Unabhängigkeit für Katalonien?
Warum Geschichte kein Laufband ist, das schnurgerade in die Gegenwart weist.
Im ersten Teil ging es darum, in überschaubarem Umfang die katalanische Unabhängigkeitsbewegung zu beschreiben. In diesem zweiten Teil geht es darum, einem wichtigen Einwand nachzugehen.
Im ersten Teil ging es darum, in überschaubarem Umfang die katalanische Unabhängigkeitsbewegung zu beschreiben: „Kann man einen (katalanischen) Nationalismus links wenden?“
In diesem zweiten Teil geht es darum, einem wichtigen Einwand nachzugehen: Sich auf die letzten zehn Jahre zu konzentrieren, sei viel zu kurz gegriffen, um das Unabhängigkeitsbestreben in Katalonien zu verstehen, so der Einwurf.
Gehen wir also diesem Einspruch nach. Folgen wir der Geschichtsspur und fragen dann, was sie uns mehr und vor allem, was sie uns heute sagt.
Dabei werden wir auf eine Gemeinsamkeit fast aller (nationaler) Unabhängigkeitsbewegungen stoßen. Sie verweisen auf eine ganz lange Geschichte des Unabhängigkeitswillens, der Unterdrückung und der „kulturellen“ Eigenart.
Die einen gehen dabei ganz, ganz weit zurück, ins Jahr 1713/14:
„Ein entscheidender Einschnitt gegen die Selbstbestimmungsrechte von Aragon/Katalonien im spanischen Staat waren die Ergebnisse des spanischen Erbfolgekrieges (Friedensvertrag von Utrecht 1713), in dem Aragon/Katalonien auf Seiten der Habsburger stand. In diesem Friedensvertrag wurde Aragon/Katalonien den Bourbonen, die zukünftig gleichzeitig den König von Spanien stellten, zugesprochen. Die Habsburger erhielten zum Ausgleich die spanischen Besitzungen in Italien und die sog. spanischen Niederlande (…). Das britische Empire, das diesen Friedensschluss moderierte, erhielt Gibraltar, Menorca und – am Wichtigsten – von Spanien den sog. Asiento de Negros, das ausschließliche Recht des Sklavenhandels zwischen Westafrika und Amerika. Der bourbonische König Philipp V ließ Aragon/Katalonien teuer dafür bezahlen, dass es im Krieg auf der Seite der Habsburger stand. Aragon/Katalonien verlor praktisch seine gesamten Autonomierechte. Der 11.9.1714, an dem Aragon/Katalonien in Barcelona vor den Bourbonen kapitulierte, ist bis heute der Nationalfeiertag Spaniens (Diada Nacional de Catalunya).“ (Katalonien – ein Staat entsteht, Thomas Fruth, Luna Park, 2017)
Wenn das so stimmt, stellt sich die Frage: Was sagt uns das? Aragon/Katalonien stand an der Seite der „Habsburger“ und verlor. Aber für was kämpfte „Aragon“ an der Seite der „Habsburger“? Hatte das irgendetwas mit den Interessen der Bevölkerung zu tun? Was hatten die zerstrittenen Königshäuser mit dem ihnen unterworfenen Volk gemein? Wie viele sind in Aragon freiwillig in den Krieg gezogen, wie viele wurde in einen Krieg hineingezogen, der mit ihren Lebensverhältnissen nichts zu tun hatte? Haben die Menschen in Aragon freier und satter gelebt, als im Reich der Bourbonen?
Klar ist nur, dass die Herrschenden in Aragon verloren hatten und fortan bourbonischen Herrscherinteressen unterworfen waren. Ist es zu gewagt, zu behaupten, dass in einem solchen „Erbfolgekrieg“, vor allem die darunter leiden, die unter jedem Königshaus zu leiden hatten/haben? Und: In welchem Verhältnis standen die (verloren gegangenen) Autonomierechte zu den „aragonischen“ Herrschafts- also auch Knechtschaftsverhältnisse?
Noch weiter zurück geht die katalonische Regionalregierung mit Carles Puigdemont an der Spitze. Auf seiner Visitenkarte steht: „130. Präsident der Generalitat.“ Damit will er auf das (Geburts-)Jahr 1359 verweisen, als der erste Präsident der Generalitat, wie die Regierung in Katalonien bezeichnet wird, sein Amt antrat. Aber was hat dieser erste, zweite Präsident gemacht, für wen hat er die Herrschaft ausgeübt, wem war er verpflichtet, welche Rechte, welches Leben hatten die ihm Unterworfenen?
