Türkischer Neo-Imperialismus

Der libysche Premier Dabaiba übergab wichtige Infrastruktur an die Türkei — dies weckt in Einheimischen traumatische Erinnerungen.

Die libysch-türkische Beziehung ist historisch belastet. Bedingt durch viele blutige Erfahrungen, die Libyen in der Vergangenheit mit dem Osmanischen Reich machte, wecken die neuesten Aktivitäten der Türkei bei den Libyern schlimme Erinnerungen. Seit dem Libyenkrieg 2011 ist das nordafrikanische Land ohnehin innerlich zerrüttet, da Konflikte zwischen widerstreitenden Kräften den Failed State in einer steten Instabilität halten. Westlibysche Kräfte unter Premierminister Dabaiba treten derzeit gegen den Willen des libyschen Parlaments essenzielle Teile der Infrastruktur wie den Flughafen Tripolis oder den Hafen in al-Chums an die Türkei ab. Diese Entwicklung verschärft einerseits die innenpolitischen Konflikte Libyens und stärkt andererseits die maritime Kontrolle der Türkei im Mittelmeerraum.

Am 14. August 2023 wurde der Kommandeur der 444. Brigade, Mahmud Hamza, auf dem internationalen Mitiga-Flughafen von Tripolis von der Special Deterrence Force (SDF/ehemals Rada Miliz) gefangengenommen. Hamza war auf dem Weg in die etwa 200 Kilometer östlich gelegene Küstenstadt Misrata, wo er zusammen mit dem „Premierminister“ der Regierung in Tripolis, Abdulhamid Dabaiba, an einer Militärparade teilnehmen wollte.

Im Anschluss an die Festnahme kam es zwischen der 444. Brigade, die die Freilassung von Hamza forderte, und der SDF (Rada) zu schweren militärischen Auseinandersetzungen, die im Süden von Tripolis, in den Bezirken Ain Zara und Salah al-Din, ihren Anfang nahmen, sich aber schon bald auf benachbarte Gebiete ausweiteten. Am 15. August wurde über die vom Kampf betroffenen Bezirke der Ausnahmezustand verhängt.

Der Flugverkehr am internationalen Mitiga-Flughafen von Tripolis sowie der Unterricht an der Universität wurden ausgesetzt, während Demonstranten die Küstenstraße, die den Flughafen mit dem Stadtzentrum verbindet, mit brennenden Reifen blockierten. Die Zivilbevölkerung wurde aus der Kampfzone evakuiert und die UN-Sondermission für Libyen rief zur sofortigen Beendigung der Kämpfe auf. Die Botschaften der USA und Großbritanniens erklärten, sie teilten die Besorgnis des UN-Sondergesandten Abdoulaye Bathily. Auch das Parlament im Osten Libyens verurteilte die Milizenkämpfe.

Nach zwei Tagen flauten die Kämpfe ab, nachdem mit Hilfe der örtlichen Honoratioren, Stammesältesten und in Anwesenheit von Dabaiba mit der 444. Brigade und der SDF eine Vereinbarung getroffen werden konnte, nach der Mahmud Hamza noch am 15. August einer „neutralen“ Miliz, dem Stability Support Apparatus (SSA) übergeben wurde. Der SSA untersteht nominell dem Präsidialrat, über den Amnesty International im Mai 2022 zu berichten wusste:

„Die anhaltende Straflosigkeit hat die staatlich finanzierte Miliz der Stability Support Authority (SSA) ermutigt, rechtswidrige Tötungen, willkürliche Verhaftungen, das Abfangen und anschließende willkürliche Festhalten von Migranten und Flüchtlingen, Folter, Zwangsarbeit und andere schockierende Menschenrechtsverletzungen und Verbrechen nach internationalem Recht zu begehen“ (1).

Nach den Kämpfen blieben 55 Tote und mehr als 146 Verletzte zurück. 234 Familien waren aus den Kampfgebieten evakuiert worden. Viele zivile Häuser, aber auch das Universitätsgebäude, waren in Brand geraten und stark beschädigt.

Der Konflikt zwischen den beiden Milizen dürfte dabei noch lange nicht gelöst sein, geht es doch um viel.

