Turmbau zu Dystopia
Ein Schreckensszenario, wie es sich Science-Fiction-Autoren nicht schauriger hätten ausmalen können, ist derzeit im Aufbau befindlich.
Nur wenige Phänomene haben sich weltweit so schnell ausgewirkt wie der derzeitige Ausbruch des Coronavirus. In kürzester Zeit hat sich das menschliche Leben völlig neu organisiert. Der Autor fragte Mattias Desmet, Psychotherapeut und Professor für klinische Psychologie an der Universität Gent, wie dies möglich ist, welche Folgen es hat und was wir in Zukunft erwarten können.
von Patrick Dewals
Patrick Dewals: Wie steht es fast ein Jahr nach dem Ausbruch der Corona-Krise um die psychische Gesundheit der Bevölkerung?
Mattias Desmet: Bislang gibt es nur wenige Zahlen, die die Entwicklung möglicher Indikatoren wie die Einnahme von Antidepressiva und Anxiolytika oder die Zahl der Selbstmorde zeigen. Es ist jedoch besonders wichtig, das psychische Wohlbefinden in der Corona-Krise in seine historische Entwicklung einzuordnen. Die psychische Gesundheit war seit Jahrzehnten rückläufig. Die Zahl der Depressionen und Angstzustände sowie die Zahl der Selbstmorde haben seit langem stetig zugenommen.
Und in den letzten Jahren gab es einen enormen Anstieg der Fehlzeiten aufgrund von psychischen Leiden und Burnouts. Im Jahr vor dem Corona-Ausbruch konnte man spüren, wie dieses Unbehagen exponentiell zunahm. Dies vermittelte den Eindruck, dass die Gesellschaft auf einen kritischen Punkt zusteuert, an dem eine psychologische „Reorganisation“ des sozialen Systems unumgänglich ist. Dies geschieht jetzt mit Corona.
Anfangs konnten wir beobachten, dass Menschen, die nur wenig über das Virus wussten, schreckliche Ängste heraufbeschworen, und es kam zu einer regelrechten sozialen Panikreaktion. Dies geschieht vor allem dann, wenn bereits eine starke latente Angst in einer Person oder Bevölkerung vorhanden ist.
Die psychologischen Dimensionen der aktuellen Corona-Krise werden stark unterschätzt.
Eine Krise wirkt wie ein Trauma, das dem Einzelnen seinen historischen Sinn nimmt. Das Trauma wird als isoliertes Ereignis betrachtet, obwohl es in Wirklichkeit Teil eines kontinuierlichen Prozesses ist.
So wird beispielsweise leicht übersehen, dass ein erheblicher Teil der Bevölkerung während der ersten Abriegelung seltsam erleichtert war und sich von Stress und Angst befreit fühlte. Ich hörte regelmäßig Leute sagen: „Ja, diese Maßnahmen sind hart, aber wenigstens kann ich mich ein bisschen entspannen.“ Weil die Hektik des Alltags aufhörte, kehrte Ruhe in die Gesellschaft ein. Die Lockdown-Maßmahmen befreiten die Menschen oft aus einem psychologischen Trott. Dies führte zu einer unbewussten Unterstützung der Maßnahmen.
Wäre die Bevölkerung nicht bereits durch ihr Leben und insbesondere durch ihre Arbeit erschöpft gewesen, hätte es nie eine Unterstützung für die Maßnahmen gegeben. Zumindest nicht als Reaktion auf eine Pandemie, die im Vergleich zu den großen Pandemien der Vergangenheit nicht allzu schlimm ist. Wir haben etwas Ähnliches bemerkt, als der erste Lockdwon zu Ende ging. Damals hörte man regelmäßig Aussagen wie: „Wir werden nicht wieder anfangen zu leben wie früher, nicht wieder im Stau stehen“ und so weiter. Die Menschen wollten nicht zur Normalität vor Corona zurückkehren.
