Über glühende Scherben

Die Rubikon-Poetik-Ecke vereint literarische Versuche, die Gegenwart zu begreifen. Teil I.

Wer politische Kritik übt, sich dabei aber der Sprachmuster bedient, die vom Gegner geprägt wurden, der tanzt noch immer nach deren Melodie. Wir müssen nicht nur die Strukturen der Macht überwinden, sondern auch ihr Bewusstsein, das sich in der Ausdrucksweise manifestiert. Der erste Schritt, um einer Gesellschaft den Spiegel vorzuhalten, ist somit der Schritt aus der Sprache heraus, die sie spricht. Nur aus diesem Abstand lässt sich verstehen, wie eine Gesellschaft funktioniert, wie die Machtkanäle verlaufen. „Man muss eine andere Sprache finden. Sonst wird man nie wissen, wie etwas ist und gewesen ist.“ So hat es Ingeborg Bachmann formuliert. Lyrik und Kurzprosa, wie sie sich in dieser kleinen Textsammlung zeigen, sind somit mehr als ästhetische Spielerei — es sind geistige Befreiungsversuche.

Die Rubikon-Redaktion erreichen in jüngster Zeit immer mehr Zuschriften mit Versuchen, das Geschehen in einer anderen Sprache zu fassen. Allein das zeigt, dass etwas arbeitet in der Gesellschaft. Dass es brodelt. Zeiten, in denen Orientierungen und Gewissheiten, vielleicht auch Träume und Hoffnungen abhandenzukommen drohen, rufen danach.

Auch wenn diese Versuche nicht die Präzision und Radikalität der Bachmann‘schen Texte haben können, so lohnt sich die Lektüre. Als Ausdruck eines kritischen Bewusstseins machen sie Mut und vermehren vielleicht gar das Bewusstsein, für das sie als Ausdruck stehen. Des Weiteren sprechen sie auch Menschen an, die sich dem Sprachwechsel weg von Infotexten hin zu poetischen Versuchen nur allzu gerne ausliefern — denn: Spricht Söder lyrisch? Und nicht zuletzt stehen solche Sprachversuche auch spezifisch für eine menschliche Qualität abseits von Cyborgs, von Effizienz und Optimierung, eine höchst bedrohte Qualität. Deshalb haben wir uns vom Rubikon zu dieser Poetik-Ecke entschlossen.

Die Beiträge sind weder nach Auswahl noch nach Reihenfolge gewertet, sie erfolgen unkommentiert. Fragen eröffnen Räume, in denen es weitergeht ...

Ulla Wesseler: Die Implosion

Es läuft die Glotze. Der Vater ist abends immer müde und liegt auf der Chaise. Er bestimmt das Programm.

Mutti lehnt am Türrahmen mit der Einbauküche hinter sich, sie süffelt heimlich am Rotwein. Ihre zweite Flasche wird heute noch geleert. Das mit dem Trinken: Das Ding ist ihr entglitten.

Der Junge lümmelt im Sessel, daddelt auf dem Smartphone und blickt kurz auf. Er betrachtet zufrieden seine weißen Sneaker, 238,70 Euro bei Amazon.

Die beiden Kleinen hocken unter dem Esstisch mit der Legokiste. Sie waren bis zum Abendessen draußen, sollten sich die Schuhe ausziehen und die Hände waschen.

Der Fernseher steht in der Schrankwand. Dort sind auch die Zeugnisse, Rundfunkgebührenbescheide, Rentenpapiere und Parteibücher (erst SPD, dann die Linke) und der Mitgliedsausweis der Gewerkschaft untergebracht. Auch die Fotoalben der Familie und die alte Diakiste gibt es noch.

An den Fernseher dürfen die Kleinen nicht ran. Vater hat es ihnen eingeschärft. „Ein Fernsehapparat kann implodieren und das ist viel schlimmer als explodieren.“

Und genau das passiert in der nächsten Sekunde. Es ist ein Inferno. Stichflammen und Getöse. Der Apparat pfeffert auseinander, zerlegt die Schrankwand und jagt alles in die Luft. Trümmer schießen durch das Zimmer.

