Übersturzhandlungen in Kiew

Die zunehmend irrationalen Entscheidungen von Wolodymyr Selenskyj werden immer unverständlicher.

Für den Einmarsch im Kursker Gebiet nennt der ukrainische Präsident immer wieder andere Gründe. Dann wechselte er die halbe Regierung aus, und ebenso überraschend tauchte er nun bei der Kontaktgruppe in Ramstein auf. Die militärische Lage wird unterdessen nicht aussichtsreicher. Dieser plan- und strukturlose Politikstil wird dabei nicht nur von aufmerksamen Beobachtern zur Kenntnis genommen, auch bei seinen westlichen Partnern macht sich Skepsis breit. Ihre Unterstützung ist längst nicht mehr so bedingungslos und euphorisch wie noch vor einigen Monaten. Denn mittlerweile tritt deutlich zutage, dass ein militärisch errungener Frieden immer unwahrscheinlicher wird.

Hoffnungsschimmer

Den Einmarsch im Kursker Gebiet hatten weder Feind und Freund kommen sehen und, um die Russen zu beruhigen, beteuerten die Regierungen im politischen Westen, nichts davon gewusst zu haben. Das ist glaubhaft, denn bisher haben sie weitestgehend ihre Maßnahmen gegenüber Russland nicht nur angekündigt, sondern auch erklärt, damit Moskau keine falschen Schlüsse zieht und heftig reagiert. Besonders die Amerikaner wollen wegen der Ukraine nicht in einen atomaren Weltkrieg verwickelt werden. Zwar will man Russland schwächen, aber nicht um den Preis der eigenen Vernichtung.

Damit der Westen weiterhin zu Kiew steht, hat Selenskyj wohlklingende Erklärungen für seinen Vorstoß in Richtung Kursk abgegeben, die in Washington und Brüssel auf Verständnis stoßen sollten. Mal war die Rede von einem Faustpfand für Friedensverhandlungen. Dann wollte man den „Krieg zu sich nach Hause zurückdrängen, dorthin, von wo aus der in die Ukraine gebracht wurde“ (1). Gar vom Sieg über Russland ist gelegentlich die Rede. Jede dieser Erklärungen fand auch ihre Anhänger im Westen. Sie bedienten die Hoffnungen jener, die Verhandlungen das Wort reden, wie auch die jener, die Russland vernichtet sehen wollen. Was sich Kiew aber wirklich dabei gedacht und erwartet hat, ist bis heute noch unklar.

Nach dem Debakel seiner letzter Friedenskonferenz in der Schweiz, an der wichtige Staaten wie Brasilien und China nicht teilgenommen hatten, hatte Selenskyj immer häufiger ein neues Treffen ins Gespräch gebracht, dieses Mal aber zusammen mit Russland. Jedoch scheint das mehr Täuschung als ehrliche Absicht gewesen zu sein. Schon bald war klar, dass Moskau andere Vorstellungen von Frieden hat als der ukrainische Präsident, der immer noch die Wiederherstellung seines Landes in den Grenzen von 1991 anstrebt. Aber er hatte mit diesen Äußerungen auch Hoffnungen geweckt, die ihm zuletzt auf die Füße zu fallen drohten. Denn auch im Westen wächst die Zahl derer, die den Krieg beendet sehen möchten.

Je näher der November rückte mit den Wahlen in den USA und Selenskyjs Andeutungen über einen möglichen Termin für etwaige Friedensverhandlungen unter Einschluss Russlands, umso stärker wurde der Handlungsdruck. Von Verhandlungen war in Kiew vor dem Einmarsch im Kursker Gebiet kaum noch die Rede gewesen. Seit Anfang August 2024 sind sie ohnehin in weite Ferne gerückt.

