Ukraine — billig zu haben
Der Krieg in Osteuropa wird oft nach moralischen Kategorien beurteilt. Der wahre Grund ist banaler: Es geht um die Kontrolle fruchtbaren Ackerlandes.
Europa fragt: „Wer ist schuld?“, Amerika: „Was habe ich davon?“ Die Herangehensweisen der Akteure in dieser Phase des Russland-Ukraine-Kriegs sind grundverschieden. Wolodymyr Selenskyj träumt noch immer von einem Sieg, zumindest von Verhandlungen unter militärisch günstigeren Vorbedingungen, die die USA und EU ihm verschaffen sollen. Dafür lässt er diesen blutigen Krieg auf Kosten der Menschen in seinem Land gern in die Verlängerung gehen. Wladimir Putin sehnt das Ende herbei, scheut weiteren Kräfteverschleiß und die Langzeitfolgen für die russische Wirtschaft, möchte es seinen Gegnern angesichts des für ihn günstigen Kriegsverlaufs aber auch nicht zu leicht machen. Die europäischen Länder wollen vor allem recht behalten und sind zu weiteren Opfergängen an der Seite ihres neuen ukrainischen Lieblingsverbündeten bereit. Profitieren dürften am Ende nur die USA, für die auch Frieden letztlich ein „Deal“ ist. Der Kampf um die begehrten Bodenschätze und das fruchtbare Ackerland der Ukraine geht in die entscheidende Phase, und man darf raten, wer die Nase vorn hat. Das naiv-moralisierende Deutschland ist es jedenfalls nicht.
„Gib mir alles“ — „nein“ — „Arschloch“ — „Putinist“. So in etwa lief die Debatte zwischen Donald Trump und Wolodimir Selenskyj ab, mit der das Weiße Haus Mitte Februar 2025 die Gespräche über einen Neuanfang in den US-amerikanisch-ukrainischen Beziehungen einleitete. Die Fortsetzung des unfreundlichen Schlagabtausches fand dann am 28. Februar 2025 vor den Augen der Welt statt.
Selenskyjs Besuch im Oval Office lief völlig aus dem Ruder. Als der ukrainische Präsident gegenüber Donald Trump die mit Brüssel eingeübte Drohung auspackte, Russland müsse zurückgedrängt werden, sonst würden demnächst auch US-Bürger unter russischem Imperialismus leiden, zog der Dealer im Oval Office den Stecker. Er lasse sich, so Trump, von einem Gast, dem es in seinem Krieg an Material und Soldaten mangle, nicht erklären, wie sich die USA gegenüber der Ukraine und Russland zu verhalten hätten. Das im Nebenzimmer bereit gelegte Rohstoffabkommen, mit dem Washington nach einem rasch herbeigeführten Waffenstillstand ukrainische Bodenschätze schürfen lassen wollte, blieb ohne Unterschriften liegen.
Selenskyj hatte mehrmals betont, einem Waffenstillstand ohne militärische Absicherung durch den Westen, auch durch die USA, nicht zustimmen zu wollen. Dabei bleibt freilich die entscheidende Frage offen, wo eine Waffenstillstandslinie verlaufen soll. Der Kreml sieht eines solche westlich der vier annektierten Oblaste Donezk, Luhansk, Saporoschje und Cherson liegen, während der ukrainische Präsident nach wie vor auf dem vollständigen Abzug der russischen Truppen aus den — ehemals — von Kiew kontrollierten Gebieten, inklusive der Krim, beharrt.
Donald Trump mischt auf. Die Geschäftsbrille, mit der er die Welt betrachtet, wird einzig durch ein reaktionäres Weltbild ergänzt, das er je nach Bedarf selektiv ins Treffen führt. Das Angebot an Kiew, einen Rohstoffdeal abschließen zu wollen, zeigt beispielhaft, was die neue US-amerikanische Administration unter Politik versteht; und wie fundamental sich dieses Verständnis von anderen Playern unterscheidet.
Im Fall des Ukraine-Konflikts lassen sich in Brüssel, Washington, Moskau und Peking vier sehr unterschiedliche Zugänge feststellen.
Die Europäische Union besteht auf der Klärung der Kriegsschuldfrage, bevor sie sich der zukünftigen Entwicklung widmen will. Das kann schon deshalb nicht zielführend sein, weil Brüssel nicht mit einer Stimme spricht, so sehr dies die EU-Kommission mit ihren russophob eingestellten Führerfiguren Ursula von der Leyen und Kaja Kallas auch will. Die Regierungen in Ungarn und der Slowakei weisen neben dem russischen Angreifer auch der Ukraine und der NATO eine gehörige Portion Mitschuld an der Eskalation des Krieges um die Ostukraine zu; und in vielen weiteren EU-Mitgliedsländern sind höchste Repräsentanten wie die Präsidenten Zoran Milanović in Kroatien und Rumen Radew in Bulgarien oder starke parlamentarische Oppositionen ähnlicher Auffassung.