Wenn wir die Unzufriedenheit der Bevölkerung mit ihrer Existenz nicht berücksichtigen, werden wir diese Krise nicht verstehen und nicht lösen können. Übrigens habe ich inzwischen den Eindruck, dass die neue Normalität wieder zu einem Trott geworden ist, und es würde mich nicht wundern, wenn sich die psychische Gesundheit in naher Zukunft wirklich verschlechtert. Vielleicht vor allem, wenn sich herausstellt, dass der Impfstoff nicht die magische Lösung bietet, die man sich von ihm verspricht.
In den Medien erscheinen regelmäßig verzweifelte Schreie junger Menschen. Wie ernst nehmen Sie sie?
Nun, Sie sollten wissen, dass die Lockdowns und die damit verbundenen Maßnahmen für Jugendliche völlig anders sind als für Erwachsene. Im Gegensatz zu einem Erwachsenen mittleren Alters bedeutet die Zeitspanne von einem Jahr für einen jungen Menschen einen Zeitraum, in dem er eine enorme psychologische Entwicklung durchläuft, die zu einem großen Teil im Dialog mit Gleichaltrigen stattfindet. Die Jugendlichen von heute durchleben diese Zeit in der Isolation, und es kann gut sein, dass dies für die meisten von ihnen negative Folgen haben wird. Aber bei jungen Menschen ist alles komplexer. So fühlen sich diejenigen, die früher unter akuter sozialer Angst oder sozialer Isolation litten, heute vielleicht besser, weil sie nicht mehr die Außenseiter sind. Aber im Allgemeinen ist die Jugend zweifellos am stärksten von dieser Corona-Krise betroffen.
Wie steht es mit der Angst bei den Erwachsenen?
Auch bei Erwachsenen gibt es Angst, aber das Objekt der Angst ist unterschiedlich. Manche haben vor allem Angst vor dem Virus selbst. Es gibt Menschen in meiner Straße, die sich kaum noch aus dem Haus trauen. Andere fürchten die wirtschaftlichen Folgen der Maßnahmen. Und wieder andere fürchten die sozialen Veränderungen, die die Corona-Maßnahmen mit sich bringen. Sie fürchten das Entstehen einer totalitären Gesellschaft. So wie ich (lacht).
Sind die mit dem Coronavirus verbundenen Mortalitäts- und Morbiditätsraten angemessen für die ängstlichen Reaktionen?
Nun, Krankheit und Leid sind immer schlecht, aber die schädlichen Auswirkungen der staatlichen Maßnahmen stehen in keinem Verhältnis zum Gesundheitsrisiko des Virus. Beruflich bin ich an zwei Forschungsprojekten über Corona beteiligt. Daher habe ich mich recht intensiv mit den Daten befasst. Es ist klar, dass die Sterblichkeitsrate des Virus recht niedrig ist. Die Zahlen, die in den Medien verkündet werden, beruhen auf einer, sagen wir mal, überschwänglichen Zählung.
Unabhängig von vorbestehenden medizinischen Problemen wurde so gut wie jeder ältere Mensch, der starb, in die Liste der Corona-Toten aufgenommen. Ich persönlich kenne nur eine Person, die als Coronatote registriert wurde. Es handelte sich um einen Krebspatienten im Endstadium, der nicht an Corona, sondern mit Corona starb. Wenn man diese Art von Todesfällen zu den Corona-Todesfällen hinzufügt, steigen die Zahlen und die Angst in der Bevölkerung.
Mehrere Notärzte riefen mich während der zweiten Welle an. Einige sagten mir, dass ihre Station absolut nicht mit Corona-Patienten überfüllt sei. Andere sagten mir, dass mehr als die Hälfte der Patienten auf der Intensivstation nicht an Corona erkrankt waren oder so milde Symptome aufwiesen, dass sie nach Hause geschickt worden wären, um sich zu erholen. Dort hätte man bei ihnen dann eine Grippe diagnostiziert.
Angesichts der herrschenden Panik war dies jedoch nicht möglich. Leider wollten diese Ärzte anonym bleiben, sodass ihre Botschaft die Medien und die öffentliche Meinung nicht erreichte. Einige von ihnen erzählten ihre Geschichte später auch einem Journalisten des Nachrichtensenders VRT, aber leider ist daraus bis heute nichts geworden. Und ich möchte erwähnen, dass es auch andere Ärzte gab, die die offensichtlichen Tatsachen völlig anders interpretierten, als sie in der herkömmlichen Berichterstattung dargestellt wurden.