Vater trifft es zuerst. Sein letzter Gedanke ist: „... dass die Gewerkschaft dagegen nichts unternommen hat …“

Mutti ist als Nächste dran. Sie macht den letzten Atemzug mit den Lippen am Flaschenhals. „Hoffentlich findet niemand die leeren Flaschen im Keller. Was sollen die Nachbarn …“

Der Junge denkt an nichts, hat schreckensweite Augen, gerichtet auf die schönen weißen Sneaker, als er das Zeitliche segnet.

Die Kleinen aber kommen unter dem Tisch hervor, fast unversehrt und laufen nach vorn — durch die Trümmer, durch die Schrankwandruine, laufen immer weiter, denn die Wand dahinter ist weg. Da ist nichts mehr. Sie sind draußen, sie laufen durch den Garten und immer weiter. Sie drehen sich nicht um und das stärkere Kind stützt das kleinere.

Sie sind über glühende Teile und Scherben gelaufen und sind heil, denn sie hatten sich die Schuhe nicht ausgezogen …

... und außerdem hatten sie sich die Hände nicht gewaschen.

Daniel Lewitz: Die orthodoxe Wissenschaft

Die Banken unsere Kirchen.
Die Wissenschaftler der Globalkonzerne unsere Kardinäle,
unhinterfragbare Wahrheiten produzierend.
Dank des digitalen Wunders verbreitet sich die Kunde
wie von selbst durch die zielgerichtete Vermarktung
von nachgerichteten Informationen, bis unter die Schädeldecke.
Jeden Tag zur gleichen Zeit tönen die Fanfaren
der Rundfunkanstalt aus dem Telebildschirm
und bilden die tiefen Windungen des Denkraums.
Ärzte in Weiß, die hohen Dekane, haben hohe Bürden
zu tragen, wenn sie den Glauben aufrecht erhalten wollen.
Ständige Schuld und Verdorbenheit lastet auf uns,
anders kann es nicht sein ...
Nehmt die virtuelle Gefangenschaft als wissenschaftsgegeben hin
und liebt eure finanziellen Fesseln,
denn sonst zeigt uns der heilige Markt, wie eng sie noch werden.
Die Finanzwirtschaft ist den Wissenschaftsgeläuterten
vorbehalten.
Die Vergangenheit wird kontrolliert, um die Gegenwart
zu kontrollieren um die Zukunft zu kontrollieren. 
Um die Zeit und den Raum für sich zu behalten. 
Wir müssen unseren Herren Experten vertrauen, 
sie schützen uns,
wie es schon immer war
und niemals anders sein wird.

Lisa Danilova: Krankheit

Wir sind nun ein gekränktes Volk
Und jeder sitzt in seiner Kammer
Mit gleichen Mustern alles voll
Man schaut sich um. Was kann man

Überhaupt noch machen hier?
Hallt mir das Echo leer zurück.
Decke, Boden, Wände vier.
Sie rücken näher Stück für Stück.

Von vorne flächig schwach erhellt
Starrt man den blassen Bildschirm an
Das einzige Portal zum Rest der Welt
Zieht einen träge in den Bann

Ein Paar Beschäftigungen bleiben
Das Hirn lässt sich noch nicht entfern‘
Wer was schon kann, darf es in Maßen weitertreiben
Wer‘s nicht gelernt hat, wird‘s wohl nie mehr lern‘

Erinnerungen gleichen Heldensagen
Von einer alten, halb vergess‘nen Welt
Dort war man was, dort durfte man was wagen!
Beruhig dich, du bist kein Held,

Sagt mir des Doktors tiefe Stimme
Es ist nicht das, wofür du‘s hältst
Sieh zu! Dich täuschen deine Sinne
Und schützen tue ich dich vor deiner selbst

Zwar isoliert aus dem Gedränge
Ist man nur stärker eingedrängt
Der Doktor weitet seine Fänge
Weil genau dann, wenn man so denkt

Sei ungesund, ein typisches Symptom
Dann wenn die Lungen sich entzünden
Kommt man so einfach nicht davon
Der Husten, der steckt an und das kann münden

In einem Chaos, Ausbruch, Sturz
Drum sollen wir zusammen warten.
Worauf? Wer weiß, ob lange oder kurz?
Die, die des Schicksals Fäden ziehen, wissen’s — wir können nur raten

Glück gibt es nur noch aus der Spritze.
An frischer Luft gibt‘s nur noch Atemnot.
Der Lebenssinn verbrennt in Fieberhitze.
Man lebt nicht. Man ist fast schon tot.