Die Milizen kämpfen um die Kontrolle wichtiger Bezirke

Die 444. Brigade und die SDF (Rada) sind die beiden stärksten Milizen in Tripolis und gehören beide zur Dabaiba-Regierung. Die SDF wird angeführt von Abdulraif Kara und ist dem Verteidigungsministerium angegliedert. Der Posten des Verteidigungsministers ist in Personalunion von Premierminister Dabaiba besetzt. Ihm ist also seine eigene Miliz gerade aus dem Ruder gelaufen.

Bisher kontrolliert die SDF-Miliz das Gebiet des internationalen Mitiga-Flughafens von Tripolis, der sowohl zivilen als auch militärischen Zwecken dient und auf dessen Gelände sich ein berüchtigtes Gefängnis befindet. Der gesamte Flughafenkomplex soll nun unter türkischer Federführung und von türkischen Unternehmen neu aufgebaut werden. Dabaiba will deshalb der SDF (Rada) die Kontrolle über den Flughafenbezirk entziehen und der 301. Miliz unter Abdusalem az-Zubi und der 444. Brigade unter Mahmud Hamza übertragen. Die 444. Brigade wurde von der Türkei aufgebaut und wird von ihr befehligt.

Seit Bekanntwerden dieses Plans kam es in den Gebieten um den Flughafenkomplex immer wieder zu Zusammenstößen. Die SDF will ihren gesicherten Machtbereich nicht kampflos aufgeben. Sie fordert, zuerst müsse es eine neue libysche Gesamtregierung geben, erst dann könne über den Neuaufbau des Flughafens entschieden werden.

Bei einem Treffen von Milizenführern in der Stadt Misrata wurde nun vereinbart, eine große Truppe aus der Zentralregion zusammenzustellen, die innerhalb von weniger als 72 Stunden in der Hauptstadt Stellung beziehen soll. Es heißt auch, Hamza und seine 444. Brigade wollten Rache. Schlechte Aussichten für die SDF (Rada).

Der Hafen von al-Chums

Nicht weit von Tripolis entfernt befindet sich die Hafenstadt al-Chums. Nun bestätigte eine dem türkischen Verteidigungsministerium nahestehende Seite, dass die Dabaiba-„Regierung“ den Mittelmeerhafen al-Chums für einen Zeitraum von 99 Jahren an das türkische Verteidigungsministerium verpachtet hat. Im Hafen von al-Chums soll ein Militärstützpunkt errichtet und den türkischen See- und Landstreitkräften übergeben werden. Damit sollen die Interessen der Türkei im Mittelmeerraum gesichert werden.

Der Hafen liegt strategisch günstig zwischen den wichtigen libyschen Städten Tripolis und Misrata. Tripolis in der Hand der Türkei, Misrata sowieso – da fehlt also noch al-Chums für die volle Kontrolle der westlibyschen Mittelmeerküste.

Die Bewohner von al-Chums protestierten schon vor einer Woche. Es brannten Reifen und die Küstenstraße in Richtung Tripolis wurde blockiert, denn diese Entscheidung hat auch erhebliche Auswirkungen auf Tausende von Familien, die ihren Lebensunterhalt im Hafen verdienen. Außerdem sei der Hafen in seiner jetzigen Form als Handelshafen für die wirtschaftliche Entwicklung Libyens wichtig.

Genauso fragwürdig wie das Flughafenprojekt von Tripolis ist dieses Hafenprojekt von al-Chums auch aus rechtlichen Gründen. Der Tripolis-Regierung ist es laut dem Skhirat-Abkommen, das 2015 unter Federführung der UN-Sondermission für Libyen zwischen dem libyschen Parlament und der damaligen „Einheitsregierung“ in Tripolis getroffen wurde, untersagt, ohne Zustimmung des Parlaments Verträge von solcher Tragweite mit ausländischen Mächten abzuschließen. Das im Osten angesiedelte Parlament wird seine Zustimmung zum Ausbau der westlibyschen Küste zum türkischen Militär- und Handelsstützpunkt, die auch als Tor zu Subsahara-Afrika gilt, niemals geben. Trotzdem versuchen die Dabaiba-Regierung und die Türkei, vollendete Tatsachen zu schaffen.