Stattdessen drängt Kiew die westlichen Verbündeten, noch mehr Waffen und Geld zur Verfügung zu stellen und vor allem rechtzeitig. Denn Zusagen nützen der Ukraine wenig, wie ihre Vertreter immer wieder anmahnen. Zudem möchte man erreichen, dass die Beschränkungen für die gelieferten Waffen aufgehoben werden. Selenskyj will weiter nach Russland schießen dürfen. Dabei wird „die Offensive als Teil eines Plans für den Sieg präsentiert, den er in Washington vorlegen will“ (2). Das Kursker Abenteuer sollte nach Außenminister Dmytro Kuleba den Beweis bringen, „dass wir Russland besiegen können“ (3). Dazu aber müsste die entsprechende Unterstützung gegeben sein.

Enttäuschte Hoffnungen

Sollte das Kursker Husarenstück eine Wende bringen? Die Wende in der Unterstützung der Amerikaner für einen weiter reichenden Waffeneinsatz? Die Wende in der Einstellung der russischen Bevölkerung zu Wladimir Putin, was die in der letzten Zeit verstärkten Drohnenangriffe auf russische Grenzgebiete und deren Bevölkerung erklären würde? Eine Wende in der verzweifelten Lage im Donbass? Vielleicht sogar eine Wende bei der NATO hin zu mehr Engagement mit eigenen Truppen? Von all diesen erhofften oder ersehnten Veränderungen in der schwierigen Lage der Ukraine ist nichts eingetreten.

Auch dem Frieden ist Selenskyj damit keinen Schritt näher gekommen, was gelegentlich auch als eines der Ziele für die Kursker Invasion angegeben worden war. Mit dem Einmarsch setzt die ukrainische Führung offensichtlich wieder verstärkt auf eine militärische statt einer diplomatischen Lösung, wie es vorübergehend den Anschein hatte. Aber die Voraussetzungen für diesen Weg stehen schlechter denn je. Wenn auch alle westlichen Partner weiterhin beteuern, die Ukraine so lange zu unterstützen wie nötig, so sind es doch die Partner, die bestimmen, was nach ihrer Meinung nötig ist.

Bundeskanzler Olaf Scholz jedenfalls scheint inzwischen davon überzeugt zu sein, dass Deutschland das Geld nötiger braucht als die Ukraine. Die Zuwendungen aus dem deutschen Haushalt haben ihren Höhepunkt überschritten. Man vertröstet Kiew mit einem Kredit auf die eingefrorenen russischen Vermögenswerte (4). Aber das kann dauern. Auch der Bundeskanzler denkt inzwischen öffentlich im Fernsehen darüber nach, „wie man schneller aus einer Kriegssituation herauskommt und zum Frieden gelangt“ (5).

Neben Ungarn und der Slowakei, die ohnehin immer eine Verhandlungslösung bevorzugt und bisher nur humanitäre, keine militärische Unterstützung geleistet hatten, kommen nun auch aus Italien Signale, dass eine Friedensformel gefunden werden muss. Denn Waffenlieferungen an die Ukraine sind in Italien nicht sonderlich populär und „im Vergleich zu seiner Wirtschaftskraft fällt die Militärhilfe Italiens eher mickrig aus“ (6). Nach einem Gespräch mit Selenskjy erklärte die italienische Ministerpräsidentin Giorgia Meloni, „China und Indien hätten eine Rolle in Friedensverhandlungen zwischen Kiew und Moskau zu spielen“ (7). Das heißt so viel wie, dass es an der Zeit ist, Frieden zu schließen.

Nicht nur in Italien ist die Zuversicht über diesen Krieg der Ernüchterung gewichen. Auf dem Treffen der EU-Außenminister am 2 September August 2024 hatte sich der ukrainische Amtskollege Kuleba alle Mühe gegeben, nach dem Kursker Einmarsch „die militärische Lage als vorteilhaft darzustellen“ (8). Aber selbst bei dem sonst so unbeeindruckt zuversichtlichen EU-Außenbeauftragen Josep Borrell schienen diese Darstellungen keine Zuversicht mehr auszulösen. Zwar hatte dieser anerkennende Worte für den „strategischen Wagemut“ der Ukrainer, musste aber auch feststellen, dass Russland seine Angriffe „mit bisher nicht gekannter Intensität“ fortsetzt (9).