Wir sind erstaunt, dass die Fähigkeit, den Konsens und die Corona-Maßnahmen zu kritisieren, selbst in der akademischen Welt, wo wissenschaftliche Ideale kritisches Denken erfordern, verschwunden ist. Wie erklären Sie sich das?
Täuschen Sie sich nicht: An der Universität und in der medizinischen Welt gibt es viele Menschen, die über das, was vor sich geht, erstaunt sind. Ich habe eine ganze Reihe von Freunden aus dem medizinischen Bereich, die die konventionelle Sichtweise nicht akzeptieren. Sie sagen: „Macht die Augen auf, seht ihr nicht, dass dieses Virus nicht die Pest ist?“ Aber allzu oft wagen sie es nicht, dies öffentlich zu sagen. Außerdem kommen auf jede kritische Stimme dreißig andere, die sich der Geschichte anschließen, selbst wenn dies bedeutet, dass sie ihre kritischen wissenschaftlichen Standards aufgeben müssen.
Ist das ein Zeichen von Feigheit?
In einigen Fällen schon. In der Tat kann man überall drei Gruppen unterscheiden. Die erste Gruppe glaubt nicht an die Geschichte und sagt das auch öffentlich. Die zweite Gruppe glaubt auch nicht an die Geschichte, macht sie aber öffentlich mit, weil sie sich aufgrund des gesellschaftlichen Drucks nicht anders traut. Und die dritte Gruppe glaubt wirklich an das vorherrschende Narrativ und hat eine echte Angst vor dem Virus. Die letztere Gruppe ist sicherlich auch an den Universitäten zu finden.
Es ist auffällig, dass wissenschaftliche Studien auch in dieser Corona-Krise zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen kommen. Auf der Grundlage dieser Ergebnisse können Wissenschaftler fast diametral entgegengesetzte Theorien als die einzige Wahrheit verteidigen. Wie ist das möglich?
Die Coronaforschung ist in der Tat voll von Widersprüchen. Zum Beispiel was die Wirksamkeit von Gesichtsmasken oder Hydroxychloroquin, den Erfolg des schwedischen Ansatzes oder die Verlässlichkeit des PCR-Tests betrifft. Noch merkwürdiger ist, dass die Studien eine Vielzahl von unwahrscheinlichen Fehlern enthalten, die ein normal denkender Mensch nicht machen würde. Dies gilt nach wie vor für die Ermittlung der absoluten Zahl der Infektionen. Jedes Schulkind weiß, dass dies nichts bedeutet, solange die Zahl der festgestellten Infektionen nicht mit der Zahl der durchgeführten Tests verglichen wird.
Je mehr Tests man durchführt, desto wahrscheinlicher ist es, dass die Infektionsrate steigt. Ist das so schwierig?
Darüber hinaus ist zu bedenken, dass der PCR-Test eine große Anzahl falsch positiver Ergebnisse liefern kann, da die Technik häufig für die Diagnose missbraucht wird. Zusammengenommen bedeutet dies, dass die Ungenauigkeit der täglich von den Medien verbreiteten Zahlen so groß ist, dass manche Menschen verständlicherweise eine Verschwörung vermuten, auch wenn ich das eher anzweifle.
Auch dieses Phänomen lässt sich besser in eine historische Perspektive einordnen, denn die problematische Qualität der wissenschaftlichen Forschung ist kein neues Thema. Im Jahr 2005 brach in den Wissenschaften die sogenannte „Replikationskrise“ aus. Mehrere Ausschüsse, die zur Untersuchung von Betrugsfällen in der Wissenschaft eingesetzt wurden, stellten fest, dass es in der wissenschaftlichen Forschung von Fehlern nur so wimmelt. Oft sind die Schlussfolgerungen, die aus den wissenschaftlichen Erkenntnissen gezogen werden, von sehr zweifelhaftem Wert. Infolge der Krise erschienen mehrere Arbeiten mit Titeln, die wenig Raum für Fantasie lassen.
