Ukrainekrieg und Cancel Culture

Zwei Werke von Gabriele Krone-Schmalz über Russland wurden seit dem russischen Einmarsch in die Ukraine nicht mehr gedruckt — nun erscheint eine erweiterte Fassung.

Russland verstehen? Kann man das? Man kann. Wenn man Bücher, die die russische Betrachtung ins Auge fassen, nicht vom Markt nimmt, sondern wieder veröffentlicht: so wie Gabriele Krone-Schmalz‘ neu aufgelegtes Buch.

Der 24. Februar 2022 markiert nicht nur den Beginn des russisch-ukrainischen Krieges, dieses Datum stellt auch ein Ende dar: Nämlich das Ende der Geschichte. Denn wie jeder Krieg vorher — und vermutlich jeder Krieg, der auf dieser Erde noch kommen mag —, hat er eine Vorgeschichte. Nur seit anderthalb Jahren spricht man nicht mehr darüber. Ja, man tat alles, um die Erklärungsansätze für diese Eskalation in Osteuropa auszublenden — und tut es noch immer.

So schreit man in Talkshows Gäste nieder, die das dreisterweise versuchen, schneidet Experten ab, die die Vorgeschichte kennen, entfesselt Shitstorms, wenn doch mal was im öffentlich-rechtlichen Rundfunk durchgeht, was als kritische Haltung bezeichnet werden könnte, wie neulich, als Professor Stefan Luft im Deutschlandfunk für Diplomatie warb, — oder man „verbietet” Publikationen. Eines jener Bücher, das mit Beginn jenes Krieges aus den Regalen verschwand, war Gabriele Krone-Schmalz‘ Werk „Russland verstehen. Der Kampf um die Ukraine und die Arroganz des Westens“.

Der lange Krieg im Osten

Krone-Schmalz‘ Buch ist 2015 erstmals erschienen. Und zwar im Verlag C.H. Beck. Mit Beginn des Krieges hat der Verlag entschieden, das Buch nicht mehr nachzudrucken — und somit aus den Regalen zu nehmen. Gleiches betraf Krone-Schmalz‘ Buch „Eiszeit. Wie Russland dämonisiert wird und warum das so gefährlich ist“, das ebenfalls auf diese Weise „aus dem Verkehr“ gezogen werden sollte.

Die Autorin selbst erklärt, dass die Entscheidung nicht einseitig vom Verlag getroffen wurde. In einem Interview mit dem Overton Magazin sagte sie:

„Nach Kriegsausbruch haben der Beck-Verlag und ich befürchtet, dass die Titel, vor allem die Untertitel Gefühle verletzen oder zynisch wirken könnten. (…) Deshalb haben wir beschlossen, diese beiden Titel vorübergehend aus dem Verkehr zu ziehen.“

Sie sei nun aber zu der Ansicht gelangt, dass eine Neuauflage nötig sei, weil das „für das Verstehen der Gesamtsituation hilfreich“ wäre. Nun erscheinen beide Bücher beim Westend Verlag. „Russland verstehen“ ist kürzlich erschienen; „Eiszeit“ erfolgt zeitnah.

Noch ein Buch über Russland, über den Konflikt in der Ukraine? Gibt es nicht genug Literatur dazu? Diese Fragen könnte man sich natürlich stellen. Aber Gabriele Krone-Schmalz‘ Bücher, speziell eben jenes, das sich dem Verstehen des transkontinentalen Nachbarlandes im Osten verschrieben hat, könnte man als die Mutter aller Literatur zu diesem Thema betrachten.

2015 war man noch tolerant genug, Geschichte auf sich wirken zu lassen. Die Autorin erzählt die Vorgeschichte, berichtet von diesem langen, nicht immer heißen, manchmal kälteren, oft auch lauwarmen Krieg. Sie tut das in geordneter Übersicht, verstrickt sich zum „Glück“ für die Leser nicht in zu vielen Nebenschauplätzen, bleibt stringent beim Thema.