Die Proteste gegen die Übernahme von al-Chums durch die Türkei wurden von Dabaiba-Sicherheitskräften aufgelöst, wobei auch scharf geschossen wurde. Einige Demonstranten wurden verhaftet, später allerdings wieder freigelassen, soweit sie nicht zur Behandlung in ein Krankenhaus eingeliefert werden mussten. Scheich Osama Aqil allerdings befindet sich immer noch in Haft.

Die Türkei als neue neokoloniale Besatzungsmacht

Die Türkei würde mit der Kontrolle über den internationalen Hauptstadtflughafen samt seines militärischen Komplexes, der Übernahme des Hafens von al-Chums sowie den von ihr seit Mai 2020 besetzten Militärstützpunkt al-Watija die Herrschaft über das gesamte westliche Küstengebiet inklusive der Hauptstadt Tripolis erlangen. Dies kann nur dank der Kollaboration der Dabaiba-Regierung mit Ankara und mit Hilfe der türkeifreundlichen Hafenstadt Misrata gelingen.

Dies dürfte bei der großen Mehrheit der libyschen Bevölkerung dunkelste Erinnerungen wachrufen (2).

Die Türken haben in Libyen eine lange, oft blutige, geschichtliche Spur hinterlassen. Ein Großteil des heutigen Libyens gehörte ab Mitte des 16. Jahrhunderts bis 1912 zum Osmanischen Reich und stand unter dessen ziviler und militärischer Verwaltung. Die libyschen Stämme wissen also, was es heißt, von der Türkei besetzt zu sein, und sie wissen auch, sich dagegen zu wehren.

Es ging schon damals nicht nur um die Herrschaft in Libyen, sondern um Rivalitäten bei der Vorherrschaft im Mittelmeer sowie den Zugang nach Subsahara-Afrika.

Nun sind sie also wieder da. Nicht nur überschwemmen türkische Unternehmen mit ihren Waren den lokalen Markt, sondern der gesamte Krieg in Libyen entwickelt sich für die Türkei zu einem Bombengeschäft. So übernahm die türkische Firma SADAT International Defence Consultancy die Überwachung und den Transport von syrischen Söldnern nach Libyen, die türkische Firma BECAR die Lieferung von Drohnen. Das türkische CALIK führt Energie- und Stromprojekte in Libyen durch, auch das Energieunternehmen Karadeniz, will in den libyschen Stromsektor investieren. Was die Ölexploration betrifft, ist das türkische Mineralölunternehmen TPAO am Zug. Ein weiteres türkisches Unternehmen ist mit der Sicherheitsarchitektur der libyschen Häfen betraut, und dem Unternehmen Dschingis sollen große Wiederaufbauprojekte versprochen worden sein.

Es folgte der Vertragsabschluss zur Verwaltung der libyschen Häfen und zu einer Wiederaufnahme der durch den Libyenkrieg 2011 zum Erliegen gekommenen türkischen Projekte. Mit der Libyschen Zentralbank (CBL) wurde ein Abkommen bezüglich einer gedeihlichen, für die Türkei äußerst profitablen Zusammenarbeit unterzeichnet. Damit nicht genug: Ein nicht weiter spezifiziertes Abkommen sichert der Türkei die Aufsicht über Großprojekte zu. Die Sanierung des internationalen Flughafens von Misrata wurde schon 2020 der Türkei übertragen.

Die Türkei ließ sich ihr Eingreifen 2020 auf Seiten der damaligen „Einheitsregierung“ gegen die Libysche Nationalarmee, die damals kurz vor der Einnahme von Tripolis stand, gut versilbern.

Vielleicht sollte Präsident Erdogan einen Blick auf die Vorgänge in der nahegelegenen Sahelzone im Niger, in Mali und Burkina Faso werfen. So schnell können sich Verhältnisse auch wieder ändern.

Bis jetzt ist Libyen immer noch ein eigener Staat, auch wenn gerade ausländische Mächte sein Schicksal bestimmen.


Quellen und Anmerkungen:

(1) https://www.amnesty.org/en/latest/news/2022/05/libya-hold-stability-support-authority-militia-leaders-to-account/?ref=nl
(2) https://gela-news.de/die-tuerken-in-libyen