Im Jahr 2005 veröffentlichte John Ioannidis, Professor für medizinische Statistik in Stanford, einen Beitrag darüber, warum die meisten veröffentlichten Forschungsergebnisse falsch sind. Im Jahr 2016 veröffentlichte eine andere Forschergruppe über dasselbe Thema den Aufsatz „Reproducibility: a Tragedy of Errors“ in der medizinischen Fachzeitschrift Nature. Dies sind nur zwei Beispiele für die sehr umfangreiche Literatur, die dieses Problem beschreibt. Ich selbst bin mir der wackeligen wissenschaftlichen Grundlage vieler Forschungsergebnisse durchaus bewusst. Zusätzlich zu meinem Master-Abschluss in klinischer Psychologie habe ich einen Master-Abschluss in Statistik erworben. Meine Doktorarbeit befasste sich mit Messproblemen in der Psychologie.
Wie wurde die Kritik in der wissenschaftlichen Welt aufgenommen?
Zunächst führte sie zu einer Schockwelle, nach der versucht wurde, die Krise zu lösen, indem mehr Transparenz und Objektivität gefordert wurde. Aber ich glaube nicht, dass damit viel gelöst wurde. Vielmehr liegt die Ursache des Problems in einer bestimmten Art von Wissenschaft, die während der Aufklärung entstanden ist. Diese Wissenschaft basiert auf einem absoluten Glauben an Objektivität. Den Anhängern dieser Auffassung zufolge ist die Welt fast vollständig objektivierbar, messbar, vorhersehbar und überprüfbar.
Die Wissenschaft selbst hat jedoch gezeigt, dass diese Vorstellung unhaltbar ist. Der Objektivität sind Grenzen gesetzt, und je nach Wissenschaftsbereich stößt man mit mehr oder weniger großer Wahrscheinlichkeit auf diese Grenzen. Physik und Chemie sind noch relativ gut zum Messen geeignet. In anderen Forschungsbereichen wie der Ökonomie, der Biomedizin oder der Psychologie ist diese Methode jedoch weit weniger erfolgreich. Hier ist es wahrscheinlicher, dass ein Forscher feststellt, dass die Subjektivität eines Forschers einen direkten Einfluss auf seine Beobachtungen hatte.
Und es ist genau dieser subjektive Kern, den die Wissenschaftler aus der wissenschaftlichen Debatte zu eliminieren versuchen. Paradoxerweise — aber nicht überraschend — gedeiht dieser Kern in seinem Exil und führt zum kompletten Gegenteil des erhofften Ergebnisses. Nämlich zu einem radikalen Mangel an Objektivität und zu einer Vermehrung der Subjektivität. Dieses Problem blieb auch nach der Replikationskrise bestehen und wurde trotz der Bemühungen der Kritiker nicht gelöst. Folglich stehen wir jetzt, 15 Jahre später, in der Corona-Krise vor genau denselben Problemen.
Stützen sich die derzeitigen Politiker bei den Corona-Maßnahmen auf falsch ermittelte wissenschaftliche Grundsätze?
Ich denke ja. Auch hier zeigt sich eine Art naiver Glaube an die Objektivität, der sich in sein Gegenteil verkehrt: ein gravierender Mangel an Objektivität mit massenhaften Fehlern und Nachlässigkeiten. Darüber hinaus gibt es eine unheilvolle Verbindung zwischen der Entstehung dieser Art von absolutistischer Wissenschaft und dem Prozess der Manipulation und Totalisierung der Gesellschaft. In ihrem Buch „Die Ursprünge des Totalitarismus“ beschreibt die deutsch-amerikanische politische Denkerin Hannah Arendt auf brillante Weise, wie dieser Prozess unter anderem in Nazi-Deutschland ablief.