Mit dem Antifaschismus verbundene Menschen spannen den historischen Bogen etwas kleiner. Sie verweisen auf die Jahre ab 1931, als Katalonien mit der zweiten Republik wieder einen Autonomiestatus erhielt:
„Als jedoch 1934 in Madrid die CEDA, eine faschistische Partei, die Regierung bildete, erklärte der katalanische Regierungschef Lluís Companys die katalanische Unabhängigkeit (innerhalb der föderalen spanischen Republik). Dieser – aus Sicht Madrids – Aufstand wurde militärisch niedergeschlagen und die Rechte der Generalitat (katalanische Regierung) wurden suspendiert (…). Mit dem Sieg Francos (1939) im spanischen Bürgerkrieg (…) wurden alle Rechte Kataloniens suspendiert, die katalanische Sprache verboten.“ (s.o.)
Zehntausende fielen dem Terror der Diktatur Francos zum Opfer, Hunderttausende wurden zur Zwangsarbeit verdammt oder ins Exil gezwungen.
Für uns, die in den 70er Jahren politisiert wurden, waren diese Ereignisse in Spanien näher als z.B. die Russische Revolution 1918/19. In den 30er Jahren war Katalonien eine Hochburg der anarchistischen Bewegung. Die anarcho-syndikalistische Gewerkschaft CNT war stark und einflussreich. Die Idee der Kollektivierung des Bodens, die Idee von einer „freien Assoziation“ der Menschen waren uns viel näher als der zentralistische, an die (All-)Macht der Partei gebundene Weg der Bolschewiki in Russland.
Doch was sagt uns dieser „kurze Sommer der Anarchie“ - eine wunderbare Hommage von Hans Magnus Enzensberger an diese faszinierende, revolutionäre Zeit? Spielt diese historische Epoche mit all ihren Ideen und Versuchen, heute, im Kampf um die Unabhängigkeit Kataloniens eine Rolle? Ich behaupte: nein.
Die CNT existiert fast nicht mehr, die „anarchistisch“ gesinnten Gruppen in Katalonien sind so klein und zerstritten, dass sie auf das, was eine Unabhängigkeitsbewegung ausmachen könnte, keinen Einfluss haben.
Wer also auf die Geschichte Kataloniens verweist, egal in welchem Jahrhundert, der muss auch erklären und ausführen können, wo und wie sich (Fuss-)Spuren dieser Geschichte in der Gegenwart finden.
Denn, egal, wer auf welche Geschichte verweist, hat damit noch lange keine Begründung für das, was heute passiert und was morgen passieren könnte.
Die doch sehr widersprüchlichen historischen Verweise auf die Geschichte der Unabhängigkeit Kataloniens verweisen vielleicht auf ein ganz großes Problem in der Gegenwart: Die nicht stattfindende öffentliche Auseinandersetzung darüber, was mit einer ausgerufenen Unabhängigkeit gemeint ist.
Warum steht z.B. nirgendwo der einfache und gut verständliche Satz, als Teil einer Unabhängigkeitserklärung: „Wir verurteilen die unerträglichen Arbeitsbedingungen, unter denen vieler Menschen leiden, wir nehmen die stetigen Lohnkürzungen nicht länger hin und wir werden die Zerstörung sozialer Sicherungssysteme (Rente, Gesundheitssystem, Bildung) stoppen und umkehren. In dem neuen Staat Katalonien wird dies wie folgt geregelt...
Vielleicht hat dieser kurze Ritt durch die Geschichte dennoch eines gezeigt: Der Verweis auf die lange (und verfolgungsreiche) Geschichte eines Unabhängigkeitsbestrebens zeigt vor allem, dass es doch sehr darauf ankommt, was man sich aus der Geschichte herausgreift und von wo aus man sie betrachtet: Aus Sicht der Herrschenden (wozu sicherlich auch alle Beteiligten eines Erbfolgekrieges gehören) oder aus Sicht derer, die nichts zu sagen haben, und für die das Wort „Autonomie“ oder gar „Unabhängigkeit“ nicht die geringste Rolle spielt, weil diese Schlachtworte nicht für diese Menschen gedacht waren und sind.