Was schon damals, ein Jahr nach dem Maidan wenige erkannten, die Autorin zeigt es hier auf: Der Westen trägt einen nicht ganz kleinen Teil der Schuld — die Arroganz und die Doppelmoral lagen schon 2015 auf dem Tisch, es war klar, wohin das führen würde: In die Eskalation.

Die jetzige Ausgabe des Buches liegt selbstverständlich in einer aktualisierten und erweiterten Fassung vor. In dieser lässt die Autorin sich auch über Meinungsfreiheit aus. Denn „mündige Bürger sind in einer Demokratie systemrelevant“, schreibt sie. Und Mündigkeit könne „nur gelingen, wenn sie (also die Bürger) umfassend informiert sind. Dazu gehören Panoramablick und Perspektivwechsel.“

Anders gesagt: Man muss Russland verstehen, will man die Lage einschätzen können. Die offiziellen Berichterstatter leisten das nicht — Krone-Schmalz‘ Buch übernimmt genau hier.

Sachbuch zu Russland, Ukraine und nebenher auch noch zur Wokeness

Die Autorin vergisst aber nicht, eines klarzustellen: Russland zu verstehen bedeutet nicht, dass man Verständnis für die Entscheidung haben muss, einen Krieg zu beginnen. Dennoch stellt sie klar, dass sie ihre „Arbeit auch weiterhin darauf konzentrieren (wird), Russland zu verstehen, nicht um (sich) auf eine Seite zu stellen, sondern um dazu beizutragen, belastbare Grundlagen zu liefern, auf denen über tragfähige Lösungen debattiert werden kann.“

Traurig genug, dass ein Autor oder eine Autorin so eine Erklärung voranstellen muss. Genau das ist ja die Prämisse des Sachbuches: Keine Besonderheit, sondern die Selbstverständlichkeit desjenigen, der in einem — in diesem Falle politischen — Sachbuch Seiten be- und ausleuchten will.

Aber der Zeitgeist verlangt Rechtfertigungen, vorab eingereichte Erklärungen, die das grundlegend selbstverständliche Motiv nochmals betonen, damit man sich moralisch einigermaßen schadlos halten kann und etwaigen moralinsauren Empörungen oder gar Shitstorms vorbaut.

Gabriele Krone-Schmalz‘ Buch über die Entwicklungen in Osteuropa ist insofern auch ein bisschen mehr: Die jüngste Geschichte ihres Werkes ist ein Stück Zeitgeschichte dem Sinne nach, dass es die Irrungen und Wirrungen des Zeitgeistes und der Zeitenwende dokumentiert. Ein „verbotenes Buch“, deren Autorin sich eine neue Publikationsplattform suchte, weil es einem moralistischen Empörungsmob zum Opfer fiel: Hier hat sich ein Sachbuch zu Russlands Außenpolitik und dem Krieg in der Ukraine nebenher zu einem Buch über Cancel Culture, Zeitenwende-Rigorismus und, ja, auch Wokeness gemausert.

Man kann völlig zu Recht sagen, dass der Kauf dieses Buches ein Zeichen gegen den gesellschaftlichen Wahnsinn unserer Zeit setzt. Denn ein Kauf zeigt an, dass die Einziehung von Sachbüchern, die gerade nicht in die Stimmungslage der Machthaber passen, keine Option sein kann.

Die Angst vor der moralischen Stigmatisierung, die einen Verlag dazu treiben mag, das, was aus Gründen der Aufklärung gesagt werden sollte, nicht mehr sagen lassen zu wollen, macht aus dieser Gesellschaft keinen besseren Ort — im Gegenteil: Wenn es so weit kommt, leistet man einen Teil zur allgemeinen Verdummung. Letztere geht gerne mit striktem Moralismus einher, beides bedingt sich. Gabriele Krone Schmalz‘ Buch ist insofern auf ganz besondere Art und Weise ein Beitrag gegen die Empörungsverblödung, die viele gesellschaftlich so arg am Wickel hat.


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