Überschattetes Weltgewissen

Wenn die große Vision Europas am Leben gehalten werden soll, brauchen wir nicht weniger, sondern mehr Demokratie.

Europa ist in seinen besten Zeiten eine Region gewesen, in der Gegensätze ausdiskutiert und integriert wurden. Jetzt hat der Kontinent mit ungeahnten Herausforderungen zu kämpfen. Das alte Freiheits- und Menschenrechtsversprechen wird zunehmend Makulatur. „Postdemokratische“ Großstrukturen schränken den Handlungsspielraum der Nationen und Einzelmenschen ein. Sozial geht es abwärts und mit der Demokratie, wenn wir ehrlich sind, auch. Verstärkte Zuwanderung hat uns zudem ein Identitätsproblem beschert. Wir können es nur lösen, wenn Integration als Bringschuld beider Seiten — der Alt- wie der Neubürger — betrachtet wird und Gemeinsamkeit aus der Akzeptanz des Verschiedenartigen erwächst. Ein lebenswertes Mutterland kann Europa nur bleiben, wenn wir in der Freiheit keine skurrile Idee aus historischer Vergangenheit sehen, sondern unser aller Zukunft.

Über den Tellerrand geschaut, hat kaum ein anderes politisches Thema in den vergangenen Jahren mehr Kopfschmerzen bereitet als die Zukunft Europas. Grund zur Sorge muss jedenfalls bestehen, wenn wir den Weg nach den Vorstellungen der derzeit politisch Verantwortlichen weiter beschreiten werden. Demnach wird zukünftig nicht nur Deutschland (1), sondern auch Europa zunehmend durch private Wirtschaftsinteressen und ebenfalls nicht demokratisch legitimierte „Denkfabriken“ beraten und geleitet werden. So jedenfalls der erklärte Wille der derzeitigen Koalitionsparteien:

„Zur Stärkung europäischer Handlungsfähigkeit wollen wir die Idee eines ‚European Council on Global Responsibilities‘ (2) unterstützen, die in EU-Mitgliedstaaten wie Frankreich und Polen diskutiert wird. Der Council soll als unabhängige Institution Initiativen formulieren, die Europas Wettbewerbs- und Innovationsfähigkeit ermutigen und dazu beitragen, unsere Interessen bei der Gestaltung einer neuen Weltordnung selbstbewusster zur Geltung zu bringen“ (3).

Globalisierung — eine Ideologie?

Nationalbewusstsein oder die Forderung nach staatlicher Souveränität wird — auch vor diesen politischen Bestrebungen — mittlerweile gesellschaftlich nicht nur nicht gern gehört, deren Befürworter werden nicht selten mit dem Hinweis auf die globalen Entwicklungen diskriminiert und diskreditiert. Doch, wenn eine freie Gesellschaft niemals aus der Selbsterhöhung Einzelner entstehen kann, sondern immer die Anerkennung des freien Willen des anderen voraussetzt, müsste eine freie und „globale Weltordnung“ nicht gerade deshalb auch die Souveränität und Autonomie von Staaten bedingen? Denn sonst könnte tatsächlich die Lösung zum Problem werden (4).

Kritisch zu bewerten ist jedenfalls, dass das Argument „Globalisierung“ in der Lage zu sein scheint, bislang Gültiges und Bewährtes nicht nur infrage zu stellen, sondern Anlass bietet, feste gesellschaftspolitische Strukturen politisch aufzuweichen, um diese nach globalen Lenkungsmechanismen ausrichten zu wollen.

Denn „Die Folgen des Klimawandels, Risiken von Handelskriegen, Rüstungswettläufen und bewaffneten Konflikten, Instabilität im Nahen und Mittleren Osten, Fluchtbewegungen, sowie neue aggressive Nationalismen innerhalb und außerhalb Europas fordern uns heraus und wirken bis in unsere Gesellschaften hinein. In dieser Lage sei es die überragende Aufgabe deutscher Politik, auf Regeln basierende internationale Kooperationen, Institutionen und Organisationen als Grundlage von Frieden, Sicherheit und Stabilität zu stärken und weiterzuentwickeln“ (5).