Ian Folko Ressisch: Impfen ist Liebe

„Wenn Merkel nicht mehr ist“, habe ich eben wohlwollend sinniert.
Dann kam mir Söder in den Sinn und ich mochte nicht mehr weiterdenken.

In Krisenzeiten wollen die Menschen den starken Mann.
Kämpfe trägt man nur noch auf den Rücken Schwächerer aus.
Für die Flucht ist der Bauch zu voll.
Es kann sein, dass man mal kein vierlagiges Extraweiches mehr hat und statt Nudeln zu Reis greifen muss.
Aber der Kühlschrank quillt über.

Was tut der eingefleischte Westler, wenn Panik verbreitet wird?
Zunächst mal klickt er immer wieder auf die Schlagzeilen.

Dann, wenn die Scheinwerfer der Tagesschau aus einem Fernseherbildschirm, der größer ist als jeder Verstand, so nahekommen, dass eine Kollision mit dem Geschilderten real scheint, kann er übersatt nicht davonrennen.
Und zu bekämpfen gibt es niemanden.
Doch.
Jene, welche die Medien zum jagdbaren Freiwild erklärt haben.

Draußen: Krise. Aber man fühlt sich besser.

Die Wassermühlen der Medienkonzerne und des Staatsfernsehens laufen weiter.
Tropf. Tropf. Tropf.
Tropf. Tropf. Tropf.
Bald schon fängt er wie ein pawlowscher Hund zu nicken an.

Kontrolle! Wir brauchen die totale Kontrolle über die Zahlen. Kontrolle aller Einreisenden! Kontrolle der Medien! Kontrolle der Abstände! Kontrolle von Kindergeburtstagen! Kontrolle der Geschäftsschließungen! Kontrolle der Beweggründe für einen Spaziergang zu später Stunde! Kontrolle der Nachbarn! Kontrolle der Impfbereitschaft! Kontrolle des korrekten Sitzes der Mund-Nasen-Bedeckung, FFP2 - die Narrenkappe hat ausgedient, jetzt muss der Schweinerüssel breitflächig dran!

Ich frage mich, ob man schon an der Aluminiummaske arbeitet?

Mehr Kontrolle und impfen! Impfen ist Liebe! Die Leine mal lockern und mal wieder straffen.

Sind wir gehorsam und fressen wir den rauen Knochen, den sie uns mit gewaschenen Händen hinhalten — so sagen sie — dann dürfen wir wieder leben!

Und ich glaube daran, dass man einen sicheren, ganz neuen Impfstoff in mehr als fünffach verkürzter Zeit entwickeln kann.
Ich glaube, dass er hilft.
Ich glaube, die nach Impfung Infizierten hatten sich vorher infiziert!
Ich glaube, die nach Impfung Verstorbenen sind einfach so gestorben.
Ich glaube auch, dass alle Infizierten und später Gestorbenen an Covid-19 gestorben sind!
Ich glaube, dass wir die Schulden durch kleine Kniffe, wie Mehrwertsteuersenkungen, schon bald wieder abbezahlt haben!
Ich glaube, dass es alternativlos ist!
Ich glaube, Schweden gibt es faktisch schon gar nicht mehr — alle tot!
Ich glaube, wir müssen einfach glauben, dass es wissenschaftliche Fakten gibt, die diese Lockdownpolitik stützt!

Es fühlt sich gut an, in den nächsten Lockdown einzutauchen und meinen Kindern zu erklären, dass ich das Richtige mache, wenn ich sie einsperre!