So greifen aufstrebende totalitäre Regime typischerweise auf einen „wissenschaftlichen“ Diskurs zurück. Sie zeigen eine große Vorliebe für Zahlen und Statistiken, die schnell zu reiner Propaganda verkommen, gekennzeichnet durch eine radikale „Missachtung der Fakten“.
Der Nationalsozialismus zum Beispiel gründete seine Ideologie auf die Überlegenheit der arischen Rasse. Eine ganze Reihe sogenannter wissenschaftlicher Daten untermauerte ihre Theorie.
Heute wissen wir, dass diese Theorie wissenschaftlich nicht haltbar war, aber die damaligen Wissenschaftler nutzten die Medien, um die Positionen des Regimes zu verteidigen. Hannah Arendt beschreibt, wie diese Wissenschaftler fragwürdige wissenschaftliche Referenzen verkündeten, und sie verwendet das Wort „Scharlatane“, um dies zu unterstreichen. Sie beschreibt auch, wie das Aufkommen dieser Art von Wissenschaft und ihrer industriellen Anwendungen von einem unvermeidlichen sozialen Wandel begleitet wurde. Die Klassen verschwanden, und die normalen sozialen Bindungen verfielen, was mit viel undefinierbarer Angst, Unruhe, Frustration und Sinnlosigkeit einherging.
Unter solchen Umständen entwickeln die Massen ganz besondere psychologische Eigenschaften. Alle Ängste, die die Gesellschaft heimsuchen, werden mit einem „Objekt“ verbunden — zum Beispiel mit den Juden —, sodass die Massen in eine Art energetischen Kampf mit diesem Objekt eintreten.
Und auf diesen Prozess der sozialen Konditionierung der Massen wird dann eine völlig neue politische und konstitutionelle Organisation aufgesetzt: der totalitäre Staat.
Heute kann man ein ähnliches Phänomen beobachten. Psychisches Leid, Sinnlosigkeit und schwindende soziale Bindungen sind in der Gesellschaft weit verbreitet. Dann taucht eine Geschichte auf, die auf ein Angstobjekt, das Virus, hinweist, woraufhin die Bevölkerung ihre Angst und ihr Unbehagen stark mit diesem gefürchteten Objekt verbindet. Währenddessen wird in allen Medien ständig dazu aufgerufen, den mörderischen Feind gemeinsam zu bekämpfen. Die Wissenschaftler, die der Bevölkerung die Geschichte nahe bringen, werden im Gegenzug mit enormer sozialer Macht belohnt. Ihre psychologische Macht ist so groß, dass auf ihre Anregung hin die gesamte Gesellschaft plötzlich auf eine Vielzahl sozialer Bräuche verzichtet und sich in einer Weise neu organisiert, die Anfang 2020 niemand für möglich gehalten hätte.
Was glauben Sie, wird jetzt passieren?
Die derzeitige Corona-Politik gibt der Gesellschaft vorübergehend eine gewisse soziale Solidarität und Bedeutung zurück. Der gemeinsame Kampf gegen das Virus erzeugt eine Art Rausch, der zu einer enormen Verengung der Aufmerksamkeit führt, sodass andere Dinge, wie die Sorge um Kollateralschäden, in den Hintergrund treten. Die Vereinten Nationen und mehrere Wissenschaftler haben jedoch von Anfang an davor gewarnt, dass die globalen Kollateralschäden weit mehr Todesopfer fordern könnten als das Virus, beispielsweise durch Hunger und verspätete Behandlung.
Die soziale Konditionierung der Massen hat noch einen weiteren merkwürdigen Effekt: Sie führt dazu, dass der Einzelne egoistische und individuelle Beweggründe psychologisch beiseite schiebt. Auf diese Weise kann man eine Regierung tolerieren, die einem einige persönliche Annehmlichkeiten nimmt. Um nur ein Beispiel zu nennen: Gaststätten, in denen Menschen ihr ganzes Leben lang gearbeitet haben, können ohne großen Protest geschlossen werden. Oder auch: Der Bevölkerung werden Aufführungen, Feste und andere kulturelle Vergnügungen vorenthalten. Totalitäre Führer verstehen intuitiv, dass die Quälerei der Bevölkerung auf perverse Weise die soziale Konditionierung noch weiter verstärkt.