Und so ist schon fast selbstredend erklärtes Ziel der politisch Verantwortlichen: „eine gerechte Gestaltung der Globalisierung im Sinne der Agenda 2030, die allen Menschen ein Leben in Würde und Sicherheit bietet. Wir setzen auf starke Partnerschaften und Allianzen. Dabei steht die Stärkung gemeinsamen europäischen Handelns und der Gestaltungskraft der EU im Mittelpunkt (…) Gleichzeitig wollen wir die Bindung an die USA festigen (…)

Wir wollen transatlantisch bleiben und europäischer werden. Transatlantische Partnerschaft als Werte- und Interessengemeinschaft festigen. Mit den USA und Kanada verbindet uns eine starke Werte- und Interessengemeinschaft. Nur gemeinsam können wir die Herausforderungen in unserer Nachbarschaft und die der Globalisierung bewältigen. Davon lassen wir uns in unseren Beziehungen leiten. Diese bleiben auch wirtschaftlich von herausragender Bedeutung für Wohlstand und Wettbewerbsfähigkeit für Deutschland und Europa“ (6).

Was oberflächlich betrachtet erstrebenswert und partnerschaftlich klingen mag, beinhaltet inhaltlich eine unmittelbare Widersprüchlichkeit, denn es ist denklogisch ausgeschlossen, Abhängigkeiten zu festigen, um eigene Autonomie stärken zu wollen. Handelt es sich beim groß angelegten Gedanken der Globalisierung daher nicht tatsächlich oftmals (bloß) um eine Ideologie? Eine nicht wertegesteuerte, sondern unter den Deckmantel entsprechender Werte getarnte globale Machtanmaßung Einzelner?

Zumindest ein schnell bedientes Argument, staatliche Souveränität und demokratische Strukturen in Abrede stellen zu wollen. So bedarf es dringend einer konkreten Definition der Globalisierung — insbesondere in der Auslegung für Deutschland und Europa. Hierbei sollte gemeinsames europäisches Ziel echte Autonomie und Politik auf Augenhöhe sein. Denn auch heute (7) noch scheint es dringend erforderlich zu sein, die seit Kriegsende bei uns in alle Bereiche des Lebens eingedrungene Flut von Amerikanismen endlich wieder zurückzudrängen (8).

Europäische Grundrechte trotz Demokratiedefizit?

Das Grundgesetz formuliert seinen besonderen Wert durch das in ihm innewohnende Menschenbild — der in der Menschenwürde angelegte und in den einzelnen Grundrechten bereichsspezifisch ausgeformte Grundsatz individueller Selbstbestimmung und Eigenverantwortung. Die Grundrechte sind hierbei als Abwehr- und Schutzrechte konzipiert, die Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht binden (9).

Doch in der Corona-Krise offenbarte sich auch seine Verletzlichkeit, insbesondere durch fehlerhafte Rechtsanwendung der Gerichte. Es bedarf daher wohl zunächst einer Reflektion und eines demokratischen Diskurses, wie dieser Machtmissbrauch zukünftig verhindert werden kann (10), in denen auch in der Vergangenheit vorgenommene schädigende Gesetzesänderungen auf den Prüfstand gestellt werden sollten.

Unabhängig hiervon formuliert sich bereits über die Grenzen hinaus die Forderung nach neuen europäischen Grundrechten (11). Soweit diese als „Konditionsdifferenzrecht“ und ebenfalls als Abwehr- und Schutzrecht ausgestaltet werden — mithin nur dort Wirkung entfalten, wo sie den individuellen Grundrechtsschutz erweitern, sind sie zumindest nicht als schädlich und aushöhlend zu betrachten.

Ungeachtet dessen sollte jedoch im Sinne eines demokratischen Dreiklangs zunächst ein sichereres europäisches Fundament errichtet werden, denn die europäische Union dürfte über ein erhebliches Demokratiedefizit (12) verfügen, das es zunächst von Grund auf zu beseitigen gilt (13). Da sich dieses auch auf die Legislative erstreckt, ist auch von keiner ordentlichen Rechtsstaatlichkeit Europas auszugehen, da dieses Herrschaft des Rechts und nicht Herrschaft Einzelner durch das sie ermächtigende Recht bedeutet.

Deutschland aus der Stärke heraus

Die politisch verursachte Corona-Krise hat weitreichende negative menschliche, soziale, wirtschaftliche und gesellschaftliche Folgen. Umso dringend erforderlicher ist es, dass wir uns zunächst auf die eigene Stärkung und die Beseitigung von bestehenden inländischen Missständen konzentrieren, die nicht erst seit der Corona-Krise offen zu Tage treten.

Auch die seit 2015 erfolgte Masseneinwanderung stellt uns bis heute vor große gesellschaftliche und kulturelle Herausforderungen. Hierbei kann Integration keine Bringschuld des aufnehmenden Landes sein, sondern ein gegenseitiger aktiver Prozess.