Offensichtlich ist Russland von Kiews Einmarsch im Kursker Gebiet wenig beeindruckt. Man hält die ukrainischen Truppen in Beschlag, lässt sie nicht weiter vordringen und zwingt sie zu verlustreichen Rückzugsgefechten. Aber anders als erhofft oder ausgedacht, gibt es an der Front im Donbass keine Entspannung für das ukrainische Militär. Auch die europäischen Kollegen Kulebas müssen mit wachsendem Unbehagen feststellen, „dass die russischen Truppen zuletzt erhebliche Geländegewinne beim Vorstoß auf Pokrowks“ (10) erringen konnten.

Zurückhaltung

Wenig Neigung scheint bei den westlichen Verbündeten zu bestehen, weiterhin größere Risiken zugunsten der Ukraine einzugehen. Wenn man es auch nicht ausdrücklich sagt, so scheint man sich doch allmählich damit vertraut zu machen, dass Kiew den Krieg verliert. Die Finanzströme werden dünner. Auch die Waffenlieferungen werden immer zögerlicher. Immer wieder beklagen ukrainische Vertreter, dass die Lieferungen zu lange auf sich warten lassen und die Entscheidungsprozesse zu lange dauern. „So kann man militärisch nicht planen“ (11), beklagte sich der damalige Außenminister Kuleba.

Bis auf ein deutsches Patriot-System sind die Luftabwehrsysteme, die beim NATO-Gipfel im Juli 2024 zugesagt worden waren, nicht geliefert worden. Zudem finden die wiederholten Forderungen der Ukrainer, mit den westlichen Waffen weiter nach Russland hinein schießen zu dürfen, um strategische Ziel und den russischen Nachschub zu treffen, bei den USA wenig Gegenliebe, selbst der sonst so kämpferische Borrell hielt sich in dieser Frage auffällig zurück. Schon gar nicht will man dem Wunsch der Ukraine nachkommen, „den ukrainischen Luftraum von den angrenzenden NATO-Staaten aus zu verteidigen“ (12).

All das sind Hinweise, dass man vonseiten der westlichen Verbündeten nicht mehr so viel Material liefern will, das man vielleicht selbst noch braucht, weil man fest davon ausgeht, selbst in wenigen Jahren von Russland angegriffen zu werden. Da ist man wenig begeistert, wenn die Ukraine ohne Absprache das knappe Kriegsgerät in halsbrecherischen Aktionen wie im Kursker Gebiet verheizt. Schon gar nicht scheint man noch größere Risiken bezüglich der russischen roten Linien eingehen zu wollen. Es sieht so aus, als stieße die Ukraine mit ihren Wünschen und Forderungen zunehmend auf taube Ohren.

Neue Überraschungen

Nun hat der ukrainische Präsident Selenskyj erneut seine Bevölkerung und seine Verbündeten mit einem Handstreich verblüfft: Unerwartet und ohne Begründung wechselte er in der ersten Septemberwoche die Hälfte seiner Regierung aus. Auch der angesehene Außenminister Kuleba reichte seinen Rücktritt ein. Eine Erklärung vonseiten Selenskyjs gab es dafür nicht. Etwaige Zweifel an seiner Berechenbarkeit dürften jedoch in den westlichen Hauptstädten zunehmen.

Hatte schon der Einfall im russischen Grenzgebiet nicht gerade für Begeisterung in den westlichen Führungsetagen gesorgt, so dürfte der Austausch ukrainischer Kollegen, mit denen man vertraut war und bisher zuverlässig zusammengearbeitet hatte, für zusätzliche Verunsicherung sorgen. Wie verlässlich ist Selenskyj noch, wie durchdacht seine Entscheidungen? Steht er mittlerweile so stark unter Druck? Was soll besser werden durch eine erneuerte Regierungsmannschaft, wenn die eingespielte schon nicht in der Lage zu sein scheint, die Probleme zu lösen, oder „stärkt er vielmehr den Kreis derjenigen, die loyal zu ihm“ stehen? (13).