Dazu kommt, was jeder ausgebildete Diplomat auf der entsprechenden Akademie bereits im ersten Lehrgang gelernt haben müsste, dass ein Vermittlungserfolg im Streitfall die Schuldfrage nicht in den Mittelpunkt stellen darf, so wie dies von Brüssel betrieben wird.
Politik als Geschäft
Ganz anders die Vereinigten Staaten. Donald Trump macht den Deal. Für ihn ist Politik Geschäft. Sein Zugang lautet nicht „wer ist schuld?“, sondern „wie können wir profitieren?“ — wobei der Kreis der Profiteure klein ist und der Logik der amerikanischen Klassengesellschaft folgt. Wenn die Ukraine am Boden liegt — warum auch immer —, dann müsste die dortige Einkaufstour eben billiger als in starken Volkswirtschaften sein. Begehrte Rohstoffe wie Lithium, Graphit, Nickel und Seltene Erden stehen ganz oben auf der Liste. Der Rohstoffdeal, den Washington mit Kiew abschließen will, spiegelt dieses Interesse wider.
Russland treibt die Sorge um, die durch den Krieg entstandenen Schäden reparieren zu müssen. Zigtausende junge Männer werden dem Land in Zukunft fehlen. Sie haben auf den Schlachtfeldern ihr Leben gelassen oder sind vor der Mobilmachung in Richtung Serbien, Georgien und Kasachstan geflohen. Der Wiederaufbau in den annektierten Oblasten nach einem wie auch immer zustande gekommenen Friedensschluss wird zudem enormes Volksvermögen verschlingen.
Die Antwort von Wladimir Putin auf einen — vorerst gescheiterten — amerikanisch-ukrainischen Rohstoffdeal macht deutlich, wie stark die russische Volkswirtschaft beschädigt ist. Seltene Erden gibt es in Russland zuhauf, auch im Donbass, ließ der Kreml-Chef wissen und bot Trump spontan an, die in Russland lagernden Rohstoffe gemeinsam auszubeuten; soviel zur Glaubwürdigkeit der wirtschaftlichen Kriegsdoktrin des Kreml, das größte Land der Welt als Antwort auf die westlichen Sanktionen in ökonomischer Hinsicht eurasisch auszurichten und auf eigene Beine zu stellen.
Bleibt noch China. Die dortige Führung beobachtet den Bruch des transatlantischen Bündnisses erste Reihe fußfrei; und orientiert sich seit dem am 12. Fünfjahresplan (2011 bis 2015) eingeleiteten „Pfadwechsel“ auf den Binnenmarkt. Dass dies wegen der globalen Verflechtung in der Weltwirtschaft nicht von einem Jahrzehnt auf das nächste funktionieren kann, bereitet Xi Jinping und Genossen wohl das meiste Kopfzerbrechen.
Die Grundlagen für den Ausverkauf der Ukraine
Die Ukraine in der Form des Jahres 1991, als die staatliche Unabhängigkeit erklärt wurde, gibt es nicht mehr. Ihr unter der Kiewer Führung verbliebener, von Woche zu Woche kleiner werdender Teil ist in den vergangenen Jahrzehnten zum ärmsten Land Europas herabgesunken. Mit einem Bruttoinlandsprodukt von 5.200 US-Dollar pro Kopf und Jahr nimmt sie den letzten Platz ein, noch hinter Moldawien mit 6.600 US-Dollar und Albanien mit 8.200 US-Dollar. Die Nachbarn Russland mit 13.700 US-Dollar BIP/Kopf und Polen mit 22.000 US-Dollar liegen weit vor der Ukraine. Ein Vergleich mit Deutschland mit 53.550, Österreich mit 56.800 oder gar der Schweiz mit 101.500 verbietet sich geradezu (1).
Mitarbeiter auf Abruf
Worauf es beim wirtschaftlichen Ausverkauf eines Landes besonders ankommt, sind die Einkommens- und Lohnverhältnisse. Auch hier macht die Ukraine das europäische Schlusslicht. Während Mindestlöhne in Polen Anfang 2025 bei 1.091 Euro, in Rumänien bei 814 und in Bulgarien bei 551 Euro pro Monat liegen, lautet die Vergleichszahl für die Ukraine ab April 2024 190 Euro (2). Dort lässt sich die Arbeitskraft am wirkungsvollsten ausbeuten, zumal geschätzte 30 Prozent der Beschäftigungsverhältnisse in der Ukraine außerhalb der gesetzlichen Regelungen stattfinden (3).
Bereits kurz nach Kriegsbeginn wurde im Juli 2022 außerdem das „Gesetz zur Veränderung einiger ukrainischer Rechtsakte betreffend die Optimierung der Beziehungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern“ beschlossen, mit dem das Parlament gewerkschaftlichen Vertretungen in Betrieben unter 250 Mitarbeitern den Garaus machte und auch sogenannte „Null-Stunden-Verträge“ für legal erklärte; damit werden Arbeiter an einen Betrieb „auf Abruf“ gebunden, ohne sie dafür entschädigen zu müssen (4).