Sie darf keine eigene oder Selbstaufgabe des anderen fordern, sondern ein gemeinsames Bekenntnis zur Geltung der freiheitlichen, demokratischen Grundordnung. Gerade Zugezogene, die eine Heimat in Deutschland finden möchten (14), sollten sich aktiv an einer gemeinsamen Gestaltung der Zukunft beteiligen, denn gerade sie können entstandene Missstände offenlegen, Brücken bauen und zu einem gemeinsamen Verständnis beitragen.

Hierbei gilt es insbesondere Aspekte der eigenen Identität, wie der Sprache zu beachten (15), Traditionen zu wahren, denn diese sind mit anderen Worten keineswegs das Privileg konservativer Kräfte. Noch weniger gehören sie in die alleinige Erbpacht von Reaktionären, obgleich diese am lautstärksten von ihnen reden (16).

Erst, wenn wir unsere Einzigartigkeit in ihrer Absolutheit anerkennen, schätzen und verteidigen, wird sich unser Herz für das Wesensfremde öffnen können. Denn Toleranz fordert Einzigartigkeit und bedingt sie zugleich.

Aus ihrer neu entstanden Stärke heraus, könnten ebenfalls die weiteren europäischen Staaten in der Lage sein, wahrhafte demokratische Strukturen aufzubauen und eine gemeinsame Stärke (17) zu entwickeln, die sich nicht zwangsläufig auf sämtliche Punkte der Säulen (18) erstrecken muss und sollte.

Oder — um die Vision eines sehr klugen Menschen (19) fortführen zu wollen: „Wir stehen erst am Anfang der ersten wirklich freiheitlichen Periode unserer Geschichte. Freiheitliche Demokratie muss endlich das Lebenselement unserer Gesellschaft werden.

Nicht weniger, sondern mehr Demokratie — das ist die Forderung, das ist das große Ziel, dem wir uns alle und zumal die Jugend zu verschreiben haben.

Es gibt schwierige Vaterländer. Eines von ihnen ist Deutschland. Aber es ist unser Vaterland.“ Und vielleicht sogar — aus dem europäischen Blickwinkel betrachtet — und einen Wunsch formulieren wollend: unser zukünftig demokratisches Mutterland?


Quellen und Anmerkungen:

(1) https://kenfm.de/der-uebergriffige-staat-von-karolin-ahrens/
(2) https://de.wikipedia.org/wiki/European_Council_on_Foreign_Relations
(3) Aktueller Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD, Randnummer 6908 folgende, https://www.bundesregierung.de/resource/blob/975226/847984/5b8bc23590d4cb2892b31c987ad672b7/2018-03-14-koalitionsvertrag-data.pdf?download=1
(4) https://www.youtube.com/watch?v=3nu4gx-_ibA&t=3s
(5) Aktueller Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD, Randnummer 6908 folgende, https://www.bundesregierung.de/resource/blob/975226/847984/5b8bc23590d4cb2892b31c987ad672b7/2018-03-14-koalitionsvertrag-data.pdf?download=1
(6) Ebenda, Randnummer 6937 folgende
(7) https://www.rubikon.news/artikel/der-green-reset
(8) Das Zitat wird Gustav Heinemann zugerechnet (23. Juli 1899 bis 7. Juli 1976) zugerechnet, deutscher Politiker und der dritte Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland.
(9) Artikel 1 Absatz 3 Grundgesetz Weitere Informationen auch:
(10) https://www.rubikon.news/artikel/der-notwendige-neustart
(11) https://www.jeder-mensch.eu/informationen/
(12) https://www.europa.clio-online.de/essay/id/fdae-1619
(13) Weitere Informationen: https://www.bpb.de/nachschlagen/lexika/das-europalexikon/176780/demokratiedefizit
(14) https://www.ullstein-buchverlage.de/nc/buch/details/wahlheimat-9783843705141.html
(15) https://vds-ev.de/literatur/literarisches/sprueche-und-zitate-zur-deutschen-sprache/
(16) Gustav Heinemann Ansprache nach Leistung des Amtseids als Bundespräsident in der gemeinsamen Sitzung von Bundestag und Bundesrat am 1. Juli 1969 — Deutscher Bundestag, Stenografische Berichte, 5. Wahlperiode, 245. Sitzung
(17) https://www.youtube.com/watch?v=v8Q1YnohhL4&t=93s
(18) https://www.lpb-bw.de/fileadmin/europawahl-bw/images/saeulen_01.gif
(19) https://www.youtube.com/watch?v=Sh9wkkSaQ8M&t=164s