern zerstört sie, indem er sich anderen penetrant und im falschen Moment aufdrängt — und der sagt auch nicht dem Faschismus den Kampf an, sondern hat faschistische Parameter längst für sich kultiviert.