Ich kann das jetzt nicht vollständig erklären, aber der Prozess der sozialen Konditionierung ist von Natur aus selbstzerstörerisch. Eine Bevölkerung, die von diesem Prozess betroffen ist, ist zu enormen Gräueltaten gegenüber anderen, aber auch gegenüber sich selbst fähig. Sie zögert absolut nicht, sich selbst zu opfern. Dies erklärt, warum ein totalitärer Staat im Gegensatz zu einfachen Diktaturen nicht überleben kann. Er verschlingt sich am Ende sozusagen selbst. Aber dieser Prozess kostet in der Regel viele Menschenleben.
Erkennen Sie in der gegenwärtigen Krise und der Reaktion der Regierung auf sie totalitäre Züge?
Auf jeden Fall. Wenn man sich von der Virusgeschichte löst, entdeckt man einen totalitären Prozess par excellence. Ein vortotalitärer Staat zum Beispiel, so Arendt, durchtrennt alle sozialen Bindungen der Bevölkerung. Einfache Diktaturen tun das auf der politischen Ebene — sie sorgen dafür, dass sich die Opposition nicht zusammenschließen kann —, aber totalitäre Staaten tun das auch in der Bevölkerung, im privaten Bereich. Denken Sie an die Kinder, die in den totalitären Staaten des zwanzigsten Jahrhunderts — oft ungewollt — ihre Eltern bei der Regierung angezeigt haben.
Der Totalitarismus ist so sehr auf totale Kontrolle ausgerichtet, dass er automatisch Misstrauen in der Bevölkerung erzeugt und die Menschen dazu bringt, sich gegenseitig zu bespitzeln und zu denunzieren.
Die Menschen trauen sich nicht mehr, ihre Stimme gegen die Mehrheit zu erheben, und können sich aufgrund der Beschränkungen nicht mehr so gut organisieren. Es ist nicht schwer, solche Phänomene in der heutigen Situation zu erkennen, zusätzlich zu vielen anderen Merkmalen des entstehenden Totalitarismus.
Was will dieser totalitäre Staat eigentlich erreichen?
Zunächst einmal will er gar nichts. Seine Entstehung ist ein automatischer Prozess, der einerseits mit großen Ängsten in der Bevölkerung und andererseits mit einem naiven wissenschaftlichen Denken einhergeht, das totales Wissen für möglich hält. Heute gibt es diejenigen, die glauben, dass die Gesellschaft nicht mehr auf politischen Erzählungen, sondern auf wissenschaftlichen Fakten und Zahlen beruhen sollte, und damit den roten Teppich für die Herrschaft der Technokratie ausrollen.
Ihr Idealbild ist das, was der niederländische Philosoph Ad Verbrugge „intensive Menschenhaltung“ nennt. Im Rahmen einer biologisch-reduktionistischen, virologischen Ideologie ist eine kontinuierliche biometrische Überwachung angezeigt, und die Menschen werden ständigen präventiven medizinischen Eingriffen wie Impfkampagnen unterworfen. All dies, um angeblich die öffentliche Gesundheit zu optimieren.
Außerdem muss eine ganze Reihe medizinischer Hygienemaßnahmen ergriffen werden: Vermeiden von Berührungen, Tragen von Gesichtsmasken, ständiges Desinfizieren der Hände, Impfungen, und so weiter. Für die Verfechter dieser Ideologie kann man nie genug tun, um das Ideal der größtmöglichen „Gesundheit“ zu erreichen. In einem Zeitungsartikel war zu lesen, dass man der Bevölkerung noch mehr Angst einjagen müsse. Nur dann würde sie sich an die von den Virologen empfohlenen Maßnahmen halten. Das Schüren von Ängsten soll ihrer Meinung nach Gutes bewirken.