Und noch etwas ist wichtig, wenn man die Bedeutung einer Geschichte für die Gegenwart einzuordnen versucht. Wenn ich die eigenen Erfahrungen, die Erfahrungen von Freunden, die seit Jahrzehnten in Spanien bzw. Katalonien leben und die Berichte, die es ab und an über die katalanische Unabhängigkeitsbewegung gibt, zusammenfüge, dann überwiegt bei mir folgender Eindruck: Weder spielt die Geschichte von 1713/14, noch die des spanischen Bürgerkrieges in dem Tun und in dem Engagement der Leute eine wesentliche Rolle. Gerade die große Zahl von jungen Menschen und ihre Aussagen legen nahe, dass es vor allem um jetztzeitige Erfahrungen geht: Um die Ablehnung einer politischen Klasse in Spanien, die keinerlei Vertrauen genießt, um die Erfahrungen von Repression, wenn man sich dagegen wehrt, um das sich immer schneller drehende Hamsterrad, in dem alle versuchen, auf den Füssen zu bleiben.
Dabei, und das ist jetzt eine kesse Vermutung, spielen die Erfahrungen von Kollektivität, das gemeinsame und solidarische Handeln, der Ausbruch aus den Ich-AG-Käfigen, aus dem überall stattfindenden Fight-Club eine viel größere Rolle, als die ganz konkrete Vorstellung von einer Unabhängigkeit.
Wenn das Kapital abstimmt. Das stille Referendum der Nichtwählbaren
Auch wenn in all den Diskussionen viele „Spieler“ aufgeführt werden, die das Geschehen in Katalonien beeinflussen, fällt auf, dass ein Spieler mit am Tisch sitzt, über den zu viele schweigen: Das Kapital. Was machen, wie entscheiden sich die in Katalonien ansässigen Unternehmen? Setzen sie auf einen unabhängigen katalanischen Staat? Was versprechen sie sich gegebenenfalls davon? Dass diese (Mit-)Spieler eher still als lautstark agieren, ist verständlich. Aber warum setzt sich eine Linke nicht damit auseinander?
Wie wichtig diese „Karte“ ist, welchen Trumpf man damit in der Hand hält, weiß zumindest die Zentralregierung in Madrid. Mit sehr dünn kaschierten Bedauern verkündete sie, dass die ersten großen Unternehmen ihrem Umzug nach Spanien beschlossen bzw. erwogen haben:
„In Barcelona überschlagen sich die schlechten Nachrichten. Die katalanische Sabadell-Bank, das fünftgrößte Geldinstitut in Spanien, verlegt ihren Firmensitz nach Alicante. Die Caixa-Bank will nach Valencia umziehen. Auch der Sektproduzent Freixenet erwägt, Katalonien zu verlassen, wie es eine täglich wachsende Liste katalanischer Firmen schon beschlossen hat. Banken bieten mittlerweile ihren Kunden von sich aus an, ihre Guthaben in Katalonien auf Konten von Filialen in Spanien zu überweisen. Angeblich haben aus der Region schon Millionenbeträge Katalonien und zum Teil auch Spanien verlassen. Manche sprechen schon von einem drohenden „Corralito“. Das würde bedeuten, dass bei einer Verschärfung der Krise ihre Konten eingefroren werden könnten.“ (FAZ vom 7.10.2017)
Dass diese nicht-militärische Waffe mehr Durchschlagskraft hat als zwei Millionen Wählerstimmen, weiß auch die Regierung in Madrid und setzt sie ganz offensiv ein: Nach dem vorgetäuschten Bedauern über den beginnenden Exodus des Kapitals verkündigt sie im nächsten Satz, dass die Bestimmungen über eine Firmensitzänderung erleichtert werden.
Eine Waffe, die bereits in Griechenland 2015 sehr erfolgreich eingesetzt wurde, als dort 60 Prozent in einem Referendum gegen das IWF-Troika-Diktat stimmten.
Die Proteste der Straße als Humankapital der katalanischen Regionalregierung?
Der Fahrplan zur Unabhängigkeit Kataloniens steht fest. An diesem Dienstag soll die Unabhängigkeit ausgerufen werden. Die Fronten stehen seit Langem fest. Die Zentralregierung lehnt Verhandlungen ab und droht bei Ausrufung mit der Streichung des Autonomiestatus.
Die Regionalregierung Kataloniens zögert. Kann es sein, dass es ihr – mit dem Votum des Referendums im Rücken – vor allem darum geht, vom „Staatshaushalt“ ein größeres Stück abzubekommen? Ein Ringen um mehr ökonomische und politische Macht innerhalb Spaniens, vom dem die Hunderttausende, die für die Unabhängigkeit Kataloniens auf die Straße gegangen sind, am aller wenigsten etwas haben werden?