Das sozial verarmte und arbeitsrechtlich extrem liberal ausgerichtete Land bietet die ideale Grundlage für einen Ausverkauf an ausländische Investoren. Dieser findet unter anderem in Form verlängerter Werkbänke statt, in denen billige heimische Arbeitskräfte industriell ausgereifte Fertigungsschritte ohne Forschungs- und Entwicklungsanteil für multinationale Konzerne tätigen.
Als Beispiel hierfür sei die Produktion von Kabelbäumen für die Automobilindustrie erwähnt. Vor allem in der Westukraine befindet sich eine Reihe von Fabriken, in denen für einen Stundenlohn von 1,20 bis 1,50 Euro die Elektrik der europäischen PKW-Hersteller zusammengestellt wird. In Deutschland müssten die Betriebe für dieselbe Arbeitsstunde 30 Euro bezahlen. Allein das baden-württembergische Unternehmen Kromberg & Schubert beschäftigt in zwei Werken 8.000 Arbeiter, die täglich Kabelbäume für 3.500 Autos fertigen.
Rohstoffe und Ackerland
Mit dem Deal, den Trump Selenskyj angeboten hat, ist der Wettlauf um die ukrainischen Bodenschätze in eine entscheidende Phase getreten. Den Kern des am 28. Februar 2025 nicht unterzeichneten amerikanisch-ukrainischen Rohstoffabkommens bildet ein Wiederaufbaufonds, den Kiew und Washington gemeinsam bestücken und verwalten sollen. Ob von US-Seite dafür neues Geld kommt oder die bereits getätigten Hilfslieferungen an die Ukraine aufgerechnet werden, geht aus den bisher bekannten Papieren nicht hervor.
Die Ukraine jedenfalls wird verpflichtet, die Hälfte aller Einnahmen aus zukünftig erschlossenen Rohstoffen in diesen Fonds einzuzahlen; mithin vor allem jene Gelder, die von US-Konzernen durch Ankauf, Pacht, Lizenzvergabe oder Schürfrechte ins nationale Budget fließen. Damit würde die amerikanische Administration 50 Prozent der Eingänge aus allen Geschäftstransaktionen im Rohstoffbereich weiterhin kontrollieren, indem sie bei der Vergabe der Fondsgelder entscheidend mitredet. In gewisser Weise erinnert dieses Modell an die Gegenwertkonten des Marshall-Plans. Auch dort behielt sich Washington das letzte Wort bei Investitionsvergaben aus den sogenannten ERP-Fonds vor, die damals allerdings nur von US-Seite gespeist wurden.
Bereits im Jahr 2023 hatten ukrainische Oligarchen und westliche Großkonzerne sowie Banken neun Millionen Hektar Ackerland unter ihre Pflüge genommen; das ist mehr als die Größe Bayerns oder Österreichs. Diese Privatisierung von Grund und Boden wurde erst durch Wolodimir Selenskyj ermöglicht, der am 31. März 2020 ein 19 Jahre währendes Moratorium aufhob, das den Ausverkauf von Grund und Boden an Private im Jahr 2001 gestoppt hatte.
Das wohl begehrteste Agrarland Europas, die Schwarzerde, wegen der schon die Wehrmacht in den Osten gezogen ist, fällt seitdem in ausländische Hände.
Größen von 500.000 Hektar, aus denen zum Beispiel die Kernel-Holding pro Jahr 3,3 Millionen Tonnen Getreide und Ölsaaten herauspresst (5), sind keine Seltenheit. Als Investoren haben sich US-amerikanische Kapitalsammler wie die Vanguard Group, saudische Firmen wie „PIF-Saudi“, aber auch Goldman Sachs, die Banque National de Paris, die niederländische ING Bank, die Landesbank Baden-Württemberg und andere in Stellung gebracht (6).
Was die ukrainischen Agrarflächen für ausländisches Kapital so verlockend macht, ist neben der Bodenqualität vor allem ihr Preis. Bestes Ackerland ist dort Anfang 2025 für 48.000 Hrywnia pro Hektar zu haben, das sind umgerechnet 1.100 Euro. Der Vergleich mit Preisen in der Europäischen Union macht den Investor sicher: Hier muss man in Bayern oder Österreich je nach Lage zwischen 35.000 und 85.000 Euro pro Hektar hinblättern; in Polen beträgt der durchschnittliche Hektarpreis für gutes Ackerland 13.000 Euro. Fruchtbarer landwirtschaftlicher Boden ist also in der EU zwischen zwölf und 80 Mal so teuer wie in der Ukraine. Dafür lohnt es sich, das Land unter politische Kontrolle zu bringen. Auch darum tobt der Kampf um das „Grenzland“, der seit Trumps Amtsantritt auch Brüssel und Washington entzweit.
Von Hannes Hofbauer ist zum Thema erschienen: „Im Wirtschaftskrieg. Die westliche Sanktionspolitik und ihre Folgen. Das Beispiel Russland“ (Promedia Verlag, 2024)
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