Trotz alledem!

In der SPD formiert sich Widerstand gegen die „Große Koalition“.

Die nächste GroKo kommt. Die Sozialdemokratie setzt damit ihre Irrfahrt durch die politische Landschaft fort, während die LINKE, statt die progressiven Kräfte in der SPD zu unterstützen, sich mit internen Streitereien selbst zerlegt. Gewinnerin dieser Entwicklungen ist aller Voraussicht nach die völkische AfD. Ein Plädoyer für einen radikalen Kurswechsel und die Beteiligung der Mitglieder in der Frage des SPD-Parteivorsitzes

Im Jahre 1998 bestand kurze Zeit eine Hoffnung auf einen politischen Wechsel. Nach 16 Jahren Helmut Kohl wurde die konservative Regierung aus Union und FDP abgewählt. Was der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder mit Hilfe der rot-grünen Koalition und etlichen Basta-Rufen gegen die eigene Parteibasis durchsetzte, mündete in die tiefste soziale Spaltung des Landes seit dem Ende des Kalten Krieges. Die Politik der Agenda 2010 beschleunigte den Kurs neoliberaler Zerstörung von sozialen Sicherheiten und individuellen Freiheiten um ein Vielfaches.

Die höchst unsozialen „Reformen“ dieser Agenda, so stellte kürzlich auch die SPD-nahe Friedrich-Ebert-Stiftung fest, ließen sich nur mit einer Politik der Angst durchsetzen. Einige der Trommler für jene unheilvolle Trias aus Steuersenkungen für Vermögende, Privatisierungen und Sozialabbau sitzen bis zum heutigen Tag an den Schaltstellen der Macht innerhalb der SPD. Andere vollzogen erst später die bekannte Transformation vom linken Idealisten hin zum angepassten Unterstützer der unsozialen Politik.

Martin Schulz gehörte dem Parteivorstand seit 1999 an und hatte der Agenda 2010 zugestimmt. Olaf Scholz organisierte damals zusammen mit Anderen den Agendabetrieb im politischen Berlin. Andrea Nahles wandelte sich von einer linken Juso-Chefin zur geistigen Merkel-Nachfolgerin der minimalen Schritte.

Bei seinem Abgang von der politischen Bühne verfügte Martin Schulz noch im Februar 2018, dass Andrea Nahles seines Nachfolge antreten solle. Der Parteivorstand versuchte, Nahles sofort durchzudrücken und als kommissarische Parteivorsitzende einzusetzen. Die gewählten Stellvertreter des Parteichefs schwiegen und zeigten sich bereit, das statutenwidrige Vorgehen mitzutragen.

Denn Nahles ist nicht einmal Mitglied des Parteivorstandes. Somit bestand eigentlich keine Möglichkeit, sie zu kommissarischen Vorsitzenden zu ernennen. Erst heftiger Gegenwind aus der Basis und der NoGroKo-Bewegung brachte den Parteivorstand zur Räson. Stellvertreter Olaf Scholz, auf dem Parteitag im Dezember 2017 mit nur 59 Prozent zum unbeliebtesten Vize gewählt, übernahm das Ruder.

Nach dem Mitgliedervotum über den Eintritt in eine neue Regierung unter Bundeskanzlerin Angela Merkel ist bei vielen Genossinnen und Genossen der Frust groß. Viele hatten nur unter heftigen Bauchschmerzen einer neuen GroKo zugestimmt. Von den gültigen Stimmen waren 66 Prozent für die Fortsetzung der Regierungsarbeit mit der CDU/CSU-Fraktion. Von allen wahlberechtigten SPD-Mitgliedern stimmten lediglich 51 Prozent für diese Option. Die Zustimmung ist damit noch geringer als beim Bundesparteitag im Januar 2018. Dort hatten 56 Prozent aller wahlberechtigten Delegierten für die Aufnahme von Koalitionsverhandlungen gestimmt.

Auf diesem Parteitag stach besonders Andrea Nahles hervor. Sie bebte vor Regierungseifer, schwang ihr Manuskript keulenartig, trommelte mit den Fäusten auf das Pult ein, schrie sich heiser, um den Delegierten die knappe Zustimmung abzutrotzen. Argumentativ brachte sie allerdings wenig Bedeutendes hervor.

Auch auf den Regionalkonferenzen zur Werbung für eine GroKo tat sich Nahles nicht als sonderlich reflektierte oder integrierende Rednerin hervor. Auf die kritischen Anmerkungen eines Genossen während einer solchen Veranstaltung in Kamen fuhr sie den Parteifreund an, es sei erwiesen, dass „ich lauter schreien kann. Und jetzt rede ich“. Der junge Mann hatte lediglich an einen Parteitagsbeschluss erinnert, wonach der Vorstand im Rahmen der Kommunikation zum Mitgliedervotum die diskursive Bandbreite abzubilden hatte, aber kein NoGroKo-Vertreter auf der Bühne anwesend war.

Solche Auftritte sind es, die SPD-Mitglieder frösteln lassen bei dem Gedanken, Nahles könnte künftig die Parteigeschicke lenken.

Auf der anderen Seite sind da die Flensburger Oberbürgermeisterin Simone Lange, welche eine Entschuldigung für und eine Abkehr von der Agenda 2010 in Aussicht stellte, sollte sie zur Parteichefin gewählt werden. Oder der Leipziger Politiker Rolf Allerdissen, der sich für eine grundlegende Erneuerung der SPD ebenso stark macht, wie für die Belange von Menschen mit Behinderungen.

Möchten die Sozialdemokraten auch nur in die Nähe von erneuter Glaubwürdigkeit in der Frage echter Erneuerung gelangen, müssen umgehend die entsprechenden Weichen gestellt werden. Deutlichstes Signal wäre es, die Basis durch eine Mitgliederbefragung über den Parteivorsitz einzubinden. Doch der Vorstand stellt auch in dieser Frage alle Zeichen auf ein Weiter-so. Nahles wurde in kleinem Kreise ausgekungelt und zur Kandidatin des Vorstandes ausgerufen. Nur wenige Politikerinnen sind bei den Wählern unbeliebter.

Auch in der SPD hält sich die Freude über die Kandidatur der Fraktionsvorsitzenden in Grenzen. Es ist vollkommen unklar, warum ausgerechnet Nahles für eine glaubhafte Erneuerung der SPD stehen soll, wo sie doch seit 20 Jahren in der Parteispitze agiert, die Erneuerung verspricht, ohne dass es je zu ernsthaften Folgen gekommen wäre.

Der Verein NoGroKo ruft deshalb alle Genossinnen und Genossen dazu auf, den Parteivorstand zu einer Mitgliederbefragung über den Parteivorsitz zu zwingen. Auf der Webseite https://spd-erneuerung.de kann sich jeder dazu entweder seinen eigenen Stimmzettel erstellen oder sogar Unterschriftenlisten herunterladen.

Über 120.000 Menschen haben am 4. März 2018 gegen die GroKo gestimmt. Für eine Mitgliederbefragung wären 46.500 Stimmen ausreichend. Eine Beteiligung an dieser gelebten Demokratie ist die beste Alternative zum frustrierten Austritt aus der Partei. Denn ohne die SPD wird eine Abkehr von der Agenda 2010, die sie selbst geschaffen hat, nicht möglich sein.


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