Bei der Ausarbeitung all dieser drakonischen Maßnahmen vergessen die Politiker jedoch, dass die Menschen weder körperlich noch geistig gesund sein können, wenn sie nicht über genügend Freiheit, Privatsphäre und das Recht auf Selbstbestimmung verfügen, Werte, die in dieser technokratischen, totalitären Sichtweise völlig außer Acht gelassen werden. Obwohl die Regierung eine enorme Verbesserung der Gesundheit ihrer Gesellschaft anstrebt, wird ihr Handeln die Gesundheit der Gesellschaft ruinieren. Das ist übrigens ein Grundmerkmal totalitären Denkens nach Hannah Arendt: Es endet im genauen Gegenteil dessen, was es ursprünglich anstrebt.
Heute erzeugt das Virus die notwendige Angst, auf der der Totalitarismus beruht. Werden die Entdeckung eines Impfstoffs und die anschließende Impfkampagne diese Angst lindern und das totalitäre Aufflackern beenden?
Ein Impfstoff wird keinen Ausweg aus der derzeitigen Sackgasse bieten. Denn in Wahrheit ist diese Krise keine Gesundheitskrise, sondern eine tiefgreifende soziale und sogar kulturelle Krise. Übrigens hat die Regierung bereits angekündigt, dass die Maßnahmen nach der Impfung nicht einfach verschwinden werden. In einem kürzlich erschienenen Artikel wurde sogar festgestellt, dass es auffällig ist, dass die Länder, die mit der Impfkampagne bereits sehr weit fortgeschritten sind - wie Israel und Großbritannien - die Maßnahmen seltsamerweise immer noch verschärfen. Vielmehr sehe ich folgendes Szenario voraus: Trotz aller vielversprechenden Studien wird der Impfstoff keine Lösung bringen.
Und die Blindheit, die die gesellschaftliche Konditionierung und Totalitarisierung mit sich bringt, wird denen die Schuld geben, die nicht mitmachen und/oder sich weigern, sich impfen zu lassen. Sie werden als Sündenböcke herhalten müssen. Es wird versucht werden, sie zum Schweigen zu bringen.
Und wenn das gelingt, kommt der gefürchtete Wendepunkt im Prozess der Totalitarisierung: Erst wenn er die Opposition vollständig ausgeschaltet hat, zeigt der totalitäre Staat seine aggressivste Form. Er wird dann — um es mit Hannah Arendt zu sagen — zu einem Monster, das seine eigenen Kinder frisst. Mit anderen Worten: Das Schlimmste steht uns vielleicht noch bevor.
Woran denken Sie in diesen Tagen?
Totalitäre Systeme haben im Allgemeinen alle die gleiche Tendenz zur methodischen Isolierung, und um die Gesundheit der Bevölkerung zu gewährleisten, werden die „kranken“ Teile der Bevölkerung weiter isoliert und in Lager gesperrt. Diese Idee wurde bereits während der Corona-Krise mehrfach vorgeschlagen, aber aufgrund des gesellschaftlichen Widerstands als „nicht durchführbar“ abgetan. Aber wird dieser Widerstand weiter bestehen, wenn die Angst weiter zunimmt? Sie mögen mich für übermäßig paranoid halten, aber wer hätte Anfang 2020 gedacht, dass unsere Gesellschaft heute so aussehen würde?
Der Prozess der Totalitarisierung basiert auf der hypnotischen Wirkung einer Geschichte, und diese kann nur durch eine andere Geschichte durchbrochen werden. Daher hoffe ich, dass mehr Menschen die angebliche Gefahr des Virus und die Notwendigkeit der aktuellen Corona-Maßnahmen in Frage stellen und sich trauen, öffentlich darüber zu sprechen.
Warum tritt diese Angstreaktion nicht bei der Klimakrise auf?
Die Klimakrise ist vielleicht nicht als Angstobjekt geeignet. Sie ist vielleicht zu abstrakt und wir können sie nicht mit dem sofortigen Tod eines geliebten Menschen oder von uns selbst in Verbindung bringen. Und als Objekt der Angst hat sie auch weniger direkt mit unserem medizinisch-biologischen Menschenbild zu tun. Ein Virus ist also ein bevorzugtes Objekt der Angst.