Ich bin jetzt konsequent naiv — und es fühlt sich einfach alles so alternativlos richtig an!

Ralf Rosmiarek: Wie bekomme ich eine gnädige Göttin?

Zeit für eine Neuordnung des Glaubens. Vorgesehen sind für das bundeseinheitliche religiöse Ritual: „Das Merkelunser von Michael Klonovsky“. Als verbindliches Nachtgebet an alle Parteidienststellen, Redaktionen, Schulen, Universitäten, Theaterintendanzen, Bistümer und Pfarreien auszugeben! Bei weiterer Verschärfung der Maßnahmen stündlich zu beten!

Merkel unsre, die du klebst im Amte,
Geheiligt werde dein Hochdeutsch,
Dein Nafri komme,
Dein Selfie geschehe,
Wie an der Grenze, so auf dem Volksfest.
Unseren täglichen Einzelfall gib uns heute,
Und erhöhe uns unsere Schuldbürgschaft,
Wie auch wir verzichten auf unser Erspartes.
Und führe uns nicht zu Pegida,
Sondern erlöse uns von Schwarzrotgold.
Denn dein sind die Raute
Und die Windkraft und die Sperrung bei Facebook.
Für nochmals vier Jahre. Amen.

Indes, das ist der Grundtext nur. Er ist zu erweitern um Zapfenstreich, Bekenntnis und Segen: Täglich nach der liturgischen Vorübung „Tagesschau“, bei geöffnetem Fenster oder auf dem Balkon, feierlichst zu begehen und zu sprechen:
Lieb Vaterland, magst ruhig sein. Du hast deine intellektuelle Kapitulation total vollzogen und abgeschworen aller menschlicher Erkenntnis — denn es ward dir gesagt, was gut ist!
Bekenne von Stund an deinen Frevel, deinen Zweifel, deinen Hochmut und Unglauben und tritt sodann hinfür zum Zapfenstreich und huldige der heil- und gnadenbringenden A(ll)M(ächtigen)!

So nimm denn meine Hände
Und führe mich
Bis an mein selig Ende
Und ewiglich.
Ich mag allein nicht gehen,
Nicht einen Schritt;
Wo du wirst geh‘n und stehen,
Da nimm mich mit.

Die süße Dummheit, als Zauber des Lebens, sie lege sich auf und über dich, sie bleibe bei dir und bewahre dich vor allem Unglauben und aller Rationalität — von nun an bis in Ewigkeit. Das gewähre dir die Allmächtige und Allwissende, die Allbarmherzige und Allgegenwärtige Angela …
Lieb Vaterland, magst ruhig sein …

Gültigkeit: ab sofort! Mit jeder neu tagenden selbstherrlichen Götterratsrunde sind die Ausführungsbestimmungen zu verschärfen!
Die Erklärung der WHO vom 20. Januar 2021, dass allen infektionsschutzrechtlichen Schlussfolgerungen alleine aus der (unrichtigen) Annahme einer Infektiosität bei jedwedem positiven PCR-Test ohne weitere Differenzialdiagnostik die Grundlage fehlt, ist vollständig zu ignorieren.

Ein pflichtgemäß handelnder Bundestag, der das sofortige Ende einer „epidemischen Lage von nationaler Tragweite“ festzustellen hätte, ist weiterhin zu narkotisieren.
Das Denunzieren, Verunglimpfen, Verleumden von Ausscherenden ist ungebremst fortzusetzen, bis die vollständige Lähmung auch bei denen erreicht ist.
Löschungen aus den gängigen „sozialen Netzwerken“ sind gegebenenfalls hinzunehmen, erfordern deren Regeln bedauerlicherweise eine WHO-Harmonie.
Uns aber bleiben „Buchstaben, Federn und die Tinte (der) Beamten“. Mögen „die Verwalteten entgeistet und alles in einen toten Mechanismus aufgelöst“ werden.

Lieb Vaterland, magst ruhig sein … Gegeben im Jahre des Merkelheils, 2021.