Was sagt uns die aktuelle Krise über unser Verhältnis zum Tod?
Die vorherrschende Wissenschaft sieht die Welt als ein mechanistisches Zusammenspiel von Atomen und anderen Elementarteilchen, die zufällig zusammenstoßen und alle möglichen Phänomene hervorbringen, auch den Menschen. Diese Wissenschaft macht uns verzweifelt und machtlos gegenüber dem Tod.
Gleichzeitig wird das Leben als eine völlig bedeutungslose und mechanistische Gegebenheit erlebt, aber wir klammern uns daran, als ob es alles wäre, was wir haben, und wir wollen jedes Verhalten vermeiden, das den Verlust dieses Lebens riskieren könnte. Doch das ist unmöglich. Paradoxerweise schafft der radikale Versuch, Risiken zu vermeiden, zum Beispiel durch Corona-Maßnahmen, das größte Risiko von allen. Sehen Sie sich nur die kolossalen Kollateralschäden an, die dadurch verursacht werden.
Sie sehen die derzeitige gesellschaftliche Entwicklung in eine negative Richtung gehen. Wie sehen Sie die Zukunft?
Ich bin überzeugt, dass aus all dem etwas Schönes hervorgehen wird. Die materialistische Wissenschaft geht von der Vorstellung aus, dass die Welt aus materiellen Teilchen besteht. Doch gerade diese Wissenschaft zeigt, dass die Materie eine Form des Bewusstseins ist, dass es keine Gewissheit gibt und dass der menschliche Verstand die Welt nicht erfassen kann. Der dänische Physiker und Nobelpreisträger Niels Bohr vertrat beispielsweise die Ansicht, dass sich die Elementarteilchen und Atome auf eine radikal irrationale und unlogische Weise verhalten. Seiner Meinung nach ließen sie sich mithilfe der Poesie besser verstehen als mithilfe der Logik.
Etwas Ähnliches werden wir auf politischer Ebene erleben. In naher Zukunft werden wir den vielleicht historisch weitreichendsten Versuch unternehmen, alles auf technologische, rationale Weise zu kontrollieren. Letztlich wird sich dieses System als untauglich erweisen und zeigen, dass wir eine völlig andere Gesellschaft und Politik brauchen. Das neue System wird sich mehr auf den Respekt vor dem, was sich dem menschlichen Geist letztlich entzieht, und auf den Respekt vor der Kunst und der Intuition stützen, die für die Religionen von zentraler Bedeutung waren.
Befinden wir uns heute in einem Paradigmenwechsel?
Zweifellos. Diese Krise läutet das Ende eines kulturhistorischen Paradigmas ein. In den Wissenschaften hat ein Teil des Übergangs bereits stattgefunden. Die Genies, die die Grundlagen der modernen Physik, der Theorie komplexer und dynamischer Systeme, der Chaostheorie und der nichteuklidischen Geometrie gelegt haben, haben bereits verstanden, dass es nicht nur eine, sondern viele verschiedene Logiken gibt, dass allem etwas Subjektives innewohnt und dass die Menschen in direkter Resonanz mit der sie umgebenden Welt und der gesamten Komplexität der Natur leben.
Außerdem ist der Mensch ein Wesen, das in seiner energetischen Existenz von seinen Mitmenschen abhängig ist. Die Physiker wissen das schon seit einiger Zeit, nun auch wir anderen! Wir erleben jetzt das jüngste Aufbäumen der alten Kultur, die auf Kontrolle und logischem Verstand beruht, und die mit rasender Geschwindigkeit zeigen wird, was für ein völliges Versagen sie mit sich bringt und dass sie nicht in der Lage ist, eine Gesellschaft wirklich anständig und menschlich zu organisieren.
Redaktionelle Anmerkung: Dieser Text erschien unter dem Titel „Mattias Desmet, professor klinische psychologie: ‚Coronamaatregelen onthullen totalitaire trekken‘“ zuerst auf dem Blog de wereld morgen.be. Er wurde von Bastian Barucker übersetzt und vom ehrenamtlichen Rubikon-Korrektoratsteam lektoriert.